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Die Traviata im Wirklichkeitstest

Als Theaterfrau war Regisseurin Andrea Breth vor zwei Jahren abgetaucht, als Opernfrau kehrt sie nun zurück: An der Brüsseler Monnaie hat sie Verdis Herz-Schmerz-Oper "La Traviata" brutal abgenagt bis auf die Knochen. Als Zuschauer will man nicht von ihnen lassen.

Von Christoph Schmitz |
    Andrea Breth, die hoch gewachsene Frau aus Füssen im Allgäu, der manisch-depressive Mensch, die Theater- und Musiktheaterregisseurin, die sich oft aus dem Bühnenleben zurückgezogen und versteckt hat – nach zwei Jahren ist sie nun wieder als Opernfrau in Brüssel aufgetaucht. Dort hatte sie damals Leos Janaceks "Katja Kabanowa" alle Sehnsucht, alle volkstümliche Glut ausgetrieben und eine endzeitliche Geschichte und vom Verlust aller Empathie erzählt. Jetzt hat Andrea Breth an der Monnaie dem Inbegriff aller Herz-Schmerz-Opern, Giuseppe Verdis "La Traviata", alles, was nach schönem Leiden und Sterben aussieht und klingt, genommen. Alle kulinarischen Leckerbissen, alles Süffige und Tanz- und Mitsingselige ist verschwunden. Eine Oper, bis auf die Knochen abgenagt. Und trotzdem will man als Zuschauer nicht von ihm lassen. Das nackte, schwere, harte, traurige Leben bannt unseren Blick.

    Andrea Breth hat die "Traviata" dem Wirklichkeitstest unterzogen und stellt Violetta als Opfer von osteuropäischen Frauenhändlern vor. Zu den ätherischen und schmerzhaften hohen Geigenklängen am Anfang wird das Frischfleisch aus Schiffscontainern gezerrt. Violetta macht schnell Karriere, wird Chefin eines Edelbordells für Topverdiener, verliebt sich in einen jungen Spunt, Alfredo, der noch ganz grün hinter den Ohren ist, und hält sie beide in den runtergekommenen Gewächshäusern einer Kameliengärtnerei aus. Alfredos Vater, bei Breth kein spießiger, bigotter Alter, sondern ein am Wohl seines Kindes interessierter Mann, versucht den Jungen da herauszureißen, und am Ende geht Violetta im Schmutz und Elend des Straßenstrichs am Containerhafen, dort wo sie angekommen ist, zu Grunde. Eine alltägliche Geschichte von heute, die Andrea Breth paßgenau mit Libretto und Musik verbindet. Keine großen neuen Erkenntnisse über unsere Welt fördert sie damit zutage. Aber immerhin befreit sie das Stück von Kitsch und Rührseligkeit, die immer wieder dieses Musikdrama von Verdi zukleben, und sie zeigt den bitteren Kern des Werks.

    Sehr gut besetzt, wie es sooft in Brüssel geschieht, sind für diese Inszenierung unter anderem Violetta und Alfredo. Der junge Südfranzose Sébastien Guèze strotzt mit seinem jugendlichen Tenor von Übermut und explodiert förmlich in seinem naiven Gefühlsüberschwang. Die ebenfalls junge Slowakin Simona Saturova hat ihren sehr schlanken und biegsamen Klang vor allem als Mozartsängerin auch für ihr Rollendebüt als Violetta bewahrt und wagt mitunter ein erschütterndes Pianissimo.

    Auch die höchst diffizilen und filigranen Koloraturen gestaltet Simona Saturova präzise, nie kunstfertig, immer als Ausdruck der Seele. Eigentlich zeigen Simona Saturova, ihre Mitsänger und Andrea Breth ein Kammerspiel über Ausbeutung und Missbrauch. Den großen Chor hat die Regisseurin dafür von der Bühne in den Orchestergraben verband. Im Dirigenten Ádám Fischer hat sie dabei einen Bruder im Geiste gefunden. Fischer sucht den spröden Klang, die kalte Konturierung, den harten, stechenden Takt, den zynischen Rhythmus. Alles Schwelgerische, Hochglänzende, Tanzende umgeht er. Manchmal hat man sogar den Eindruck, es würde auf Darmsaiten gespielt. Die Bläser verzichten häufig aufs Vibrato. Auch wenn Welten zwischen ihnen liegen, so rückt Fischer seinen Verdi an die frostige Musiksprache von Kurt Weil heran. Musik und Bühnenkonzept ergänzen sich bestens. Der Intendant der Brüssler Oper, Peter de Caluwe, weiß die richtigen Leute zusammenzubringen.