Peter Kapern: Heute vor 75 Jahren sind deutsche Truppen über die Sowjetunion hergefallen. Mindestens 27 Millionen Sowjetbürger haben diesen Überfall mit dem Leben bezahlt. Kein anderes Land hatte im Zweiten Weltkrieg einen höheren Blutzoll zu entrichten. In Russland wird dieser 22. Juni als Kriegsbeginn bezeichnet, womit der Überfall russischer Truppen auf Polen zwei Jahre zuvor nach einer teuflischen Kumpanei mit Hitler mehr oder minder elegant unterschlagen wird. Die Gedenkfeiern in Moskau haben bereits in der vergangenen Nacht begonnen.
Die umstrittene Geschichte dieses Krieges ist in Russland also noch immer nicht vollständig erzählt. Ein Beispiel der umstrittene Befehl 227. "Kein Schritt zurück", so lautete er und verbot den Soldaten der Roten Armee, selbst in ausweglosen Situationen zurückzuweichen. Eine Thematisierung dieses Verheizens der eigenen Soldaten ist bis heute nicht möglich. Das beklagt der 35-jährige russische Schriftsteller und Journalist Sergej Lebedew. Sabine Adler hat mit ihm gesprochen.
Sabine Adler: Sergej Lebedew, Sie werfen ihren Landsleuten vor, die Geschichte zu hassen und mit ihr umzugehen wie Stalin, also Unliebsames auszuradieren, zu verfälschen.
Sergej Lebedew: Ich benutzte ein Zitat von Alexander Jakowlew, einer der Vordenker der Perestroika, der sagte, dass wir mit den Stalin-Verbrechen auf Stalins Art und Weise umgehen. Die Leute wollen sich nicht an die schmerzliche Geschichte erinnern, was normal ist. Aber man muss sie dazu zwingen, weil das eine Art Therapie ist. Wer sich nicht mit seiner Schuld oder der anderer auseinandersetzt, macht sich selbst schuldig, weil er mit Geschichte umgeht wie Stalin.
"Es gibt zwei Hauptschuldige"
Adler: Würden Sie sagen, dass das die Schuld der Wissenschaftler, der Historiker ist?
Lebedew: Meiner Meinung nach gibt es zwei Hauptschuldige: Zuerst sind das die Juristen. Die Juristen hätten Verbrechen des Regimes und Einzelner dokumentieren müssen. Außerdem sind die Künstler schuld. Es fehlen die großen Werke, Romane, Filme. Den Krieg im 19. Jahrhundert wird man immer mit "Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi verbinden. Aber es gibt nicht dieses eine große Kunstwerk, das uns auf eine bestimmte Art und Weise auf die sozialistische Vergangenheit schauen lässt.
Adler: Aber es gab doch eine ganze Reihe von Büchern und Filmen über den Zweiten Weltkrieg?
Lebedew: Das war doch alles sozialistischer Realismus, mit Ausnahme von Wassili Grossman, und sogar er tappte in eine Falle. Seine Arbeiten waren metaphysisch, seine Sprache aber war die eines sowjetischen Journalisten. Der Roman "Leben und Schicksal" war ein großer Versuch, aber kein großer Roman. Zu Sowjetzeiten war ein wirklich großer Roman über den Großen Vaterländischen Krieg nicht möglich, denn die Wahrheit durfte nicht geschrieben werden. Das kann man heute nicht mehr nachholen. Was man heute machen kann, ist zu zeigen, wie diese ganzen Mythen über den Zweiten Weltkrieg heute benutzt werden.
Adler: Welche Themen müssen Ihrer Meinung nach unbedingt von den Historikern, Künstlern aufgegriffen werden, welche Geschichte muss geschrieben werden? Ist es die des früheren Geheimdienstes KGB, oder sind es die Kriege in Afghanistan und Tschetschenien?
Lebedew: Wir haben es mit einem 70-jährigen Schweigen zu tun. Wenn überhaupt über irgendetwas gesprochen wurde, dann war es nur zur Hälfte oder noch weniger wahr. Wir haben es mit einer total verfälschten Geschichte zu tun! Es ist jetzt nicht mehr möglich, sich damit noch einmal zu befassen. Unsere Geschichte ist in einem Schwarzen Loch verschwunden. Man kann jetzt nicht einzelne mehr oder weniger wichtige Ereignisse herausheben und nachträglich darstellen. Jetzt wird diese verloren gegangene, nicht geschriebene Geschichte selbst zum Thema.
Adler: Sie schildern in Ihren Büchern, wie schwer man mitunter nur zwischen Tätern und Opfern unterscheiden kann.
Lebedew: Ich habe in meinem Roman "Menschen im August" den Beginn der 1990er-Jahre dargestellt, als sich so gut wie jeder eine neue Biografie, eine neue Identität zugelegt hat. Aber alle hatten eine sowjetische Vergangenheit. Wie Achmed Kadyrow. Der spätere Präsident Tschetscheniens, der erst gegen Moskaus Truppen kämpfte und sich dann auf die Seite des Kreml schlug. Er tat Anfang der 1990er-Jahre so, als sei er immer Mufti in Tschetschenien gewesen. Wenn man in die Sowjetgeschichte zurückgeht - und als Ex-Journalist tue ich das immer wieder -, dann weiß man, dass es damals nur eine einzige Ausbildungsstätte für Muftis gab, und die stand unter strengster Überwachung des KGB.
Keine Aufarbeitung nach Zerfall der UdSSR
Adler: Einige Historiker meinen, dass man mit einer echten Geschichtsschreibung erst nach dem Zerfall der UdSSR habe beginnen können und seitdem nie richtig Zeit dafür gewesen sei. Wie sehr kommt das dem Wunsch der heutigen Führung Russlands entgegen, sich lieber nicht so eingehend mit den dunklen Kapiteln der Geschichte zu befassen?
Lebedew: Gute Frage. Dass es nicht Anfang der 1990er-Jahre losging, lag an der weitverbreiteten Angst vor der Zukunft. Und man kann nicht zugleich in die Zukunft und Vergangenheit blicken. Und zu Jelzins Zeiten kam die Angst vor Krieg. Und wieder musste die Geschichte zurückstecken.
Adler: Gibt es in Russland das Verständnis von individueller Schuld?
Lebedew: Das ist absolut nicht verbreitet, zumal das ja auch eine juristische Frage ist. Und da sind wir auch noch lange nicht, denn es findet keinerlei Diskussion über Schuld statt. Stattdessen heißt es: Keiner ist schuld. Oder aber: Stalin und Berija sind schuld. Schon Chruschtschow hat diese beiden Leichen benutzt. Nicht ein einziger, der zu Sowjetzeiten Unschuldige verhaftet oder erschossen hat, gestand öffentlich seine Schuld ein oder bat um Vergebung. Alle anderen haben nichts getan, nur gelitten.
Adler: Nehmen wir die Ereignisse in der Ukraine. Hat sich dort gerächt, dass sich keiner mit der Geschichte der Ukraine ernsthaft auseinandergesetzt hat?
Lebedew: Dieser Wahnsinn und der Erfolg der russischen Propaganda wären mit fundierten Geschichtskenntnissen unmöglich gewesen. Unsere postsowjetische Gesellschaft hat bis heute nicht verstanden, dass Russland agiert wie ein Kolonialist, dass die Russische Föderation mit Methoden wie in der UdSSR zusammengezwungen wird und man nicht anerkennt, dass keine der Republiken freiwillig in diesem Verbund ist. Diese russische Geschichte ist überhaupt noch nicht geschrieben.
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