Sie bestand aus zwei großen Geschehensabläufen: zum einen aus den Fährnissen des Überlebens für einen polnisch-jüdischen Jungen, dessen Eltern in Auschwitz verschwanden, zum anderen aus dem Grenzverkehr eines nach Israel Eingewanderten zwischen dem jüdischen und dem christlichen Glauben mit allen Arten des Daseins zwischen den Stühlen. Das Porträt dieses faszinierenden Mannes ist in einigen Sachbüchern dokumentarisch nachgezeichnet. Ljudmila Ulitzkaja machte aus ihm eine Romanfigur. Und sie schließt damit an jene jüdisch-christlichen Figuren an, die in einigen ihrer früheren Bücher mit der Mitwelt und mit dem Glauben kämpfen. Woher diese Treue zum Thema, zu dieser schwierigen Zone?
"Das ist natürlich auch meine ganz persönliche Geschichte. Ich bin gebürtige Jüdin und zugleich Christin, eine sehr komplizierte Situation, in der ich mich nicht unbedingt sehr sicher fühle. Diese Unsicherheit führt offenbar dazu, dass ich immer wieder zu diesem Thema zurückkehre. Dieser Konflikt lebt in mir selbst, aber ich muss sagen, dass ich mich inzwischen durchaus wohl damit fühle."
"Mein Urgroßvater war noch ein richtiger gläubiger Jude, der die Thora las. Er wurde 93 Jahre alt und ich kann mich noch sehr gut an ihn erinnern - ein uralter Mann, der stets mit einem Buch auf dem Schoß dasaß und immerzu darin gelesen hat. Meine Eltern waren Atheisten, wie die meisten ihrer Generation. Nach der Revolution geboren, wurden sie eher Komsomolzen, mein Vater war nach dem Krieg sogar einige Zeit Parteimitglied. - Ich gehörte zu jener Schicht der jüdischen technischen Intelligenz, die atheistisch erzogen war und ihr Judentum immer nur als Belastung empfunden hat. Das Land war ja insgesamt sehr antisemitisch eingestellt. Ich kann mich noch sehr gut an die stalinschen Schauprozesse von 1953 gegen die jüdischen Ärzte erinnern, auch wenn ich damals erst zehn Jahre alt war, denn meiner Mutter wurde damals zum Beispiel auch gekündigt. ... Für mich war es eine Unbequemlichkeit im Leben, für die ich nichts konnte - ja, ich bin Jüdin, pardon, aber daran bin ich nicht schuld. Es musste viel Zeit vergehen und ich musste sehr viel Lebenserfahrung sammeln um zu begreifen, dass hinter alldem ein riesiges Problem steckt, dass der Antisemitismus in Russland nichts anderes ist als eine Form von Fremdenfeindlichkeit, die nichts spezifisch russisches ist, sondern alle Menschen betrifft. ...
Daher war das jüdische Thema für mich ein innerer Impuls, durch den ich zu globalere Fragen vorgestoßen bin als meiner eigenen schwierigen Situation als Jüdin in dieser Welt. Im übrigen hat mir persönlich meine jüdische Herkunft nie geschadet - ich konnte studieren, meinen Doktor machen, bekam einen sehr guten Arbeitsplatz. Aber eines hatten mir schon meine Eltern beigebracht: als Jüdin musst du immer besser sein als die anderen, dir reicht nicht die 1, du brauchst eine 1 plus. Das ist wahrscheinlich mit ein Grund, warum es die Vorurteile gegen Juden gibt, sie seine immer so übereifrig und würden immer ganz vorn sein wollen. Jedes jüdische Kind weiß von Kindheit an, dass es große Schwierigkeiten im Leben überwinden muss, dass es immer die doppelte Kraftanstrengung braucht, um den gleichen Platz im Leben zu erreichen wie sein Nachbar."
Im Roman ist Rufeisen zu Daniel Stein umbenannt. Die Erzählerin nimmt sich, was die Zentralfigur betrifft, kaum künstlerische Freiheiten. Sie folgt der verbürgten biographischen Fährte durch die Schrecknisse der Nazizeit und der sowjetischen Herrschaft über Polen, den Fluchten, der Verzweiflung, den jähen Zufällen und glücklichen Wendungen.
Daniel Stein ist 19, auf der Flucht, in Weißrussland kommt er nach einigen anderen Stationen mit einem unverfänglichen Schülerausweis zur Gestapo. Er spricht Polnisch ohne Akzent und Deutsch wie seine Muttersprache.
