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Die Türkei unter Erdogan
Ein zerrissenes Land, regiert von Populisten

Die Journalistin Cigdem Akyol arbeitet seit 2014 als freie Korrespondentin in Istanbul. In dieser Zeit hat sie ein Buch über die politischen Veränderungen seit dem Machtantritt der AKP geschrieben. Es zeichnet das Bild einer politischen Entwicklung, die auf einen autokratischen Staat unter islamischem Vorzeichen zielt.

Von Martin Zähringer | 01.06.2015
    Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan winkend bei Wahlkampf.
    Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist auch 2023 noch an der Macht, glaubt Cigdem Akyol. (picture alliance / dpa / Tolga Bozoglu)
    Cigdem Akyol zeichnet in ihrem Buch ein düsteres Bild der Türkei. Es wäre niederschmetternd deprimierend, wüsste man nicht, dass die Autorin selbst seit eineinhalb Jahren in Istanbul lebt und sich, wie sie erzählt, in das Land verliebt hat. Es gebe ja noch anderes als die AKP, die herrschende "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung", und andere als den omnipräsenten Selbstdarsteller Recep Tayyip Erdogan, der die AKP im Jahr 2001 gegründet hat und von 2004 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei war.
    Und auch wenn die Re-Islamisierung der Gesellschaft das markanteste Erfolgsprojekt Erdogans sei, so lasse sich das Leben in der Türkei nicht allein auf die Hegemonie der Religion reduzieren. So weit, so tröstlich. Dessen ungeachtet ist Cigdem Akyols Buch eine gründliche Analyse des politischen Islams türkischer Machart. Die Autorin schreibt:
    "Die AKP war keine Partei, in der langbärtige Männer mit dem Koran in der Hand saßen, sondern ein Zusammenschluss religiöser und nationalistischer Kräfte, aber auch wirtschaftsnaher Reformer - allerdings waren auch nicht wenige heutige AKPler einst Milli Görüs-Anhänger. Die AKP ist also eine konservativ-islamische Partei - aber keine islamistische Partei."
    Akyol berichtet chronologisch nachvollziehbar und detailliert, wie sich das Projekt Machteroberung durch diesen konservativen Islam gestaltet, über zwei Jahrzehnte hinweg und gegen die Widerstände aller säkularen Kräfte bis hin zum mächtigen Militär. 1994 nimmt die Re-Islamisierung Fahrt auf, als Recep Tayyip Erdogan von der islamistischen Wohlfahrtspartei Bürgermeister von Istanbul wird. Repressionen wie ein lebenslanges Politikverbot für Erdogan und Parteiverbote nützen nichts. Es werden einfach immer neue islamische Parteien gegründet, so die Nationale Ordnungspartei, die Nationale Heilspartei oder die Tugendpartei. Am Ende dieser Entwicklung steht die AKP, die im November 2002 die Parlamentswahlen gewinnt. Im September 2012 stimmt eine Mehrheit von knapp 58 Prozent der Wahlberechtigten einer Verfassungsänderung in über 20 Punkten zu. Mit eindeutigen Folgen:
    "Das Kopftuch ist da, das Kopftuch ist jetzt in der Mitte der Gesellschaft, sprich Frauen mit Kopftuch dürfen auch ins Parlament. Das war über Jahrzehnte hinweg ein absolutes No-Go, das war überhaupt gar nicht denkbar. Und das Militär steht jetzt hintenan, was die Machtposition anbelangt, und da wird es auch bleiben."
