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Die Türkei und EU-Europa

Die sogenannten Kopenhagener Kriterien für eine Aufnahme der Türkei in die EU sind klar: Institutionelle Stabilität als Garantie für Demokratie und Rechtsstaat, eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, die Pflichten als Mitglied zu erfüllen. Morgen legt nun die EU-Kommission in Brüssel ihren Bericht vor, ob Ankara diese Messlatte erfüllt.

Von Peter Kapérn, Sandra Schulz, Jörg Pfuhl |
    Die entscheidenden Weichen wurden in den Mittagsstunden des 23. September gestellt. In einem viel zu kleinen Raum eines Brüsseler Hotels drängten sich Kameraleute und Journalisten, um zu hören, ob der Streit zwischen der EU-Kommission und der türkischen Regierung beigelegt werden konnte. Ja, bestätigte Erweiterungskommissar Günther Verheugen nach der gerade einmal einstündigen Unterredung mit dem türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, ja, der Konflikt ist ausgeräumt. Die Türkei werde, so Verheugen, ihr Strafrecht reformieren, und auch die jüngsten Berichte über Folter in türkischen Gefängnissen seien entkräftet worden. Und dann stieß Verheugen die Tür, die in die Europäische Union führt, für die Türkei so weit auf wie er nur konnte:

    Wir waren in der Lage, für die noch offenen Probleme Lösungen zu finden. Die Zusicherungen, die mir mein Freund, Premierminister Erdogan, heute gegeben hat, gestatten es mir, eine ganz klare Empfehlung auszusprechen. Deshalb komme ich zu dem Ergebnis, dass es keine Hindernisse mehr gibt. Aus meiner Sicht gibt es keine weiteren Bedingungen, die die Türkei noch erfüllen muss, um der Kommission die Empfehlung zu ermöglichen.

    Damit kann dann das letzte Kapitel im Buch über den Beitritt der Türkei zur EU beginnen.

    Die Geschichte der Annäherung zwischen Europa und der Türkei – es ist eine lange Geschichte von Zurückweisung und nicht gehaltenen Versprechen. Sie beginnt vor fast einem halben Jahrhundert: Als sich die Türkei im Jahr 1959 kurz nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der EWG, um Mitgliedschaft bewarb, bekam sie zum ersten Mal einen Korb. Der Antrag wurde abgelehnt, dafür aber im Jahr 1963 ein Assoziierungsabkommen geschlossen. Mit Versprechungen geizte die EWG darin nicht, eröffnete der Türkei gar eine Perspektive auf Mitgliedschaft. Dieses Angebot aber, so der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, hat mittlerweile keine Gültigkeit mehr. Im April 1987 reichte die Türkei Mitgliedsantrag Nummer zwei ein. Vahit Halefoglu, zu jener Zeit Außenminister der Türkei, ging damals mit seinen Argumenten in ganz Europa auf Tournee.

    Erstens: Unsere Überzeugung, dass die Türkei ein integraler Teil Europas ist und zweitens unser entschlossener Wunsch, den unserem Land zustehenden Platz in Europa baldmöglichst einzunehmen. Das heißt, dass mit der Vollmitgliedschaft ein langer Prozess verbunden ist und es eine Tatsache ist, dass die europäische Integration trotz aller Schwierigkeiten und Probleme fortschreitet.

    Weit trugen diese Argumente aber nicht. Drei Jahre später, 1990, lehnte die Europäische Gemeinschaft erneut ab. Der offizielle Grund war ein formeller: die EG könne wegen der bevorstehenden Realisierung des Binnenmarktes erst einmal keine weiteren Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Sachliche Argumente wurden dann erstmals wieder auf dem EU-Gipfel in Luxemburg 1997 ausgetauscht. Damals verweigerten die Staats- und Regierungschefs der Türkei den Status als Beitrittskandidat. Zu weit schien das Land am Bosporus noch von den Kopenhagener Kriterien entfernt, die die EU bei einem Gipfel in der dänischen Hauptstadt im Jahr 1993 formuliert hatte – verbindlich für alle Beitrittsaspiranten. Der Umgang mit der kurdischen Minderheit, die eingeschränkte Meinungsfreiheit und die unverändert rigide Haltung der Türkei in der Zypernfrage führten zum zweiten ,,Nein der EU.