"Man hatte immer den Verdacht, dass er ein Jude war. Zunächst hat er ja als Dolmetscher bei der weißrussischen Polizei gearbeitet. Und die Frau des Polizisten, in dessen Haus er wohnte, sagte gleich, als sie ihn zum ersten Mal sah: Wen hast du denn da angeschleppt, das ist doch ein Jude! Dazu gibt es eine hübsche Geschichte: als Schüler war er mit dem Sohn eines polnischen Offiziers in einer Klasse, der einen Reitstall besaß und allen Mitschülern seines Sohnes das Reiten beibrachte. Dadurch war Daniel ein hervorragender Reiter. Und als sie zum ersten Mal in die Stadt Mir reiten mussten, saß er so gut im Sattel, dass der weißrussische Polizist hinterher zu seiner Frau sagte: du spinnst doch, hast du schon mal einen Juden so gut reiten sehen? Er ist Pole."
"Den Verdacht, dass er ein Jude sein könnte gab es immer, aber er war immer so selbstbewusst, natürlich und souverän, dass dieser Verdacht weggewischt wurde."
Daniel Stein nutzt seine Kenntnisse, die er bei den Deutschen aufschnappt, um Juden zu retten. Als die Räumung eines Ghettos bevorsteht und Massenerschießungen beabsichtigt sind, verrät er die Pläne an die Häftlinge, so dass sich viele von ihnen in die Wälder retten können. Er wird selbst verraten: sein Chef, der Gestapomann Reinhold, ist fassungslos über seinen Gehilfen Stein und empfindet das Versteckspiel als Treuebruch.
"Sein Vorgesetzter war ein Österreicher, ein Polizist aus Wien, der natürlich in der NSDAP war, aber er war kein blutrünstiger Mensch und auch kein besonders überzeugter Nazi. Als diese Geschichte passierte, war er selbst erschüttert, dass der Junge, den er sehr mochte und dem er vertraute ihn so verraten haben und den Juden zur Flucht verholfen haben soll, und er sagte zu ihm: es wird behauptet, du seiest ein Jude, stimmt das? Und als Daniel ‚Ja' sagte, fasste er sich an den Kopf, das hatte er nicht erwartet."
"Er gab ihm die Chance zur Flucht. Das erste, was Daniel sagte, als er enttarnt war: Wenn du mich so magst, dann gib mir eine Pistole, ich erschieße mich auf der Stelle. - Der aber lehnte nicht nur ab, ihm eine Pistole zu geben, sondern brachte ihn in ein anderes Zimmer und schloss die Tür nicht ab und gab ihm somit zu verstehen, dass er nichts dagegen hat, wenn Daniel flieht, das war so eine stumme Vereinbarung."
Stein irrt umher, hört in der Ferne Schüsse: die Massenmorde an den im Ghetto Verbliebenen haben begonnen. Er rettet sich ins katholische Nonnenkloster, wo er versteckt wird. Nach wenigen Tagen lässt er sich taufen. Eine innere Wandlung hat stattgefunden.
"Er durchlebte eine schwere Krise in jener Nacht, als er vor den Deutschen in den Wald geflohen war, sich dort versteckt hielt und mit anhören musste wie man alle Juden erschoss, die nicht aus dem Ghetto geflohen waren. Dies war der Moment seines tiefen Zerwürfnisses mit Gott - wenn Gott dies zulassen konnte, dann ist er nicht mein Gott. Da kam ihm der Gedanke, dass Gott nur mit denen sein kann, die man erschossen hatte, den Leidenden. Und in diesem Moment schien ihm die Idee des leidenden Gottes die einzig mögliche, um sich irgendwie mit ihm zu versöhnen. Und der leidende Gott ist Jesus, und so kam es zu seiner Bekehrung zu Jesus."
Es ist, alles in allem, Hiobs Klage, die von ihm fortgesetzt wird.
Das Kloster bietet keinen definitiven Schutz. So muss er erneut fliehen: diesmal zu den Partisanen im Schwarzen Wald.
"Als er zu den Partisanen kam, wurde er von ihnen sofort zum Tode verurteilt. Und da passierte das nächste Wunder - genau in dem Moment, als er erschossen werden sollte, kam der Arzt an, der alle behandelte, auch die Partisanen, er war Jude und bezeugte, dass Daniel Stein es war, der den Juden geholfen hatte, aus dem Ghetto zu fliehen und dass er als Dolmetscher bei den Deutschen so vielen Menschen geholfen hatte, wie es nur ging. Er stellte sich als Geisel zur Verfügung - man könne ihn erschießen, wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht stimmt. So wurde Daniel Stein gerettet, obwohl der Erschießungsbefehl schon unterschrieben war."
Später musste er, um erneut sein Leben zu retten, zeitweilig für den NKWD arbeiten. Nach dem Krieg ließ er sich zum katholischen Priester ausbilden und praktizierte rund anderthalb Jahrzehnte in Sichtweite seines Bekannten Karol Woytila; Stein ging wegen des polnischen Antisemitismus nach Israel, wo er gegen alle Anfechtungen als Karmeliter eine katholische Gemeinde bei Haifa aufbaute. 1998 ist er gestorben.
