Archiv

Die Türkei vor den Wahlen
Reise durch ein zerrissenes Land

Am Sonntag wird in der Türkei gewählt. Für Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist die Wahl auch eine Machtprobe. Wie die Stimmung im Land derzeit ist, zeigt eine Reise durch das Land: vom Schmelztigel Istanbul über die Kurdenhochburg Diyarbakir bis nach Rize – der Heimat Erdogans.

Von Christian Buttkereit und Karin Senz |
    Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfolgen fahnenschwingend eine seiner Wahlkampfreden.
    Außer Erdogan bewerben sich fünf Kandidaten für das Präsidentenamt in der Türkei. (dpa / Oliver Weiken)
    Am 24. Juni werden in der Türkei erstmals das Parlament und der Präsident am selben Tag neu gewählt. Anschließend soll das Präsidialsystem umgesetzt werden. Für dessen Einführung hatten die Türken bereits vor gut einem Jahr mit knapper Mehrheit gestimmt. Das Präsidialsystem verleiht dem Amtsinhaber weitreichende Vollmachten. Es scheint wie zugeschnitten auf Recep Tayyip Erdoğan. Dabei ist im Moment gar nicht sicher, ob Erdogan wirklich der nächste Präsident der Türkei wird. Außer ihm bewerben sich fünf Kandidaten um das höchste Amt im Staat. Auch wenn drei der Konkurrenten durchaus ernst zu nehmen sind, geht Erdogan bisher von einer Wiederwahl aus.
    "Auf das Amt des Bürgermeisters, des Regierungschefs und des Staatspräsidenten wurde ich vom Volk gewählt. Nur wenn mein Volk eines Tages 'Genug!' sagen sollte, trete ich zurück." Nach dieser Aussage gleich zu Beginn des Wahlkampfes wurde "Tamam" – "es reicht" - zu einem Schlachtruf der Opposition.
    Schmelztiegel Istanbul
    Nirgends sind die Wahlkämpfer so fleißig wie in Istanbul. Kein Wunder, denn hier gibt es etwa ein Fünftel der landesweit gut 59 Millionen Stimmen zu holen. Alle treten hier mehrfach auf. Der Kandidat der Republikanischen Volkspartei, Muharrem Ince bis zu fünf Mal am Tag. "Am 24. Juni werde ich mit Gottes Hilfe und dem Willen des Volkes Staatspräsident werden. Und ich werde nicht nur der Präsident aller Republikaner sein, sondern aller 80 Millionen Bürger; auch der Präsident aller AKP-Wähler, MHP-Wähler, HDP-Wähler, aller Rechten und Linken, Kurden und Türken, Alewiten und Sunniten... aller."
    Gerade weil Ince Präsidentschaftskandidat der etwas elitären Republikanischen Volkspartei ist, gibt sich der ehemalige Physiklehrer betont volksnah. Seine CHP ist die älteste und größte Oppositionspartei im Land – sozialdemokratisch geprägt, mit einer Wählerschaft vor allem in urbanen und säkularen Schichten. Ince hat sein weißes Hemd stets etwas aufgeknöpft, die Ärmel gerne hochgekrempelt. Er ist einer, der gewinnen will und der Erdoğan Paroli bieten kann – und das kommt bei vielen Türken gut an:
    "Muharrem Ince präsentiert sich gut. [Bravo!] Er nimmt es mit Tayyip Erdoğan auf. Wenn Erdoğan drauf haut, haut Ince auch drauf - wie Du mir, so ich Dir. Die Rhetorik stimmt. Und Ince ist fleissig."
    "Muharrem Ince ist zu einem Hoffnungsträger geworden, für alle diejenigen, die keine Hoffnung mehr hatten. Ich finde gut, dass er die Lage der Wirtschaft und die mangelnde Gerechtigkeit anspricht."
    Im Wahlkampf setzt Ince inzwischen die Themen, nicht Erdoğan. An erster Stelle Gerechtigkeit – die Türkei müsse dringend wieder zu einem Rechtsstaat werden. Außerdem geht er auf die Kurden zu – was für die Wahl entscheidend sein könnte. Das Präsidialsystem wolle er wieder abschaffen und in Erdoğans Präsidentenpalast erst gar nicht einziehen. Der solle zu einer Bildungseinrichtung werden. Sollte er gewählt werden, sagt Ince, werde er als erstes den Ausnahmezustand aufheben. Außerdem dürfe sich die Politik nicht länger einen Teil der Gesellschaft zum Feind machen.