    Das Paradebeispiel einer modernen populistischen Partei
    Dafür erscheint Erdogan immer unverhüllter als Autokrat, der die Medien beherrscht, die Verwaltung und die Justiz indoktriniert, dabei seine Unterstützer mit öffentlichen Großaufträgen füttert und die Opposition mit allen Mitteln verfolgt. Die Autorin zeigt, dass die AKP ein Paradebeispiel einer modernen populistischen Partei ist, mit einem charismatischen Führer auf dem Weg zur absoluten Macht:
    "Die AKP ist nach demokratischen Maßstäben eine populistische Partei. Sie ist deswegen populistisch, weil sie Wahlkampf macht auf dem Rücken der Minderheiten, sie ist deswegen populistisch, weil sie Wahlkampf macht auf nationalistischem Niveau, sie ist deswegen populistisch, weil sie Menschenrechte missachtet, und sie ist deswegen populistisch, weil sie den sunnitischen Islam ganz oben auf der Agenda stehen hat. Also sprich, die ganzen anderen Minderheiten des Landes, auch die religiösen Minderheiten, schon verachtet. Deswegen ist die AKP eine populistische Partei."
    Cigdem Akyol beleuchtet auch die wenig ruhmreiche außenpolitische Rolle der AKP. Weder hat sich der Anspruch auf eine türkische Führungsrolle in der islamischen Welt erfüllt, noch der einer regionalen Vormacht im Nahen Osten, selbst das einst gute Verhältnis zu Israel ist getrübt und eine Lösung des Zypern-Konflikts ist auch nicht in Sicht. Dafür hat sich der Druck auf die eigene Bevölkerung erhöht.
    Die Istanbuler Polizei setzte Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.
    "Wir haben einen Kulturkampf zwischen Islam und Demokratie" (picture alliance / dpa / EPA / Sedat Suna)
    "Die Menschen fühlten sich zunehmend kontrolliert und unterdrückt, Erdogan, so schien es ihnen, war überall. Was seine Anhänger an ihm schätzten - die Beschwörung einer starken Nation und das Gehabe eines machohaften Raufboldes -, führte bei seinen Kritikern zu Klaustrophobie. Er war auf den meisten Fernsehkanälen und Titelseiten, überall hingen Plakate mit seinem Konterfei und seiner angeblichen Erfolgsbilanz. Der öffentliche Raum wurde von der AKP dominiert, immer mehr individuelle Freiheiten wurden beschnitten. Der autoritäre Gesamtkomplex machte den Menschen Angst."
    Ein Kampf auf mehreren Ebenen
    Um dann ein revolutionäres Potenzial wachzurütteln. Es hat nur eines Auslösers bedurft - Erdogans Plan, gerade am geschichtsträchtigen Taksim Platz die Wahrzeichen seines kapitalistischen Islams aufzupflanzen - eine Moschee und ein Shoppingcenter. Das Jahr 2013 mit der Gezi-Bewegung geht in die Geschichte ein, doch der Aufstand forderte mehrere Todesopfer, unablässige Repressalien führten zur nachhaltigen Einschüchterung der Massenbewegung. Cigdem Akyol zitiert in ihrem sehr zu empfehlenden Buch einige Stimmen, die noch vorsichtig optimistisch sind, was die Möglichkeiten einer demokratischen Opposition zwischen Kemalismus und Islamismus betrifft. Sie selbst ist allerdings eher pessimistisch:
    "Wir haben einen Kulturkampf zwischen Islam und Demokratie, wir haben einen Kulturkampf zwischen Islam und Laizismus, wir haben einen Kampf zwischen Demokratie und autoritärer Politik. Es ist ein Kampf - Kampf ist ein sehr starkes Wort, aber so muss man es formulieren, es ist ein Kampf auf mehreren Ebenen, der hier ausgefochten wird. Ende ist offen, man weiß nicht, wie es ausgehen wird. Klar ist allerdings - wenn nicht etwas Unvorhergesehenes passiert - dass Erdogan 2023 noch an der Macht sein will. 2023 feiert die Republik ihr hundertjähriges Bestehen, dann würde er in die Geschichtsbücher eingehen, nach dem Republikgründer Kemal Atatürk."
    Cigdem Akyol: "Generation Erdogan. Die Türkei - ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert." Kremayr & Scheriau, 208 Seiten, 22 Euro.
    ISBN: 978-3-218-00969-0