Die biographischen Ereignisse und die geistige Kontur Daniel Rufeisens hat Ljudmila Ulitzkaja dokumentarisch eingesetzt. Am Umriss dieser ebenso kühnen wie demütigen Natur und am "Material" aus der Geschichte hat sie kaum etwas verändert. Daniel Stein ist jene historisch gesicherte, unverwechselbare Person, die den Mördern entkam, nach Selbstbestimmung und Freiheit im Glauben suchte, die religiöse Irredenta verkörperte und das Gegenbild des Fanatikers abgibt.
"Ich denke, diese Form der Literatur entsteht besonders deshalb, weil die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts so dramatisch, so prall und teilweise so unfasslich ist, dass die künstlerische Phantasie hinter der Realität zurückbleibt."
"Die meisten dieser Geschichten sind furchtbar grausam, quälend und schmerzhaft. Hinzu kommt, dass es Christen in Israel nicht gerade leicht haben, darum musste ich weniger die Biographie von Daniel Rufeisen ändern, sondern eher sein Umfeld. Ausgedacht habe ich mir vor allem die Menschen, die ihn umgaben, ihre Biographien musste ich ändern. Nicht, weil meine ausgedachten Geschichten besser wären als die realen, sondern weil ich Rücksicht auf noch lebende Personen nehmen musste."
Seine Lebensgeschichte wird nicht chronologisch erzählt: sie ergibt sich, im Kreuz und Quer der Zeiten, vor allem aus den zersplitterten Erinnerungen jener vielen, die seinen Weg gekreuzt haben oder die eine Wegstrecke mit ihm gegangen sind. So entsteht ein Gewebe aus Angst und Verzweiflung, Überlebens- und Untergangsgeschichten, Glaube, Liebe, Hoffnung und Verzweiflung, Gottessehnsucht und Weltvertrauen.
Drei Dutzend Briefschreiber, Diaristen, Gesprächspartner umlagern diesen Daniel Stein. Sie bilden eine verzankte und hingebungsvolle Gemeinschaft der Irrenden und Suchenden, die übriggeblieben sind von den Schlachtfeldern der Unmenschlichkeit, der mörderischen Pogrome, des Krieges und der Lager. Es ist eine Kollektivbiographie, die seine streift und berührt, von ihr weg- und wieder zu ihr hinführt. Vor allem bei diesem Umfeld hat sich die Erzählerin die Freiheit der Erfindung gegönnt. Die große Kunst Ljudmila Ulitzkajas besteht darin, in ihren Romanen viele Figuren miteinander zu verknüpfen. Sie ist eine epische Familienstifterin. Und diese Kraft zur Polyphonie erweist sich auch wiederum in dem neuen Roman, auch wenn bei einem solch mächtigen Aufgebot an Stimmen Verwechslungen nicht auszuschließen sind. Eine ins Buch eingelegte Namensliste orientiert notdürftig über die Namen, kann jedoch dieses Stimmendickicht nicht ganz lichten. Die Figuren bilden mit ihren Verzweiflungen, ihren Fluchten und ihrer Suche nach einer sie erlösenden Spiritualität eine Art menschlicher Enzyklopädie der Entwurzelung. Aus dem sowjetischen Arbeitslager schreibt 1972 ein jüdischer Häftling. Später wird er nur noch mit Gebetbuch und Maschinenpistole als fanatischer israelischer Siedler herumlaufen; er gehört zu jenem Umfeld, das für das mörderische Attentat auf Jitzak Rabin mit verantwortlich war. Eine Frau hat als Neugeborenes die Kälte und eine Erdhütte in einem abgetrennten Mantelärmel überlebt. Sie hasst ihre Mutter, die auch nach zehn Jahren Lagerhaft noch immer glühende Kommunistin ist und noch von Israel aus versucht, wieder in die Partei aufgenommen zu werden, aber keinen Funken Mutterliebe aufbringt. Eine Deutsche will das Unrecht ihrer Landsleute sühnen, geht nach Israel und verliebt sich in einen verheirateten Araber. Der ist Christ und weiß um die Symmetrie der Unmenschlichkeit, dass nämlich die Juden und die Araber zum gleichen Gott um die Vernichtung der anderen beten.
Es fällt nicht schwer, einen solchen Roman, der halb in der Dokumentarliteratur steckt, zu kritisieren. Es fehlt ihm vor allem der gebrochene Held. Daniel Stein ist von Anfang an eine Figur über allen Untiefen des Irrtums. Aber dennoch weist der Stoff über solche Einwände hinaus. Das Buch setzt sich gegen ästhetische Vorbehalte durch. Es wirkt als eine Art Palimpsest des Glaubens und des Vertrauens eines beispielgebenden Einzelnen zwischen den ehernen Zeilen, die die Zeitgeschichte schreibt.