    "Wir brauchen eine Türkei, in der erneut Karikaturen des Staatspräsidenten gezeichnet werden und in denen der Staatspräsident über seine Karikaturen lachen kann. Das Land braucht einen Staatspräsidenten, der sich sogar wünscht, dass sich die Jugend über ihn lustig macht, wenn er mal dummes Zeug redet. Das Land braucht einen Staatspräsidenten, der Proteste toleriert, wenn er ein Fussballstadion betritt."
    Bereits vor Ince hatte sich die national-konservative Politikerin Meral Aksener in Stellung gebracht. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass die Wahlen um fast anderthalb Jahre vorgezogen wurden. So bleiben ihr und ihrer erst im Oktober 2017 gegründeten İyi-Partei nur wenig Zeit, sich bei den Wählern bekannt zu machen. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn bis auf eine Zeitung sind alle landesweiten Medien in Händen der Regierung oder Erdoğan-treuer Unternehmer.
    "Das ist eine Tatsache, die weitaus mehr bedeutet, als dass mir, Meral Akşener, seitens der Medien kein Platz eingeräumt wird. Es handelt sich hierbei um einen Verstoß gegen das Informationsrecht der Öffentlichkeit. Aber man muss sich zu helfen wissen. Wir organisieren eben ganz viele Wahlveranstaltungen. Auch wenn das Fernsehen oder die Zeitungen nicht berichten - in der jeweiligen Stadt in der ich auftrete, bin ich das Thema des Tages."
    Aksener spekuliert auf Wähler aus dem AKP-Lager. Im Wahlkampf verspricht sie unter anderem ein Arbeitslosengeld für Schulabgänger. Auch überschuldeten Familien will sie finanziell unter die Arme greifen. Besonders gut kommt Aksener bei Frauen an. Ein Problem damit, dass sie eine Frau sei, habe nur einer, meint Aksener: Staatspräsident Erdoğan.
    "Dass ihn eine Frau herausfordert, tut seinem Ego weh. Außerdem weiß er, dass er unter fairen Bedingungen die Wahl durchaus verlieren kann. Und gegen eine Frau zu verlieren, das wäre sein Albtraum."
    Duell zwischen Erdoğan und Ince laut Umfragen wahrscheinlich
    Den schwierigsten Wahlkampf führt der Präsidentschaftskandidat der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas. Er sitzt seit anderthalb Jahren im Gefängnis. Der Vorwurf gegen ihn und andere Oppositionspolitiker: "Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation". Öffentliche Auftritte sind dadurch für ihn unmöglich. Trotzdem führt der 45-Jährige Wahlkampf mit cleveren Ideen. Neulich hat er den wöchentlichen Anruf bei seiner Familie in Diyarbakir für eine Botschaft an die Wähler genutzt:
    "Meine Situation steht stellvertretend für die von vielen. Heute ist das ganze Land und seine Bürger Opfer von Ungerechtigkeit. Und Ungerechtigkeit gibt es nicht nur in Gerichtssälen. Das reicht von Krankenhäusern bis zu Universitäten, von den Feldern bis in die Fabriken, von den Regierungsbüros bis auf die Straße."
    Sollte die Präsidentschaftswahl in eine zweite Runde gehen, könnte die HDP zum Königsmacher werden, je nachdem welche Empfehlung Demirtas aus dem Gefängnis heraus seinen Anhängern für die Stichwahl gibt. Umfragen zufolge läuft es auf ein Duell zwischen Amtsinhaber Erdoğan und CHP-Kandidat Ince hinaus.
    Überraschungen könnte es auch bei der Parlamentswahl geben. Noch ist nicht ausgemacht, dass das Erdoğan-Lager aus AKP und rechtsradikaler MHP gewinnt. Ihm gegenüber hat sich eine Allianz gebildet aus sozialdemokratischer CHP, national-konservativer İyi-Partei, der national-liberalen Demokratischen Partei und der islamistischen Saadet-Partei. Der Vorteil: die kleinen Parteien müssen die zehn Prozent-Hürde nicht fürchten. Zittern muss lediglich die HDP. Die pro-kurdische Partei gehört keinem Bündnis an. Umfragen sehen sie zwischen neun und 14 Prozent.