    Zwei Jahre später schließlich, im Jahr 1999, zeichnete sich beim Gipfel in Helsinki ein Richtungswechsel ab. Die Türkei wurde als EU- Beitrittskandidat offiziell anerkannt. Bundeskanzler Schröder lobte diese Entscheidung als einen Schritt in die richtige Richtung.

    Das ist schon für die weitere Ausgestaltung der Beziehungen EU-Türkei von wesentlicher Bedeutung, denn sicher wird das auch den inneren Reformprozess der Türkei – also mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Beachtung der Menschenrechte, Abwesenheit von Folter - befördern können und befördern müssen.

    Zuckerbrot statt Peitsche – von der neuen Politik der ausgestreckten Hand versprach sich Europa neue Impulse für die Türkei, einen neuen Motivationsschub für die Reformkräfte. Der damalige türkische Premier Ecevit trat der EU in Helsinki selbstbewusst gegenüber:

    Einige Mitglieder der EU glauben, dass es viele Jahre dauern wird, bis die Türkei ein Vollmitglied wird. Ich aber bin davon überzeugt, dass wir angesichts der Dynamik des türkischen Volkes und seiner Verpflichtung zur Demokratie dieses Ziel in einer weitaus kürzeren Zeit werden erreichen. Diese Kandidatur und die spätere Mitgliedschaft sind das Geburtsrecht der Türkei. Ein Recht, das sich die Türkei verdient hat durch seine historische Entwicklung, die geographische Lage, ihre aktuellen Eigenschaften und durch die Bestimmungen des Assoziierungsabkommens mit der EU aus dem Jahr 1963.

    Europa, wir kommen! titelte denn auch im August 2002 eine Istanbuler Zeitung. Zuvor hatte das türkische Parlament in einer 22-stündigen Marathonsitzung ein umfangreiches Reformpaket verabschiedet. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, Meinungs- und Versammlungsfreiheit gestärkt, das Strafgesetzbuch liberalisiert. Bei einem weiteren EU-Gipfel Ende 2002, wieder in Kopenhagen, wurde die Europäische Kommission beauftragt, zu prüfen, ob die Türkei nun für weitere Verhandlungen reif sei.
    Ob aber Beitrittsverhandlungen tatsächlich aufgenommen werden, das entscheidet nicht die EU-Kommission, sie hat morgen lediglich eine Empfehlung auszusprechen. Endgültig den Daumen heben oder senken werden die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedstaaten bei ihrem Gipfeltreffen Mitte Dezember in Brüssel. Doch auch dort wird es wohl ein klares Votum für den Beginn von Beitrittsgesprächen geben. Zu breit ist das Spektrum der aktiven Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei unter den Regierungen. Die Gegner eines Türkei-Beitritts halten sich weitgehend bedeckt. Und zwar aus einem einfachen Grund, wie der Europaabgeordnete Elmar Brok meint:

    Das hängt sicherlich damit zusammen, dass keiner das Risiko auf sich nehmen will, dass er als derjenige vorgeführt wird, der mit dem Problem mit Wirtschaftsbeziehungen bei den anderen zu tun haben. Dieses ist wichtig. Eine opportunistische Haltung, bei der niemand der Katze die Schelle umhängen will.

    Einige Monate immerhin wird es dauern, bis dann tatsächlich die erste Verhandlungsrunde mit der Türkei abgehalten wird. Und niemand vermag derzeit präzise zu sagen, wie lange die Gespräche dauern werden. Zehn bis fünfzehn Jahre, schätzte kürzlich Außenminister Joschka Fischer. Doch selbst wenn die Verhandlungen einen positiven Abschluss finden, ist der Beitritt der Türkei damit noch nicht besiegelt. Denn der Beitrittsvertrag muss ratifiziert werden – vom Europaparlament wie auch von allen Staaten, die zu diesem Zeitpunkt der EU angehören.