"Daniel Stein hat allein durch seine Biographie einen Wust ungelöster, verdrängter und äußerst unbequemer Fragen aufgeworfen. Über den Wert des Lebens, der mit Füßen getreten wird, über die Freiheit, die kaum jemand braucht, über Gott, der in unserem Leben immer weniger gegenwärtig ist, über die Bemühungen, Gott herauszufiltern aus veralteten Worten, aus dem ganzen kirchlichen Müll und aus dem nur auf sich selbst fixierten Alltag."
Er benötigt für seinen Glauben und seine Gemeinde Stella Maris bei Haifa keine Orthodoxie und keine Kirche: Er habe, meint er, sein "halbes Leben unter Menschen verbracht, die Gott in Büchern und Ritualen suchten, die von den Menschen selbst erfunden wurden. Dabei kann man Ihm überall begegnen. In der orthodoxen Kirche, in der Liturgie, am Ufer eines Flusses, im Krankenhaus oder im Kuhstall. Am ehesten aber in seiner eigenen Seele."
Ein Mann ohne bestimmten Ort: als Jude in Polen wie seine Eltern zur Vernichtung bestimmt, als jüdischer Katholik verdächtig und erst recht als ehemaliger Mitarbeiter des NKWD, in Israel auf Grund eines obersten Gerichtsurteils ohne jüdisches Geburtsrecht, nur eben eingebürgert.
Der Mann, der gar nicht aussieht wie ein Priester, sondern "wie ein Gärtner oder ein Marktverkäufer", betätigt sich im jüdischen Staat als eine Art Sozialarbeiter und als Fremdenführer; er kümmert sich um die Armen und die Entwurzelten aus Osteuropa; sein Gottesdienst, den er auf Hebräisch abhält, ist für die displaced persons. Er hat sich eine "feuerspeiende Vielfalt mitten im Herzen des aktiven, sich selbst genügenden Judentums" bewahrt.
Als jüdischer Katholik, der sich auf das Urchristentum beruft, ist er auch dem Vatikan verdächtig. Er hält es für eine offene Wunde, dass der griechische und römische Einfluss die jüdische Vergangenheit des christlichen Glaubens ausgemerzt hat. Daniel Stein wird von Papst Johannes Paul II, der als Karol Woytila im gleichen polnischen Sprengel Priester war, in Rom zu einem Gespräch empfangen. Stein hält ihm entgegen, die Kirche habe die Juden "über Bord geworfen" und er als Mönch und Sozialarbeiter in Israel wolle an die Urkirche, die er die "Mutterkirche" nennt, wieder anknüpfen. Am Schluss ist er ein Gescheiterter oder wenigstens ein Besiegter. Die Erzählerin im Roman:
"Sein konkretes Vorhaben - die Wiederherstellung der Kirche des Jakobus im Heiligen Land - hielt sich nur, solange er dort lebte und arbeitete, Jeschua in dessen Muttersprache pries und das individuelle ‚kleine Christentum' predigte, eine Religion der Barmherzigkeit und der Liebe zu Gott und dem Nächsten, keine Religion der Dogmen und der Macht, der Herrschaft und des Totalitarismus. Daniel selbst ist die einzige Brücke zwischen jüdischem und christlichem Glauben gewesen, und seit seinem Tod gibt es keine Brücke mehr. Das empfand ich als traurige Niederlage."
Von Johannes Paul kommt kein richtiger Einspruch, aber am Ende seines Lebens erhält Daniel Stein aus dem Vatikan ein Schreiben, in dem ihm untersagt wird, weiterhin Gottesdienst abzuhalten. Das ist die Version im Roman.
"Bei mir kommt er bei einem Autounfall ums Leben, und zwar in dem Moment, als ihn zuhause ein Brief erwartet, dass ihm die päpstliche Glaubenskongregation weitere Gottesdienste untersagt. Das habe ich mir ausgedacht, worüber ich dann sehr glücklich war. -
Als das Buch schon fertig war, bin ich wieder einmal nach Israel gefahren und habe dort jenen Mann getroffen, der Daniels Nachfolger als katholischer Priester wurde, ein sympathischer junger Italiener, mit dem ich mich sehr schön unterhalten konnte. Irgendwann meinte er, Daniel sei wahrscheinlich zur rechten Zeit gestorben, denn kurz darauf sei ja jener Brief gekommen. Ich fragte ihn, was für ein Brief, und er erzählte mir, dass anderthalb Monate nach Daniels Tod von der Glaubenskongregation das Verbot für ihn gekommen sei, weiter als Priester tätig zu sein. Ich hatte mir also etwas ausgedacht, das tatsächlich so passiert war. Ich war natürlich sehr froh darüber, denn wenn meine Phantasie mit der Realität übereinstimmte, dann war mit dem Buch offenbar alles in Ordnung."
Stammt dieser Brief vielleicht gar vom damaligen Präfekt der Glaubenskongregation, dem Kardinal Joseph Ratzinger? Er war immerhin im Todesjahr Rufeisens alias Steins in diesem einflussreichen Amt.