    Ein Mann zählt türkische Lira in einer Wechselstube in Istanbul am 8.Januar 2015. AFP PHOTO / OZAN KOSE / AFP PHOTO / OZAN KOSE
    Für mehr als jeden zweiten Türken ist die Finanz- und Wirtschaftspolitik das größte Problem der Türkei. (AFP / PHOTO / Ozasn Kose)
    Zu einem weiteren Gegner Erdogans im Wahlkampf scheint die schwache Landeswährung geworden zu sein. Gab es vor einem Jahr für einen Euro 3,90 Lira, sind es inzwischen rund 5,50 Lira. Die Folge: Importgüter haben sich deutlich verteuert. Die Inflation stieg auf gut elf Prozent. Für mehr als jeden zweiten Türken ist die Finanz- und Wirtschaftspolitik inzwischen das größte Problem der Türkei. Dabei spürt der einfache Arbeiter den schlechten Lira-Kurs eher indirekt. Denn die Preise für Grundnahrungsmittel sind bisher einigermaßen stabil geblieben. Den Spritpreis an der Tankstelle hält die Regierung per Steuersenkung künstlich niedrig. Darum ist der Wirtschaftsexperte Baris Soydan vom regierungskritischen Nachrichtenportal T24 skeptisch: "Ich glaube, es wird sich auf die Wahl auswirken. Ich glaube, dass diese Turbulenzen eine Chance für die Oppositionsparteien sind. Aber wie groß diese Chance ist, werden wir erst noch sehen."
    Ob das reicht, um Erdoğan abzuwählen? Oder ist das nur ein Istanbuler Eindruck? Wie läuft der Wahlkampf in anderen Teilen der Türkei, etwa in den Kurdengebieten? Wir wollen es wissen und reisen zunächst mehr als 1000 Kilometer quer durch die Türkei in den Südosten.
    Diyarbakir – die Kurdenhochburg im Südosten
    Das Herz der Millionenstadt schlägt in Sur – in der historischen Altstadt, oder was davon noch übrig ist, denn dieses Herz blutet. Sur war vor gut zwei Jahren Schauplatz von erbitterten Kämpfen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Kämpfern. Viele junge Menschen sind damals gestorben. Zozan ist ein Kind dieses Viertels. Sie hat das alles mitbekommen, die Schüsse, die zerstörten Häuser, die Leichen auf den Straßen. Heute ist sie 24. Sie lebt in einem Zelt zusammen mit ihren Eltern, fünf Geschwistern und Hühnern. Bis vor ein paar Monaten hatten sie noch eine Wohnung, das Haus stand genau an derselben Stelle, es wurde einfach abgerissen, erzählt sie. Es war eines der Häuser, das während der Kämpfe stark beschädigt wurde.
    Im Hintergrund ist Baulärm zu hören, aber nicht zu sehen. Denn die Baustelle, auf der schicke Wohnhäuser entstehen, liegt hinter einer hohen Wand – die "Berliner Wand" nennen sie sie hier, in Anlehnung an die Berliner Mauer. Sie trennt Armut und Frustration vom neuen, modernen Diyarbakir, das für Zozan nie erreichbar sein wird. Sie hat noch nie gearbeitet, findet einfach keinen Job, sagt sie. Warum? Für sie ist das klar, weil sie aus einer kurdischen Familie kommt. Seit die Zentralregierung die Stadt 2016 unter Zwangsverwaltung gestellt hat, ist der Druck auf die Kurden noch mal gewachsen:
    "Da braucht man jemanden, der jemanden kennt. Ich hab' aber niemanden, der mich unterstützt. Ich habe einen Bruder und Schwestern. Keiner von ihnen hat Arbeit. Meinen Bruder hat die AKP bei der Stadtverwaltung entlassen und ihre eigenen Leute eingestellt. Die AKP hat alles ruiniert, genauer gesagt Erdoğan."
    Die HDP wird bei der Parlamentswahl das Zünglein an der Waage sein. Schafft sie die Zehn-Prozent-Hürde, verliert die AKP aller Wahrscheinlichkeit nach die absolute Mehrheit. Dementsprechend motiviert sind die HDP-Wahlkämpfer: Aus den Boxen vor dem kleinen Wahlkampfbüro an einer Straßenecke in Diyarbakir dröhnt kämpferische Musik: "Wir vereinen uns, um sie zu besiegen. Auf zur HDP", heißt es im Text. Wahlkampfhelfer stehen auf der Terrasse und trinken Tee.
    Die Polizei war gleich zur Eröffnung des Büros da, erzählen Parteimitglieder, hat sie nach drinnen gedrängt. Der Ton sei sehr rüde gewesen. Sie fühlen sich schikaniert. Semra Güzel ist eine der Kandidatinnen der Parlamentswahl. Zusammen mit einem jungen Wahlkampfhelfer macht sich die 34-Jährige auf zum Straßenwahlkampf. Schon nach ein paar Metern läuft ihnen ein junger Mann mit Baseball-Mütze in die Arme.
