Es gibt kein Wort für Menschen, die ihr Kind vor der Zeit verlieren. Kinder werden zu Waisen, eine Frau zur Witwe, ein Mann zum Witwer – für die zurückgebliebenen Eltern aber gibt es keinen Namen. Diesen Menschen gibt der israelische Autor David Grossman in seinem jüngsten Werk eine Stimme. Er selbst hat seinen Sohn am 12. August 2006 im Libanonkrieg verloren. 20 Jahre alt war Uri Grossman, sein Leben endete brutal. Brutal früh.
Aber du bist nicht mehr, bist nicht mehr du selbst.
Du bist aus der Zeit. Wie soll ich das erklären,
ist doch auch meine Erklärung in der Zeit verhaftet.
Einmal erzählte mir jemand aus einem fernen Land,
dort sage man von einem, der im Krieg umkommt,
er sei "gefallen".
So auch du: Aus der Zeit gefallen bist du,
aus der Zeit, in der ich bin und an dir vorübergeh:
bist eine Gestalt, allein am Bahnsteig in einer Nacht,
deren Schwarz bis zum letzten Tropfen ausgelaufen ist.
Ich sehe dich, berühr dich aber nicht.
Mit meinen Zeitfühlern spür ich dich nicht. (S.41)
"Aus der Zeit fallen" – so der Titel des Textes, der sich keiner literarischen Kategorie eindeutig zuordnen lässt. Er ist Klagegesang und Prosagedicht zugleich, angesiedelt irgendwo zwischen griechischer Tragödie und modernem Hörspiel. Worte werden gesprochen – zu keiner vorgegebenen Zeit, an keinem Ort. Der rote Faden ist weniger eine Handlung als eine Bewegung: Ein Mann macht sich auf den Weg, seinen verstorbenen Sohn zu suchen, ihm wenigstens nahe zu sein. Er bricht auf: "nach dort – zu ihm". Auf seinem Weg begegnet er anderen Menschen, Eltern, denen allen gemein ist, ein Kind verloren zu haben.
Ich bin hier, und
er ist dort,
grenzewig
zwischen hier
und dort.
So dastehen und langsam wissen,
ganz volllaufen mit diesem Wissen:
So ist es, Mensch zu sein. (S.98)
Der gehende Mann begegnet dem Schuster und der Hebamme. Der Zentaur kommt zu Wort, so wie der Chronist der Stadt. Sogar die stumme Netzflickerin klagt ihr Leid. Bis sich die Stimmen der Trauernden mischen und sie alle in einen gemeinsamen Chor einstimmen. Aus der Zeit fallen: wie in einem Traum, so scheint es, findet sich der Autor in immer neuen Rollen wieder. Als alter Mathematiklehrer, der mit den Gesetzen der Logik versucht zu erklären, was nicht zu erklären ist. Oder als Hebamme, die erkennen muss, dass sie das Leben zwar schenken, es aber nicht schützen kann vor dem Tod. Und so wird auf diesem Marsch die Trauer verarbeitet, mit allen Sinnen, mit dem Verstand und dem Körper. Die Trauer beansprucht den ganzen Menschen.
Kneten will ich es, dieses es, ja, das, was passiert ist, das, was wie ein Blitz einschlug und alles verbrannt hat, auch die Wörter, verflucht noch mal die Wörter, die es mir hätte beschreiben können, die hat es auch verbrannt, dieses Monstrum. Ich muss es mit etwas vermischen, anders geht es nicht, mit etwas von mir selbst, muss ihm etwas von meinem elenden Odem einhauchen, versuchen, ein bisschen … (S.51)
Als sein Sohn Uri 2006 starb, schrieb David Grossman gerade an seinem Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Er erzählt darin die Geschichte einer Frau, deren Sohn sich zu einem militärischen Einsatz im Westjordanland meldet. Die Mutter erträgt es nicht, zu Hause zu sitzen, auf eine Nachricht zu warten, von der sie das Schlimmste befürchtet. Also flieht sie, wandert mit einem Freund durch Galiläa. In diesem Roman hat der Autor seine eigene Angst zum Thema gemacht, die Angst aller israelischen Eltern, deren Kinder beim Militär sind. Bis die Wirklichkeit David Grossman in einer Sommernacht einholt – als Soldaten um zwanzig vor drei an seiner Haustür in Jerusalem klingeln, geschickt vom Standortältesten. Vor dieser Nachricht konnte der Vater nicht fliehen. Und trotz allem hat er seinen Roman zu Ende gebracht, er erschien in Deutschland 2009.
"Das Buch zu schreiben, war mein Weg bei ihm zu sein."
