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"Die Türkei ist verärgert über den Umgang mit ihr"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) blockiert den EU-Annäherungsprozess der Türkei "wo sie kann", kritisiert Johannes Kahrs (SPD) von der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Keiner wolle die Türkei, wie sie jetzt sei, in der EU haben - wohl aber, wenn sie europäische Standards angenommen habe.

Das Gespräch führte Silvia Engels |
    Silvia Engels: Seit gestern ist der türkische Ministerpräsident Erdogan in Deutschland zu Gast. Zur Stunde trifft er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen. Neben den Dauerthemen Integration der hier lebenden Türken und des EU-Beitritts der Türkei steht ein aktuelles Problem ganz oben auf der Agenda: der Umgang mit den syrischen Flüchtlingen. Ankara drängt hier auf Hilfe durch Europa.
    Am Telefon begrüße ich Johannes Kahrs, er sitzt für die SPD im Bundestag und er ist Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe. Guten Tag, Herr Kahrs!

    Johannes Kahrs: Moin!

    Engels: Beginnen wir mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik, die sich ja ganz nach oben auf die Agenda gedrängt hat. Was sollte Ihrer Ansicht nach die Bundesregierung der Türkei bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms aus Syrien anbieten?

    Kahrs: Ich glaube, dass wir mit der Türkei sehr gut befreundet sind. Man muss respektvoll und auch die Nöte des anderen kennend miteinander umgehen. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass man in der Türkei anfragt, was da gebraucht wird. Und dann, glaube ich, ist es auch im deutschen Interesse, dass die Flüchtlinge dort grenznah versorgt und untergebracht werden. Deswegen glaube ich, dass man mit Geld helfen muss, und wenn es denn dann Dinge gibt, die die Türkei nicht hat und braucht, sollten wir gucken, ob wir helfen können.

    Engels: Sollte Deutschland denn auch rasch Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, um so die Türkei zu entlasten?

    Kahrs: Ich glaube, bei den Mengen, die man da hat, ist es relativ schwierig, die über Europa zu verteilen. Wichtig ist, dass man die Flüchtlinge ortsnah unterbringt und versorgt, damit, wenn der Bürgerkrieg vorbei ist, sie auch schnell in ihre Heimat zurückkommen können. Bei denjenigen Flüchtlingen, die aber medizinisch versorgt werden müssen, psychisch versorgt werden müssen, und da, wo es schwierig ist, ich glaube, da sollte Deutschland helfen.

    Engels: Zuletzt hatte es ja Schießereien und auch diverse Scharmützel an der türkisch-syrischen Grenze gegeben. Wie sehen Sie mit Blick auf das NATO-Mitglied Türkei dennoch die Gefahr einer Ausweitung dieses Konflikts?

    Kahrs: Ich glaube, dass die Türkei kein Interesse daran hat. Es gibt ja auch in der türkischen Bevölkerung überhaupt gar keine Form von Mehrheit, dass die Türkei sich dort stärker einmischt. Ich hoffe, dass es da nicht zu einer Ausweitung des Konfliktes kommt, da die Türkei eben NATO-Partner ist, und jedermann ruft ja zurzeit die Türkei zur Besonnenheit auf, das finde ich richtig. Man muss dann aber auch die Türkei entsprechend unterstützen.

    Engels: Besonnenheit ist ein gutes Stichwort. Wie ist denn generell die türkische Rolle in diesem Syrien-Konflikt zu bewerten? Hat Erdogan sich da in jeder Hinsicht geschickt verhalten, oder vielleicht doch zu stark und zu sehr auf die Assad-Gegner gesetzt?

    Kahrs: Ich glaube, es ist immer relativ schwierig, aus Deutschland etwas zu kommentieren, was sich zwischen zwei Nachbarn abspielt, insbesondere wenn man sich anguckt, dass türkische Gebiete ja unter Artilleriefeuer standen, dass es da Tote gegeben hat. Da gibt es natürlich Empfindlichkeiten, da gibt es Probleme in der Nachbarschaft, da gibt es das Kurden-Problem, was da mitkommt. Ich glaube, dass die Türkei sich da bisher sehr vernünftig verhalten hat. Und wenn man diejenigen unterstützt, die gegen Assad sind, ist das ja nicht nur von Nachteil, weil, glaube ich, niemand glaubt, dass der syrische Diktator jemand ist, der unterstützt werden müsste.

    Engels: Generell hat ja die Türkei in den letzten Jahren auch durch ein beachtliches Wirtschaftswachstum in der Region selbst an Gewicht gewonnen. Wie hat sich die Außenpolitik, nachdem Sie die Türkei länger beobachten, der Türkei in diesen Jahren auch gewandelt? Ist die selbstbewusster geworden?

    Kahrs: Das beschreibt es wunderbar. Die Türkei ist selbstbewusster geworden, auch aus eigener Stärke heraus, und sieht sich auch mehr als Regionalmacht. Das ist auf der anderen Seite aber auch ein Ergebnis der Zurückweisung der Türkei durch Europa. In der Vergangenheit war Deutschland immer der Anwalt der Türkei in Europa. Unter Helmut Kohl, unter Gerhard Schröder haben wir auch immer die türkischen Interessen in Europa mit vertreten und den Beitrittsprozess gepuscht und geschoben. Zurzeit gilt Deutschland mehr als Blockierer und ich glaube, das führt auch dazu, dass die Türken sich ihre Optionen angucken außerhalb von Europa.