Fragen dieser Art führen über den Roman hinaus, aber sie weisen auf die
Aktualität dieses Buches hin. Seltsam, wie dieser Roman, der an allen möglichen Orten dieser Welt und in verwirrten wie in gläubigen Herzen spielt, in die gegenwärtige Debatte eingreift und eine argumentative Kraft entfaltet. Alle Stichworte dafür sind in ihm enthalten und ausgebreitet. Er ist ihr unbeabsichtigt vorweg geschrieben. Er wirkt wie ein Gegentext zu den Diskussionen über antisemitische Piusbrüder und ihren Rückhalt im Vatikan. Er zeigt, was wahrer Traditionalismus in der Kirche bedeuten könnte: nämlich die Rückkehr zu Wurzeln, in denen Christentum und Judentum kaum geschieden waren. Er lässt ahnen, wie sehr dieses Wissen im Vatikan inzwischen zur Häresie gerechnet wird.
"Das ist natürlich auch meine ganz persönliche Geschichte. Ich bin gebürtige Jüdin und zugleich Christin, eine sehr komplizierte Situation, in der ich mich nicht unbedingt sehr sicher fühle. Diese Unsicherheit führt offenbar dazu, dass ich immer wieder zu diesem Thema zurückkehre. Dieser Konflikt lebt in mir selbst, aber ich muss sagen, dass ich mich inzwischen durchaus wohl damit fühle."
"Mein Urgroßvater war noch ein richtiger gläubiger Jude, der die Thora las. Er wurde 93 Jahre alt und ich kann mich noch sehr gut an ihn erinnern - ein uralter Mann, der stets mit einem Buch auf dem Schoß dasaß und immerzu darin gelesen hat. Meine Eltern waren Atheisten, wie die meisten ihrer Generation. Nach der Revolution geboren, wurden sie eher Komsomolzen, mein Vater war nach dem Krieg sogar einige Zeit Parteimitglied. - Ich gehörte zu jener Schicht der jüdischen technischen Intelligenz, die atheistisch erzogen war und ihr Judentum immer nur als Belastung empfunden hat. Das Land war ja insgesamt sehr antisemitisch eingestellt. Ich kann mich noch sehr gut an die stalinschen Schauprozesse von 1953 gegen die jüdischen Ärzte erinnern, auch wenn ich damals erst zehn Jahre alt war, denn meiner Mutter wurde damals zum Beispiel auch gekündigt. ... Für mich war es eine Unbequemlichkeit im Leben, für die ich nichts konnte - ja, ich bin Jüdin, pardon, aber daran bin ich nicht schuld. Es musste viel Zeit vergehen und ich musste sehr viel Lebenserfahrung sammeln um zu begreifen, dass hinter alldem ein riesiges Problem steckt, dass der Antisemitismus in Russland nichts anderes ist als eine Form von Fremdenfeindlichkeit, die nichts spezifisch russisches ist, sondern alle Menschen betrifft. ...
Daher war das jüdische Thema für mich ein innerer Impuls, durch den ich zu globalere Fragen vorgestoßen bin als meiner eigenen schwierigen Situation als Jüdin in dieser Welt. Im übrigen hat mir persönlich meine jüdische Herkunft nie geschadet - ich konnte studieren, meinen Doktor machen, bekam einen sehr guten Arbeitsplatz. Aber eines hatten mir schon meine Eltern beigebracht: als Jüdin musst du immer besser sein als die anderen, dir reicht nicht die 1, du brauchst eine 1 plus. Das ist wahrscheinlich mit ein Grund, warum es die Vorurteile gegen Juden gibt, sie seine immer so übereifrig und würden immer ganz vorn sein wollen. Jedes jüdische Kind weiß von Kindheit an, dass es große Schwierigkeiten im Leben überwinden muss, dass es immer die doppelte Kraftanstrengung braucht, um den gleichen Platz im Leben zu erreichen wie sein Nachbar."
Im Roman ist Rufeisen zu Daniel Stein umbenannt. Die Erzählerin nimmt sich, was die Zentralfigur betrifft, kaum künstlerische Freiheiten. Sie folgt der verbürgten biographischen Fährte durch die Schrecknisse der Nazizeit und der sowjetischen Herrschaft über Polen, den Fluchten, der Verzweiflung, den jähen Zufällen und glücklichen Wendungen.
Daniel Stein ist 19, auf der Flucht, in Weißrussland kommt er nach einigen anderen Stationen mit einem unverfänglichen Schülerausweis zur Gestapo. Er spricht Polnisch ohne Akzent und Deutsch wie seine Muttersprache.