    Natürlich lässt sich nicht vorhersagen, wie dieser Ratifizierungsprozess, der irgendwann zwischen 2015 und 2020 laufen könnte, ausgehen wird. Aber: Im Europaparlament positionieren sich bereits jetzt einzelne Politiker. Abgeordnete der französischen Regierungspartei UMP kündigten vor zwei Wochen an, Mehrheiten gegen einen Türkei-Beitritt organisieren zu wollen. Ein Vorhaben, das bei Europaparlamentariern von CDU und CSU Unterstützung findet. Und dann sind da ja auch noch die Bürger der EU, die zumindest in manchen Ländern nach ihrer Meinung befragt werden. Jean Claude Juncker, Ministerpräsident Luxemburgs:

    Ich kann mir nicht vorstellen, nachdem zwölf EU-Staaten den Entschluss gefasst haben, die Verfassung per Referendum zu ratifizieren, dass man einen möglichen Türkei-Beitritt anders ratifizieren würde als auch durch eine Volksbefragung in mehreren Ländern der Europäischen Union.

    Es gilt aber nicht nur die Frage zu beantworten, ob die Türkei der EU beitreten kann, sondern auch, ob die EU reif für den Beitritt der Türkei ist. Im Moment jedenfalls ist das nicht der Fall. Derzeit werden in der 25er Union nämlich die Entscheidungsprozeduren angewandt, die im Vertrag von Nizza niedergelegt sind. Ein Verfahren, dem von allen Beteiligten bescheinigt wird, es sei ineffizient und für Blockaden anfällig und eigentlich schon für die EU der 25 untauglich, ganz zu schweigen von der EU der 28, wie sie wohl ab 2007 nach dem Beitritt Rumäniens, Bulgariens und Kroatiens existieren wird.

    Effizienter werden die Entscheidungsfindungen erst, wenn die EU-Verfassung in Kraft tritt – falls sie denn jemals in Kraft tritt. Wie auch immer die Entscheidungsprozesse zum Zeitpunkt eines türkischen EU-Beitritts aussehen werden – auf jeden Fall werden sich die Gewichte innerhalb der EU dann nachhaltig verschieben. Denn bis zu einem Beitritt wird die Zahl der in der Türkei lebenden Menschen von jetzt 70 auf dann 80 Millionen gewachsen sein. Eine Zahl, die in der Verteilung der Stimmgewichte ihren Niederschlag finden wird. Der Neuling Türkei würde also ein solches Gewicht auf die Waage bringen, dass alle bislang einflussreichen Achsen innerhalb der EU bedeutungslos werden.

    Außerdem muss die EU die Kosten eines Türkei-Beitritts bewältigen können. Das geht aber nur, wenn die Union sich völlig neue Schwerpunkte setzt. Der ausgabenträchtigste Bereich ist derzeit die Agrarpolitik, die gut 40 Prozent des gesamten Haushalts der EU von rund 100 Milliarden Euro beansprucht. Wenn die Türkei mit ihrem riesigen Agrarsektor der heutigen EU mit ihrer Agrarpolitik beitreten würde, ließe dies den Etat explodieren. Elmar Brok:

    Die Schätzungen, die ich habe, würden bedeuten, dass das zwischen 14 und 20 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten würde. Das wäre ein deutscher Finanzierungsanteil zwischen fünf und sieben Milliarden Euro jährlich.

    Stimmungsmache werfen die Befürworter eines Türkei-Beitritts all jenen vor, die derzeit mit solchen Zahlen hausieren gehen. Denn:

    Die Europäische Union, in die die Türkei eines fernen Tages möglicherweise eintreten wird, das wird nicht die gleiche Europäische Union sein, wie die Europäische Union, in die beispielsweise früher mal Griechenland eingetreten ist, auch was die Leistungen angeht, die die Türkei bekommen wird...

    ...sagt der grüne Europaabgeordnete Cem Özdemir.

    Ich glaube, dass man nicht seriös ist, wenn man jetzt Zahlen abschließend vorlegt, denn wir können nicht genau prognostizieren, wie in zehn Jahren der europäische Landwirtschaftsetat aussehen wird, das weiß man noch gar nicht. Man muss der Türkei ganz ehrlich sagen, die Türkei wird nicht das gleiche Geld bekommen wie es beispielsweise früher mal Griechenland bekommen hat. Das Geld ist nicht mehr da, und ich glaube, das hat die Türkei auch schon längst verstanden.

