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Die Türkei auf dem Weg nach Europa

Ist die Türkei schon europatauglich, ist sie es grundsätzlich, gehört das kleinasiatische Land überhaupt zu Europa? Diese Fragen stehen zwar auf der politischen Agenda, aber eine ehrliche Antwort sind die Kommissare in Brüssel und manche Politiker zwischen Berlin und Lissabon und Dublin und Athen den Türken noch schuldig geblieben. Jürgen Gottschlich hat eine Antwort versucht. "Die Türkei auf dem Weg nach Europa" heißt sein Buch.

Rezension: Lutz Rathenow |
    "Die Türkei auf dem Weg nach Europa" ist ein gut geschriebenes und doch undeutliches Buch. Es gehört zu den erfolgreichsten Türkei-Studien aus letzter Zeit. Sein Autor Jürgen Gottschlich lebt in Istanbul und überzeugte mit Sachkenntnis schon in mehreren Reiseführern. Und als feuilletonistische Landeserkundung mit historischer Grundierung ist dieser Band gelungen.

    "[...], gehören die Türken zu Europa? Zweifellos waren die türkischen Nomaden, die um die erste Jahrtausendwende einwanderten, kein europäisches Volk. Das lässt sich aber schon von den Osmanen, die knapp 500 Jahre später Byzanz endgültig besiegten, so nicht mehr sagen."

    Weil sich laut Autor die Einwanderer mit der bereits vorhandenen Bevölkerung mischten, sind die Osmanen seit 500 Jahren prinzipiell europäisiert. Ein problematisches Argument, fast sogar rassistisch, da die Volkszugehörigkeit als Kriterium für etwas dient, das durch die Herrschaft und Akzeptanz politischer Strukturen erklärt werden müsste.

    Doch der Autor liebt nicht nur seine Türkei, er versteht auch einiges von ihr. Zuerst erfährt also der Leser "Wie durch Cem Sultan das Osmanische Reich Teil der europäischen Politik wurde". Nach diesem nützlichen Grundkurs springt Gottschlich durchaus logisch zu markanten Gegenwartsporträts, um die Dynamik einer Entwicklung darzustellen. Da wird sehr eindrucksvoll der Erneuerer der Stadt Istanbul vorgestellt, der als Chef des türkischen ADAC über beträchtliche Geldmittel verfügte und die in die Stadtsanierung investierte. Celik Gülersoy ist im Alter verbittert - die Islamisten haben ihn als Anhänger Kemal Atatürks kaltgestellt. Der deutsche Autor weiß natürlich besser Bescheid als der porträtierte Türke selbst.

    " Obwohl Celik Gülersoy im Alter verbittert davon ausgeht, dass sein Lebenswerk wohl gescheitert ist [...] hat er eigentlich wenig Grund zur Resignation. Weit über die konkreten Anlagen hinaus [...] gingen von seiner Arbeit tief greifende Impulse aus - sowohl für den Umgang mit dem historischen Erbe des Landes als auch für dessen Öffnung dem internationalen Publikum gegenüber."

    Auch den amtierenden Präsidenten Erdogan, "den Joschka vom Bosporus" versteht er uns als vom Fundamentalisten zum pragmatischen Politiker gewandelten Europafreund nahezubringen. Die sympathieheischenden Details entpuppen sich bei näherer Betrachtung als irritierend. So zum Beispiel die zu Erdogans Gefängnisaufenthalt:

    " Im Gefängnis hielt er regelrecht Hof. Jeden Tag [...] wurden Berge von Leckereien und stapelweise Fan-Post angeliefert. Die Monate im Gefängnis boten eine gute Gelegenheit, um mit den engsten Vertrauten den weiteren Weg zu diskutieren."

    Dann folgt das Porträt einer Frauenrechtlerin, die für Emazipation und um Verständnis für das Kopftuch gleichzeitig wirbt. Die kaum glaubliche Rückständigkeit ländlicher Regionen in der Türkei taucht hier auf. Jedes dritte Mädchen im (nicht nur) kurdischen Osten des Landes geht nicht zur Schule. Jürgen Gottschlich scheut sich, auf die verheerende Wirtschaftskrise des Jahres 2001 näher einzugehen. Oder sie gar mit der Frage zu konfrontieren, was solche Zusammenbrüche für ein Europa bedeuteten, in dem die Türkei Mitglied wäre. Er stellt lieber einen ideenreichen deutsch-türkischen Jungunternehmer vor, der noch dazu im Ökobereich agiert. Auch er braucht vor allem Zuschüsse - von der Türkei oder der EU. Auch einen kurdischen Repräsentanten zeigt er per Text und per Foto - das Buch enthält einige informative Schwarzweißaufnahmen.

    All diese Skizzen bringen einem die Türkei näher und lassen sie gleichzeitig den mitteleuropäischen Realitäten entrückter erscheinen als es dem Autor recht ist. Natürlich ist die Türkei auf dem Weg nach Europa - was hat das zwingend mit einer EU-Mitgliedschaft zu tun? Bemühen sich einige dort so lange um Demokratisierung wie diese Bewerbung läuft? Es geht eben auch um Geld. Und wenn dieses ausbliebe, könnte der Wille zu Europa rasch in etwas umschlagen, das die Stabilität der EU nicht gerade stützt. Nehmen wir nur das Thema Landwirtschaft, das Gottschlich immer wieder berührt. Die Streichung von Subventionen im Moment des eigenen Beitritts würde als Diskriminierung der Türkei verstanden - so könnte eine handlungsgelähmte EU mit der Türkei dort mehr anti-europäische Ressentiments auslösen als eine EU ohne Türkei.

    Der Autor kennt die Probleme viel zu gut, um sie nicht zu ahnen und wie nebenbei anzusprechen. Denn die Millionen türkischer Bauern, die sich von der EU Gelder erhoffen,
    wurden und werden ja schon staatlich subventioniert:

    " Anders als in den sozialistischen Ländern wurde die Landwirtschaft zwar nicht verstaatlicht, aber mit einem Netz staatlicher Betriebe überzogen, die als Aufkäufer gegenüber den Bauern faktisch eine Monopolstellung hatten. Damit wurde die Landwirtschaft subventioniert und die Preise für Grundnahrungsmittel bewusst niedrig gehalten."

    Auch die Armee als größtes Wirtschaftsunternehmen in der Türkei taucht nur am Rande auf. Sein Autor ist viel zu sehr von der faszinierenden Stadt Istanbul geprägt. Doch es geht nicht um die Aufnahme der türkischen Hauptstadt in die EU.

    Im Grunde versucht Gottschlich, wie andere bei diesem Thema, für ein Land zu werben, das Aufmerksamkeit und Anteilnahme verdient. Sie gehen aber mit großzügiger Arroganz ans Werk, die letztlich den etablierten Staaten Europas per se die Macht zubilligt, jedes wirtschaftliche Problem bei gutem Willen zu lösen. Man definiert weder die nationalen noch die gesamteuropäischen Interessen, die türkischen Wünsche werden zu rasch mit den objektiven Interessen des Landes gleichgesetzt.


    Jürgen Gottschlich
    Die Türkei auf dem Weg nach Europa. Christoph Links-Verlag,
    Berlin, 2005