    Engels: Gestern hat ja Ministerpräsident Erdogan in Berlin gesagt, er sehe das Jahr 2023 als spätesten Beitrittstermin seines Landes zur EU. Ist das realistisch?

    Kahrs: Wichtig ist, dass der Beitrittsprozess wieder in die Gänge kommt. Alles das, was die Gegner der jetzigen Zustände in der Türkei beklagen – und Sie sprachen ja auch von Demonstranten und von Problemen mit Minderheitsrechten und anderen Bereichen, die wir alle kennen -, ich glaube, das kriegt man alles nur in Griff, wenn man wieder einen Beitrittsprozess hat, wenn man den Türken eine klare, eine ehrliche Perspektive gibt. Keiner will die Türkei, wie sie jetzt ist, in der Europäischen Union haben, aber eine Türkei, die den Beitrittsprozess erfolgreich durchlaufen hat, das heißt, sich in ganz vielen Bereichen geändert hat, europäische Standards angenommen hat, ist eine Türkei, die wir in der Europäischen Union sehen wollen, und das würde auch viele Probleme, die wir jetzt beklagen, von selbst lösen.

    Engels: Ministerpräsident Erdogan wird in der eben zitierten Rede allerdings auch mit einem weiteren Satz zitiert. 2023 nannte er als spätesten Beitrittstermin, aber anschließend, so wurde es übersetzt, hat er gesagt, "Wenn Sie versuchen" – gemeint sind die Europäer -, "uns bis dahin hinzuhalten, dann wird die EU verlieren, zumindest werden Sie die Türkei verlieren." Zeigt das, dass es eigentlich schon zu spät ist, sich die Türkei jetzt schon für einen anderen Weg entscheidet?

    Kahrs: Nein. Ich glaube, die Türkei ist verärgert über den Umgang mit ihr, und wir haben als Deutsche in der Vergangenheit die Türkei immer unterstützt. Und man darf nicht vergessen, dass man auch mit der Türkei mit Respekt und Anstand und auf Augenhöhe umgehen muss. Und manchmal haben die Türken das Gefühl, dass wir als so eine Art Christenklub auftreten und sagen, wir wollen sie gar nicht. Das war in der Vergangenheit nicht so. In der Vergangenheit hatte Deutschland stark dafür gekämpft, dass die Türkei sich verändert, dass der Beitrittsprozess läuft, dass die notwendigen Veränderungen in der Türkei dazu führen, dass man Kapitel um Kapitel im Beitrittsprozess positiv hinbekommt. Und dieses Gefühl haben viele Türken nicht mehr, da gibt es auch einen Konsens in der Türkei. Deswegen ist die Zustimmung zu dem EU-Beitritt in der Türkei in der Bevölkerung auch stark gesunken. Und unsere Aufgabe muss es jetzt sein, diesem Beitrittsprozess neuen Schwung zu geben, damit die Türkei sich verändert, aber damit am Ende die Türkei gerne auch vor 2023 die Chance hat, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Das ist im deutschen Interesse.

    Engels: Sie kritisieren damit ja deutlich die Haltung der CDU, die bekanntlich einen EU-Beitritt der Türkei zurückhaltend beurteilt beziehungsweise ablehnt. Machen Sie also die Bundesregierung beziehungsweise vor allen Dingen die CDU dafür verantwortlich, dass es im türkischen Annäherungsprozess zur EU überhaupt nicht mehr vorangeht?

    Kahrs: Selbstverständlich! Frau Merkel blockiert, wo sie kann. Sie macht mit dem Thema innenpolitischen Wahlkampf. Das macht die CDU ja seit Koch in Hessen relativ gerne. Das halte ich für unverantwortlich, das ist der Sache nicht angemessen. Wir haben starke politische, außenpolitische, wirtschaftliche Interessen in und mit der Türkei. Ich glaube, dass wir alle ein Interesse daran haben, dass die Türkei sich Richtung Europa orientiert, sich hier verändert, beitrittsfähig ist. Wenn man die Türkei mal vergleicht mit Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, dann muss man feststellen, dass die Türkei in ganz vielen Punkten einfach weiter ist. Und wenn man die Türkei nicht will und sie ständig vor den Kopf stößt, wie Frau Merkel das ja immer wieder tut, dann darf man sich nicht wundern, dass die Türkei sich irgendwann umorientiert, und ob uns das nachher im Ergebnis gefällt, bezweifele ich ganz stark.

    Engels: Kurz zum Schluss. Wenn die SPD regiert, dann tritt die Türkei spätestens bis 2023 bei?

    Kahrs: Das kann keiner versprechen. Aber wenn die SPD regiert, würde sie sich stark dafür einsetzen, dass der Beitrittsprozess wieder aufgenommen wird, so wie Helmut Kohl das mal angefangen hat, wie Gerhard Schröder das weiter fortgesetzt hat, damit die Türkei die ehrliche Chance bekommt, diesen Beitrittsprozess weiterzugehen und sich zu verändern. Ob sie nachher beitreten kann, liegt auch an der Türkei, denn die muss sich ja in vielen Bereichen wesentlich ändern. Aber die Chance dazu geben, das müssen wir hier.

    Engels: Johannes Kahrs, für die SPD im Bundestag und Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Danke für das Gespräch.

    Kahrs: Tschüß!

    Engels: Tschüß!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.