    Peter Kapern und Sandra Schulz berichteten aus Brüssel. In unserem zweiten Beitrag zum Thema EU-Beitrittskandidat Türkei nun ein Report aus der Türkei. Jörg Pfuhl, Istanbul, ist vor Ort den entscheidenden Fragen nachgegangen. Hier sein Report:

    Eigentlich will Europa ja die Türkei als Markt haben, aber viele wollen uns dann doch nicht, wegen ihrem christlichen Chauvinismus...

    Die Angst vor einer fremden Religion, vor 70 Millionen muslimischer Türken in der EU spielt offiziell keine Rolle, wenn es um die Türkeifrage geht. Für Europas offizielle Beitrittsmesslatte, die Kopenhagener Kriterien, ist Religion nur als Toleranzwert von Interesse: Wie geht ein muslimisches Land mit denen um, die nicht-muslimisch sind? Während man in Westeuropa kaum einen Muezzin hören wird, sind bei einem Gang durch Istanbul christliche Kirchen durchaus präsent:

    Die Menschen kennen kaum Christen. Aber sie haben - und das würde ich behaupten - in der Mehrheit auch keine Vorbehalte gegenüber Christen. Das ist meine persönliche Erfahrung bislang und auch die meiner ökumenischen Gesprächspartner und Freunde, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung überhaupt keine Berührungsängste gegenüber Christen hat, auch keine Vorbehalte.

    Holger Nollmann ist Pfarrer der kleinen evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Istanbul. Seine türkischen Nachbarn wissen, dass er Pfarrer ist - sie haben damit keine Probleme. Der türkische Staat aber durchaus. Ausländische Geistliche erhalten in der Regel keine Arbeitserlaubnis; Pfarrer Nollmann ist deshalb formal ein Angestellter des Deutschen Generalkonsulates. Solche Regeln haben ihren Ursprung in den 20er Jahren. Aus dem Zusammenbruch des multikulturellen osmanischen Reiches hatte die junge türkische Republik den Schluss gezogen, dass Multikulti nicht funktioniert. Der kranke Mann am Bosporus war von europäischen Nationalstaaten besiegt worden - also waren diese offenbar stärker als ein multireligiöses Vielvölkerreich. Republikgründer Atatürk schuf einen homogenen türkischen Nationalstaat möglichst ohne arabisch-islamischen Einfluss im öffentlichen Leben: Arabische Schrift und islamische Gerichte werden abgeschafft, Derwischklöster und Medresen aufgelöst und der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen.

    Moderne kurdische Musik von den Kardeþ Türküler. Viel größer als die kleinen religiösen Minderheiten ist die ethnische Minderheit der Kurden. Mehr als zwölf Millionen leben in der Türkei, zeitweise umgetauft zu Bergtürken, weil in der homogenen türkischen Nation offiziell nur Türken existierten. Kurdische Kinder wurden mit neuen Vornamen zwangstürkisiert, die kurdische Sprache lange verboten. Als eine kurdische Abgeordnete im Ankaraner Parlament 1990 nur einen Satz auf kurdisch sagt, bricht Tumult aus:

    Man entzieht ihr die Immunität, verurteilt sie wegen Separatismus und steckt sie für 15 Jahre ins Gefängnis. Der türkische Nationalismus treibt die Kurden schließlich in den Terror der PKK, der mehr als 30.000 Menschenleben fordert. Entspannung gibt es erst, seit 1999 PKK-Chef Abdullah Öcalan gefangengenommen wird und die Reste seiner Organisation sich über die Grenze in den Nordirak zurückzieht. Der Ausnahmezustand im Südosten wird aufgehoben; es erscheinen kurdische CD`s und Kinofilme.

    Allerdings: Kurdisch kommt in den Lehrplänen staatlicher Schulen nicht vor, die Justiz versucht immer wieder, kurdische Parteien zu verbieten und Hunderttausende durch den Krieg Vertriebene können noch immer nicht in ihre Dörfer zurückkehren: Ihre alten Häuser sind Ruinen oder aber besetzt von sogenannten Dorfschützern. Vom Status einer anerkannten Minderheit sind die Kurden in der Türkei noch weit entfernt.