    Schnell ist klar, er ist eigentlich AKP-Wähler, lässt sich aber auf eine Diskussion ein. Es geht um die Bildungspolitik, ein großes Thema im Wahlkampf. Die öffentlichen Schulen und Unis seien zu schlecht, der Unterricht zu religiös ausgerichtet, so die Kritik. Wirklich überzeugen kann Semra Güzel den jungen AKP-Wähler nicht, dies Mal sein Kreuz bei der HDP zu machen.
    In solchen Fällen könnte sie Selahattin Demirtas brauchen. Der Präsidentschaftskandidat der HDP sitzt im Gefängnis, kann nicht wirklich Wahlkampf führen.
    "Das ist ein ungerechter Wahlkampf, die anderen Kandidaten sind frei, Demirtaş ist im Gefängnis. Aber ich bin überzeugt, dass sich Demirtaş auch aus dem Gefängnis raus ganz gut auf die Wahlen vorbereitet. Seine Präsenz und Kandidatur allein wecken in der Bevölkerung Hoffnung. Und solange Hoffnung da ist, ist auch der Glaube an einen Wahlerfolg da."
    Als Semra Güzel mit ihrem Wahlhelfer später zum Wahlbüro zurückkommt, tanzen junge Leute davor – traditionell kurdisch im Kreis sich an den Händen haltend. Sie sind voller Hoffnung – so ganz anders, als Zozan, die junge arbeitslose Frau aus Sur. Die 24-Jährige wirkt oft müde - und verbittert, wenn es um die Regierung geht. Natürlich wird sie wählen gehen. Aber Hoffnung, dass sich danach was ändert, hat sie nicht:
    "Ja, wenn Erdoğan verliert, würde sich alles ändern. Aber solange Erdoğan im Amt ist, wird sich gar nichts ändern. Er wird seine eigenen Leute versorgen und die Syrer. Den Syrern geht's im Moment besser als uns. Im Fernsehen, da geht’s ständig um Hilfe für die Syrer. Ich habe nicht gesehen, dass sie auch was für die Kurden tun." Zumindest hat die AKP extra Fernseh-Wahlspots für Kurden produziert. Sie ist sich der Bedeutung dieser Stimmen bewusst.
    Rize - Die Heimat der Erdogans
    Die Provinz Rize liegt ganz im Nordosten der Türkei am Schwarzen Meer kurz vor der Grenze zu Georgien. Die Menschen dort haben es nicht leicht, sie gelten als die Ostfriesen der Türkei. Der Vater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan kommt aus Rize. Erdoğan selbst verbrachte dort einen Teil seiner Jugend, in Güneysu, nur wenige Kilometer von der Provinzhauptstadt Rize entfernt: Überall hängen dort Plakate, die Staatspräsident Erdoğan als den starken Führer einer großen Türkei preisen. Der Lautsprechwagen von Erdoğans Partei AKP kurvt durch den 15.000-Einwohner-Ort.
    In Güneysu gibt es einen Recep-Tayyip-Erdoğan-Park, eine Fakultät der Recep-Tayyip-Erdoğan-Universität, ein Krankenhaus, das nach Erdoğans Mutter Tenzile benannt ist, und eine Schule, die den Namen von Erdoğans Vater Ahmet trägt. Der junge Recep half in den Ferien bei der Tee-Ernte. Im Schatten gegenüber einer Baustelle sitzt der 70-jährige Mustafa Erkekoglu. Er erinnert sich noch gut an den kleinen Tayyip:
    "Er war genau wie er jetzt ist. Er war schon als Kind sehr klug. Er stammt von hier, die Leute hier lieben ihn, denn er ist unser eigenes Kind, er ist unser Sohn. Unsere Liebe für ihn ist grenzenlos. Er ist nicht nur ein Führer für die Türkei, er ist ein Führer der ganzen Welt und ein Führer des Islam."
    Nahaufnahme des türkischen Präsidenten Erdogan vor türkischer Flagge. 
    Präsident Erdogan verbrachte einen Teil seiner Jugend in der Provinz Rize. (PA/dpa/TASS/Metzel)
    Am Rande des Dorfplatzes langweilen sich die Taxifahrer. Klar werde er Erdoğan wählen, sagt der 35-jährige Askin, schließlich komme der doch von hier. Aber: "Ich werde dieses Mal die AKP nicht wählen, obwohl ich selbst einmal in der AKP-Jugend war. Denn die Partei hat sich abgenutzt, sie missbraucht ihre Macht und begeht Fehler."