"Man hatte immer den Verdacht, dass er ein Jude war. Zunächst hat er ja als Dolmetscher bei der weißrussischen Polizei gearbeitet. Und die Frau des Polizisten, in dessen Haus er wohnte, sagte gleich, als sie ihn zum ersten Mal sah: Wen hast du denn da angeschleppt, das ist doch ein Jude! Dazu gibt es eine hübsche Geschichte: als Schüler war er mit dem Sohn eines polnischen Offiziers in einer Klasse, der einen Reitstall besaß und allen Mitschülern seines Sohnes das Reiten beibrachte. Dadurch war Daniel ein hervorragender Reiter. Und als sie zum ersten Mal in die Stadt Mir reiten mussten, saß er so gut im Sattel, dass der weißrussische Polizist hinterher zu seiner Frau sagte: du spinnst doch, hast du schon mal einen Juden so gut reiten sehen? Er ist Pole."
"Den Verdacht, dass er ein Jude sein könnte gab es immer, aber er war immer so selbstbewusst, natürlich und souverän, dass dieser Verdacht weggewischt wurde."
Daniel Stein nutzt seine Kenntnisse, die er bei den Deutschen aufschnappt, um Juden zu retten. Als die Räumung eines Ghettos bevorsteht und Massenerschießungen beabsichtigt sind, verrät er die Pläne an die Häftlinge, so dass sich viele von ihnen in die Wälder retten können. Er wird selbst verraten: sein Chef, der Gestapomann Reinhold, ist fassungslos über seinen Gehilfen Stein und empfindet das Versteckspiel als Treuebruch.
"Sein Vorgesetzter war ein Österreicher, ein Polizist aus Wien, der natürlich in der NSDAP war, aber er war kein blutrünstiger Mensch und auch kein besonders überzeugter Nazi. Als diese Geschichte passierte, war er selbst erschüttert, dass der Junge, den er sehr mochte und dem er vertraute ihn so verraten haben und den Juden zur Flucht verholfen haben soll, und er sagte zu ihm: es wird behauptet, du seiest ein Jude, stimmt das? Und als Daniel ‚Ja' sagte, fasste er sich an den Kopf, das hatte er nicht erwartet."
"Er gab ihm die Chance zur Flucht. Das erste, was Daniel sagte, als er enttarnt war: Wenn du mich so magst, dann gib mir eine Pistole, ich erschieße mich auf der Stelle. - Der aber lehnte nicht nur ab, ihm eine Pistole zu geben, sondern brachte ihn in ein anderes Zimmer und schloss die Tür nicht ab und gab ihm somit zu verstehen, dass er nichts dagegen hat, wenn Daniel flieht, das war so eine stumme Vereinbarung."
Stein irrt umher, hört in der Ferne Schüsse: die Massenmorde an den im Ghetto Verbliebenen haben begonnen. Er rettet sich ins katholische Nonnenkloster, wo er versteckt wird. Nach wenigen Tagen lässt er sich taufen. Eine innere Wandlung hat stattgefunden.
"Er durchlebte eine schwere Krise in jener Nacht, als er vor den Deutschen in den Wald geflohen war, sich dort versteckt hielt und mit anhören musste wie man alle Juden erschoss, die nicht aus dem Ghetto geflohen waren. Dies war der Moment seines tiefen Zerwürfnisses mit Gott - wenn Gott dies zulassen konnte, dann ist er nicht mein Gott. Da kam ihm der Gedanke, dass Gott nur mit denen sein kann, die man erschossen hatte, den Leidenden. Und in diesem Moment schien ihm die Idee des leidenden Gottes die einzig mögliche, um sich irgendwie mit ihm zu versöhnen. Und der leidende Gott ist Jesus, und so kam es zu seiner Bekehrung zu Jesus."
Es ist, alles in allem, Hiobs Klage, die von ihm fortgesetzt wird.
Das Kloster bietet keinen definitiven Schutz. So muss er erneut fliehen: diesmal zu den Partisanen im Schwarzen Wald.
"Als er zu den Partisanen kam, wurde er von ihnen sofort zum Tode verurteilt. Und da passierte das nächste Wunder - genau in dem Moment, als er erschossen werden sollte, kam der Arzt an, der alle behandelte, auch die Partisanen, er war Jude und bezeugte, dass Daniel Stein es war, der den Juden geholfen hatte, aus dem Ghetto zu fliehen und dass er als Dolmetscher bei den Deutschen so vielen Menschen geholfen hatte, wie es nur ging. Er stellte sich als Geisel zur Verfügung - man könne ihn erschießen, wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht stimmt. So wurde Daniel Stein gerettet, obwohl der Erschießungsbefehl schon unterschrieben war."
Später musste er, um erneut sein Leben zu retten, zeitweilig für den NKWD arbeiten. Nach dem Krieg ließ er sich zum katholischen Priester ausbilden und praktizierte rund anderthalb Jahrzehnte in Sichtweite seines Bekannten Karol Woytila; Stein ging wegen des polnischen Antisemitismus nach Israel, wo er gegen alle Anfechtungen als Karmeliter eine katholische Gemeinde bei Haifa aufbaute. 1998 ist er gestorben.