    Kurdische Frauen demonstrieren am Weltfrauentag im Südosten der Türkei. Baumwollfelder und Lehmhütten prägen hier das Bild. Die Wege ungepflastert und verschlammt. Im braunen Einerlei picken Hühner zwischen Mülltüten. Nicht Erste oder Zweite, viel näher ist die Dritte Welt. Feudale Clanstrukturen prägen hier das soziale Leben und auch die herrschende, das ist die männliche Moral:

    Die Frau hat zuhause zu bleiben. Und wenn sie auf die Straße geht, dann ehrwürdig und rein und nicht etwa leicht bekleidet und plaudernd. Allah hat mich zum Mann gemacht, damit ich die Frau ernähre. Was haben Frauen auf Arbeit zu suchen?

    ´Töre` und ´namus` - archaische Begriffe von Sitte und Ehre. Danach gehört ein Mädchen seiner Familie, bis es gegen einen Brautpreis verkauft wird an den Ehemann. Doch der zahlt nur für einwandfreie, und das heißt: unberührte Ware. Der Soziologe Dr. Aytekin:

    Zur Rettung der Familienehre werden Mädchen getötet, und es wird ein Selbstmord vorgetäuscht. Zum Beispiel: Ein Mädchen lässt sich mit einem Mann ein, und der Familienrat fällt gegen sie ein Todesurteil. Da wird dem Mädchen entweder Rattengift an eine für sie deutlich sichtbare Stelle gestellt oder aber sie wird aufgehängt, und man täuscht dann einen Selbstmord vor.

    Für diese sogenannten ´Ehrenmorde` sah das türkische Strafrecht bislang zahlreiche Strafnachlässe vor - schließlich sei die Tötung durch unzüchtiges Verhalten der Frau ja erst provoziert worden. Erst jetzt werden nach Druck aus Brüssel die Gesetze verschärft.

    Meist erregen diese Vorstöße viel Aufregung, versanden dann aber, ohne dass an den Grundstrukturen des laizistischen Nationalstaates etwas geändert würde. Als Garant dieser Strukturen verstehen sich die Militärs - nach eigener Überzeugung überparteiliche Wächter der Republik. Dreimal haben sie geputscht, um ´ihren Staat` zu retten:

    Niemand darf uns zwingen, politische Partei zu ergreifen. Wofür die Armee aber immer Partei ergreifen wird, das ist die Republik als demokratischer und säkularer Rechtsstaat sowie die Einheit des Landes und des Volkes.

    Aber Hilmi Özkök, Chef des türkischen Generalstabes, hat viel von seiner alten Macht in der Innenpolitik verloren - ausgerechnet dank des ehemaligen Islamisten Erdoðan. Kein General, sondern ein Diplomat führt heute den einflussreichen Nationalen Sicherheitsrat, und der Rechnungshof kontrolliert nun die bisher geheimen Bücher der Militärs. Mittlerweile setzt die türkische Politik sich sogar in Sicherheitsfragen gegen die Militärs durch: Die Volksabstimmung auf Zypern durfte stattfinden, der Einmarsch in den kurdischen Nordirak wurde abgeblasen. Und während nach dem 11. September weltweit die Gesetze verschärft werden, liberalisiert die Türkei ihr Antiterrorrecht, erweitert Demonstrations- und Meinungsfreiheit. Im November 2003 wird die Türkei selber Ziel islamistischer Anschläge: Mehr als 60 Menschen sterben in Istanbul bei Selbstmordattentaten auf jüdische Synagogen und britische Einrichtungen.

    Die Regierung Erdoðan setzt alles auf die EU-Karte. Der Regierungschef hatte den Kurs schon unmittelbar nach Amtsantritt vor nunmehr knapp zwei Jahren formuliert:

    Wir werden eine Politik der Null-Toleranz fahren gegen Folter, denn Folter ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit; und wir werden alles angehen, was der Meinungsfreiheit entgegensteht.

    Der Regierungschef Erdogan nutzt heute den europäischen Weg, um die alten Kräfte zu bekämpfen, denen Laizismus und Nationalismus über alles gehen:

    Der Beitritt zur Europäischen Union ist für uns das wichtigste Modernisierungs- und Demokratisierungsprojekt seit Gründung der Republik.

    Stabil um die 70 Prozent der Bevölkerung tragen diesen EU-Kurs. Daran hat sich in 40 Jahren Warten nichts geändert.