    Er wolle der AKP einen Denkzettel verpassen und dieses Mal die rechtsradikale MHP wählen. Das kann der AKP nicht gefallen, denken wir und wollen nachfragen, was man in der örtlichen Parteizentrale dazu sagt. Doch bevor wir überhaupt unsere Frage stellen können, werden wir scharf angegangen, weil wir Deutsche sind und Deutschland verhindern wolle, dass die Türkei wirtschaftlich stark und politisch mächtig werde.
    "Macht hier keine Propaganda, stoppt sofort die Aufnahme."
    Hier will man ganz offensichtlich nicht mit uns sprechen. Also fahren wir einige Kilometer weiter, nach Findikli. Die Kleinstadt hat beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr als einzige weit und breit gegen Erdogan gestimmt.
    Die Wut auf die Regierung dauert an
    Familie Aksöy betreibt in Findikli eine Eisdiele. Viel Geld verdienen die Aksöys damit nicht, denn die Sommer an der Schwarzmeerküste sind kurz. Sie haben viele Stammgäste, sagt Sükrü Aksöy, aber selten so hohen Besuch wie in diesem Wahlkampf. Der AKP-Parlamentsabgeordnete für den Wahlkreis, Hayati Yazici, immerhin ein ehemaliger Minister und stellvertretender Ministerpräsident, war nach Findikli gekommen. In seinem Gefolge unter anderem der AKP-Bürgermeister. Der Abgeordnete schüttelte Hände und fragte die Leute, wie es ihnen geht. Auch Eisdielenbesitzer Sükrü Aksöy:
    "Ich habe ehrlich geantwortet und gesagt, es geht uns nicht gut. Das wollten sie wohl nicht hören, denn es wurde plötzlich still. Eine lange und bedrohliche Stille. Wir haben uns angeschaut – der Abgeordnete und ich. Er hat nichts gesagt, ich habe nichts gesagt. Das hat mich beunruhigt."
    Jahrelang mussten die Menschen in Findkli um ihre Existenz fürchten. Ein staatliches Staudammprojekt drohte, die einzigartige Natur zu zerstören und ihnen damit einen Teil ihrer Lebensgrundlage zu entziehen. Im Moment ist das Projekt gestoppt, aber die Wut auf die Regierung dauert an, auch bei Sükrü Aksoy:
    "Ich versuchte, das Gespräch weiter zu führen und fragte ihn:'Dachten Sie denn, es geht uns gut?' Wieder diese Stille. Dann brach es aus dem Bürgermeister heraus. Er schrie mich an, was mir denn einfiele, mit dem Abgeordneten dermaßen respektlos zu reden. Ich sei unverschämt."
    Eisdielenbesitzer Sükrü Aksöy war klar, dass dieser Vorfall Folgen haben würde. Kaum waren die Politiker weitergezogen, kam das Ordnungsamt: "Sie forderten meine Frau auf, dass wir die Stühle vor dem Cafe wegräumen. Meine Frau hat dann gesagt, 'okay aber nur wenn alle anderen Läden ihre Stühle auch wegräumen'." Doch die Gäste standen einfach nicht auf. Im Gegenteil. Sie blieben bis Mitternacht vor der Eisdiele sitzen und taten das auch am nächsten und am übernächsten Tag.
    Sükrü Aksöy lächelt verschmitzt, wenn er das erzählt. Am Sonntag wird er seine Stimme diesem Kandidaten ganz gewiss nicht geben. Aber es bieten sich ja schließlich auch andere an: Die Republikanische Volkspartei CHP wirbt in Findikli gerade lautstark für ihren Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince. Der bringe die Gerechtigkeit zurück, heißt der Slogan und das meint auch eine ältere Frau auf der Straße: "Muharrem Inces Mutter kommt von hier. Er ist mein Verwandter, ich heiße auch Ince, genau wie er. Ich bin die Schwiegertochter der Inces."
    Saltuk Deniz, der Provinzvorsitzende der CHP in Rize, sagt, die Herkunft der Kandidaten spiele für die Menschen in dieser konservativen Region eine große Rolle. Davon hätten bisher AKP und Erdoğan profitiert. Jetzt, wo die Mutter des CHP-Kandidaten aber auch aus der Region stamme, würden die Karten neu gemischt: "Muharrem Ince wird von unseren Leuten geliebt und das nimmt zu. Und je größer die Sympathie für Ince, desto geringer wird sie gegenüber Erdoğan."