Die biographischen Ereignisse und die geistige Kontur Daniel Rufeisens hat Ljudmila Ulitzkaja dokumentarisch eingesetzt. Am Umriss dieser ebenso kühnen wie demütigen Natur und am "Material" aus der Geschichte hat sie kaum etwas verändert. Daniel Stein ist jene historisch gesicherte, unverwechselbare Person, die den Mördern entkam, nach Selbstbestimmung und Freiheit im Glauben suchte, die religiöse Irredenta verkörperte und das Gegenbild des Fanatikers abgibt.
"Ich denke, diese Form der Literatur entsteht besonders deshalb, weil die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts so dramatisch, so prall und teilweise so unfasslich ist, dass die künstlerische Phantasie hinter der Realität zurückbleibt."
"Die meisten dieser Geschichten sind furchtbar grausam, quälend und schmerzhaft. Hinzu kommt, dass es Christen in Israel nicht gerade leicht haben, darum musste ich weniger die Biographie von Daniel Rufeisen ändern, sondern eher sein Umfeld. Ausgedacht habe ich mir vor allem die Menschen, die ihn umgaben, ihre Biographien musste ich ändern. Nicht, weil meine ausgedachten Geschichten besser wären als die realen, sondern weil ich Rücksicht auf noch lebende Personen nehmen musste."
Seine Lebensgeschichte wird nicht chronologisch erzählt: sie ergibt sich, im Kreuz und Quer der Zeiten, vor allem aus den zersplitterten Erinnerungen jener vielen, die seinen Weg gekreuzt haben oder die eine Wegstrecke mit ihm gegangen sind. So entsteht ein Gewebe aus Angst und Verzweiflung, Überlebens- und Untergangsgeschichten, Glaube, Liebe, Hoffnung und Verzweiflung, Gottessehnsucht und Weltvertrauen.
Drei Dutzend Briefschreiber, Diaristen, Gesprächspartner umlagern diesen Daniel Stein. Sie bilden eine verzankte und hingebungsvolle Gemeinschaft der Irrenden und Suchenden, die übriggeblieben sind von den Schlachtfeldern der Unmenschlichkeit, der mörderischen Pogrome, des Krieges und der Lager. Es ist eine Kollektivbiographie, die seine streift und berührt, von ihr weg- und wieder zu ihr hinführt. Vor allem bei diesem Umfeld hat sich die Erzählerin die Freiheit der Erfindung gegönnt. Die große Kunst Ljudmila Ulitzkajas besteht darin, in ihren Romanen viele Figuren miteinander zu verknüpfen. Sie ist eine epische Familienstifterin. Und diese Kraft zur Polyphonie erweist sich auch wiederum in dem neuen Roman, auch wenn bei einem solch mächtigen Aufgebot an Stimmen Verwechslungen nicht auszuschließen sind. Eine ins Buch eingelegte Namensliste orientiert notdürftig über die Namen, kann jedoch dieses Stimmendickicht nicht ganz lichten. Die Figuren bilden mit ihren Verzweiflungen, ihren Fluchten und ihrer Suche nach einer sie erlösenden Spiritualität eine Art menschlicher Enzyklopädie der Entwurzelung. Aus dem sowjetischen Arbeitslager schreibt 1972 ein jüdischer Häftling. Später wird er nur noch mit Gebetbuch und Maschinenpistole als fanatischer israelischer Siedler herumlaufen; er gehört zu jenem Umfeld, das für das mörderische Attentat auf Jitzak Rabin mit verantwortlich war. Eine Frau hat als Neugeborenes die Kälte und eine Erdhütte in einem abgetrennten Mantelärmel überlebt. Sie hasst ihre Mutter, die auch nach zehn Jahren Lagerhaft noch immer glühende Kommunistin ist und noch von Israel aus versucht, wieder in die Partei aufgenommen zu werden, aber keinen Funken Mutterliebe aufbringt. Eine Deutsche will das Unrecht ihrer Landsleute sühnen, geht nach Israel und verliebt sich in einen verheirateten Araber. Der ist Christ und weiß um die Symmetrie der Unmenschlichkeit, dass nämlich die Juden und die Araber zum gleichen Gott um die Vernichtung der anderen beten.
Es fällt nicht schwer, einen solchen Roman, der halb in der Dokumentarliteratur steckt, zu kritisieren. Es fehlt ihm vor allem der gebrochene Held. Daniel Stein ist von Anfang an eine Figur über allen Untiefen des Irrtums. Aber dennoch weist der Stoff über solche Einwände hinaus. Das Buch setzt sich gegen ästhetische Vorbehalte durch. Es wirkt als eine Art Palimpsest des Glaubens und des Vertrauens eines beispielgebenden Einzelnen zwischen den ehernen Zeilen, die die Zeitgeschichte schreibt.