Auch in seinem jüngsten Text "Aus der Zeit fallen" schafft der Autor schreibend eine Möglichkeit, sich vom Tod nicht das Leben nehmen zu lassen. Vielleicht auch langsam in die Zeit zurückzufinden, aus der nicht nur der Sohn gefallen ist, sondern auch der Vater, die Mutter. Denn die Zeit ist Freund und Feind zugleich: Der Trauernde hofft auf sie, dass sie vergehe und mit ihr der größte Schmerz. Und er fürchtet sie, weil auch die Erinnerung mit ihr schwindet.
Doch dein Wortschatz, mein Sohn, das spüre ich,
schrumpft mit den Jahren,
er wächst zumindest nicht:
Fußball, Steak, Hausaufgaben, Steine. (…)
und zwei drei andere Augenblicke,
zu denen du zurückkehrst,
die du zurückbringst:
das Morgenlicht am Flussufer im Norden,
die Geschichte, die ich dir vorlas,
diese merkwürdige graue Nische im Fels,
in der du genistet hast,
du warst noch so klein,
und das Blau deiner Augen und die Sonne
und die Fische, die aus dem Wasser sprangen,
als wollten auch sie die Geschichte hören
und wie wir zusammen gelacht haben – nur das,
nur diese Erinnerung, immer und immer wieder,
und die anderen lösen sich nach und nach auf …
Sag, raubst du absichtlich mir den Trost? (S.54)
Langsam schreiten die Trauernden voran, über 120 Seiten sinnieren sie über die vielen Facetten des Verlusts. Und ebenso langsam sollte der Leser ihnen folgen, Seite um Seite die schmerzhaft schönen Worte auf sich wirken lassen wie ein kostbares Gedicht. Denn nur langsam vergeht die Zeit in diesem "Land der Verbannung", wie es David Grossman selbst nennt. Es ist ein Land, aus dem keine Flucht möglich ist, dessen Topografie der Autor präzise anlegt. Und so finden sich in diesem Exil am Ende nicht nur Verzweiflung und Fatalismus, sondern in seiner zutiefst beschriebenen Menschlichkeit auch Trost der Untröstlichen. Was als Klagelied beginnt, endet als leise Hymne auf das Leben.
Wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter
am Tag der Gleiche sich treffen,
so mischen Tod und Leben sich in mir
mit einer Präzision und Weisheit,
die mir – Elendigen –
zuteil wurde zum Preise deines Lebens
(welch bitteres, abscheuliches Geschäft!) –
Und doch, mein Mädchen, ich muss es dir sagen,
sonst werd ich verrückt –
zum ersten Mal weiß ich jetzt
nicht nur, was Tod,
sondern auch was das Leben ist. (S.113)
David Grossman: "Aus der Zeit fallen"
Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer.
Carl Hanser Verlag, 126 Seiten, 16,90 Euro.
Aber du bist nicht mehr, bist nicht mehr du selbst.
Du bist aus der Zeit. Wie soll ich das erklären,
ist doch auch meine Erklärung in der Zeit verhaftet.
Einmal erzählte mir jemand aus einem fernen Land,
dort sage man von einem, der im Krieg umkommt,
er sei "gefallen".
So auch du: Aus der Zeit gefallen bist du,
aus der Zeit, in der ich bin und an dir vorübergeh:
bist eine Gestalt, allein am Bahnsteig in einer Nacht,
deren Schwarz bis zum letzten Tropfen ausgelaufen ist.
Ich sehe dich, berühr dich aber nicht.
Mit meinen Zeitfühlern spür ich dich nicht. (S.41)
"Aus der Zeit fallen" – so der Titel des Textes, der sich keiner literarischen Kategorie eindeutig zuordnen lässt. Er ist Klagegesang und Prosagedicht zugleich, angesiedelt irgendwo zwischen griechischer Tragödie und modernem Hörspiel. Worte werden gesprochen – zu keiner vorgegebenen Zeit, an keinem Ort. Der rote Faden ist weniger eine Handlung als eine Bewegung: Ein Mann macht sich auf den Weg, seinen verstorbenen Sohn zu suchen, ihm wenigstens nahe zu sein. Er bricht auf: "nach dort – zu ihm". Auf seinem Weg begegnet er anderen Menschen, Eltern, denen allen gemein ist, ein Kind verloren zu haben.
Ich bin hier, und
er ist dort,
grenzewig
zwischen hier
und dort.
So dastehen und langsam wissen,
ganz volllaufen mit diesem Wissen:
So ist es, Mensch zu sein. (S.98)
Der gehende Mann begegnet dem Schuster und der Hebamme. Der Zentaur kommt zu Wort, so wie der Chronist der Stadt. Sogar die stumme Netzflickerin klagt ihr Leid. Bis sich die Stimmen der Trauernden mischen und sie alle in einen gemeinsamen Chor einstimmen. Aus der Zeit fallen: wie in einem Traum, so scheint es, findet sich der Autor in immer neuen Rollen wieder. Als alter Mathematiklehrer, der mit den Gesetzen der Logik versucht zu erklären, was nicht zu erklären ist. Oder als Hebamme, die erkennen muss, dass sie das Leben zwar schenken, es aber nicht schützen kann vor dem Tod. Und so wird auf diesem Marsch die Trauer verarbeitet, mit allen Sinnen, mit dem Verstand und dem Körper. Die Trauer beansprucht den ganzen Menschen.
Kneten will ich es, dieses es, ja, das, was passiert ist, das, was wie ein Blitz einschlug und alles verbrannt hat, auch die Wörter, verflucht noch mal die Wörter, die es mir hätte beschreiben können, die hat es auch verbrannt, dieses Monstrum. Ich muss es mit etwas vermischen, anders geht es nicht, mit etwas von mir selbst, muss ihm etwas von meinem elenden Odem einhauchen, versuchen, ein bisschen … (S.51)
Als sein Sohn Uri 2006 starb, schrieb David Grossman gerade an seinem Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Er erzählt darin die Geschichte einer Frau, deren Sohn sich zu einem militärischen Einsatz im Westjordanland meldet. Die Mutter erträgt es nicht, zu Hause zu sitzen, auf eine Nachricht zu warten, von der sie das Schlimmste befürchtet. Also flieht sie, wandert mit einem Freund durch Galiläa. In diesem Roman hat der Autor seine eigene Angst zum Thema gemacht, die Angst aller israelischen Eltern, deren Kinder beim Militär sind. Bis die Wirklichkeit David Grossman in einer Sommernacht einholt – als Soldaten um zwanzig vor drei an seiner Haustür in Jerusalem klingeln, geschickt vom Standortältesten. Vor dieser Nachricht konnte der Vater nicht fliehen. Und trotz allem hat er seinen Roman zu Ende gebracht, er erschien in Deutschland 2009.
"Das Buch zu schreiben, war mein Weg bei ihm zu sein."
Auch in seinem jüngsten Text "Aus der Zeit fallen" schafft der Autor schreibend eine Möglichkeit, sich vom Tod nicht das Leben nehmen zu lassen. Vielleicht auch langsam in die Zeit zurückzufinden, aus der nicht nur der Sohn gefallen ist, sondern auch der Vater, die Mutter. Denn die Zeit ist Freund und Feind zugleich: Der Trauernde hofft auf sie, dass sie vergehe und mit ihr der größte Schmerz. Und er fürchtet sie, weil auch die Erinnerung mit ihr schwindet.
Doch dein Wortschatz, mein Sohn, das spüre ich,
schrumpft mit den Jahren,
er wächst zumindest nicht:
Fußball, Steak, Hausaufgaben, Steine. (…)
und zwei drei andere Augenblicke,
zu denen du zurückkehrst,
die du zurückbringst:
das Morgenlicht am Flussufer im Norden,
die Geschichte, die ich dir vorlas,
diese merkwürdige graue Nische im Fels,
in der du genistet hast,
du warst noch so klein,
und das Blau deiner Augen und die Sonne
und die Fische, die aus dem Wasser sprangen,
als wollten auch sie die Geschichte hören
und wie wir zusammen gelacht haben – nur das,
nur diese Erinnerung, immer und immer wieder,
und die anderen lösen sich nach und nach auf …
Sag, raubst du absichtlich mir den Trost? (S.54)
Langsam schreiten die Trauernden voran, über 120 Seiten sinnieren sie über die vielen Facetten des Verlusts. Und ebenso langsam sollte der Leser ihnen folgen, Seite um Seite die schmerzhaft schönen Worte auf sich wirken lassen wie ein kostbares Gedicht. Denn nur langsam vergeht die Zeit in diesem "Land der Verbannung", wie es David Grossman selbst nennt. Es ist ein Land, aus dem keine Flucht möglich ist, dessen Topografie der Autor präzise anlegt. Und so finden sich in diesem Exil am Ende nicht nur Verzweiflung und Fatalismus, sondern in seiner zutiefst beschriebenen Menschlichkeit auch Trost der Untröstlichen. Was als Klagelied beginnt, endet als leise Hymne auf das Leben.
Wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter
am Tag der Gleiche sich treffen,
so mischen Tod und Leben sich in mir
mit einer Präzision und Weisheit,
die mir – Elendigen –
zuteil wurde zum Preise deines Lebens
(welch bitteres, abscheuliches Geschäft!) –
Und doch, mein Mädchen, ich muss es dir sagen,
sonst werd ich verrückt –
zum ersten Mal weiß ich jetzt
nicht nur, was Tod,
sondern auch was das Leben ist. (S.113)
David Grossman: "Aus der Zeit fallen"
Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer.
Carl Hanser Verlag, 126 Seiten, 16,90 Euro.