"Daniel Stein hat allein durch seine Biographie einen Wust ungelöster, verdrängter und äußerst unbequemer Fragen aufgeworfen. Über den Wert des Lebens, der mit Füßen getreten wird, über die Freiheit, die kaum jemand braucht, über Gott, der in unserem Leben immer weniger gegenwärtig ist, über die Bemühungen, Gott herauszufiltern aus veralteten Worten, aus dem ganzen kirchlichen Müll und aus dem nur auf sich selbst fixierten Alltag."
Er benötigt für seinen Glauben und seine Gemeinde Stella Maris bei Haifa keine Orthodoxie und keine Kirche: Er habe, meint er, sein "halbes Leben unter Menschen verbracht, die Gott in Büchern und Ritualen suchten, die von den Menschen selbst erfunden wurden. Dabei kann man Ihm überall begegnen. In der orthodoxen Kirche, in der Liturgie, am Ufer eines Flusses, im Krankenhaus oder im Kuhstall. Am ehesten aber in seiner eigenen Seele."
Ein Mann ohne bestimmten Ort: als Jude in Polen wie seine Eltern zur Vernichtung bestimmt, als jüdischer Katholik verdächtig und erst recht als ehemaliger Mitarbeiter des NKWD, in Israel auf Grund eines obersten Gerichtsurteils ohne jüdisches Geburtsrecht, nur eben eingebürgert.
Der Mann, der gar nicht aussieht wie ein Priester, sondern "wie ein Gärtner oder ein Marktverkäufer", betätigt sich im jüdischen Staat als eine Art Sozialarbeiter und als Fremdenführer; er kümmert sich um die Armen und die Entwurzelten aus Osteuropa; sein Gottesdienst, den er auf Hebräisch abhält, ist für die displaced persons. Er hat sich eine "feuerspeiende Vielfalt mitten im Herzen des aktiven, sich selbst genügenden Judentums" bewahrt.
Als jüdischer Katholik, der sich auf das Urchristentum beruft, ist er auch dem Vatikan verdächtig. Er hält es für eine offene Wunde, dass der griechische und römische Einfluss die jüdische Vergangenheit des christlichen Glaubens ausgemerzt hat. Daniel Stein wird von Papst Johannes Paul II, der als Karol Woytila im gleichen polnischen Sprengel Priester war, in Rom zu einem Gespräch empfangen. Stein hält ihm entgegen, die Kirche habe die Juden "über Bord geworfen" und er als Mönch und Sozialarbeiter in Israel wolle an die Urkirche, die er die "Mutterkirche" nennt, wieder anknüpfen. Am Schluss ist er ein Gescheiterter oder wenigstens ein Besiegter. Die Erzählerin im Roman:
"Sein konkretes Vorhaben - die Wiederherstellung der Kirche des Jakobus im Heiligen Land - hielt sich nur, solange er dort lebte und arbeitete, Jeschua in dessen Muttersprache pries und das individuelle ‚kleine Christentum' predigte, eine Religion der Barmherzigkeit und der Liebe zu Gott und dem Nächsten, keine Religion der Dogmen und der Macht, der Herrschaft und des Totalitarismus. Daniel selbst ist die einzige Brücke zwischen jüdischem und christlichem Glauben gewesen, und seit seinem Tod gibt es keine Brücke mehr. Das empfand ich als traurige Niederlage."
Von Johannes Paul kommt kein richtiger Einspruch, aber am Ende seines Lebens erhält Daniel Stein aus dem Vatikan ein Schreiben, in dem ihm untersagt wird, weiterhin Gottesdienst abzuhalten. Das ist die Version im Roman.
"Bei mir kommt er bei einem Autounfall ums Leben, und zwar in dem Moment, als ihn zuhause ein Brief erwartet, dass ihm die päpstliche Glaubenskongregation weitere Gottesdienste untersagt. Das habe ich mir ausgedacht, worüber ich dann sehr glücklich war. -
Als das Buch schon fertig war, bin ich wieder einmal nach Israel gefahren und habe dort jenen Mann getroffen, der Daniels Nachfolger als katholischer Priester wurde, ein sympathischer junger Italiener, mit dem ich mich sehr schön unterhalten konnte. Irgendwann meinte er, Daniel sei wahrscheinlich zur rechten Zeit gestorben, denn kurz darauf sei ja jener Brief gekommen. Ich fragte ihn, was für ein Brief, und er erzählte mir, dass anderthalb Monate nach Daniels Tod von der Glaubenskongregation das Verbot für ihn gekommen sei, weiter als Priester tätig zu sein. Ich hatte mir also etwas ausgedacht, das tatsächlich so passiert war. Ich war natürlich sehr froh darüber, denn wenn meine Phantasie mit der Realität übereinstimmte, dann war mit dem Buch offenbar alles in Ordnung."
Stammt dieser Brief vielleicht gar vom damaligen Präfekt der Glaubenskongregation, dem Kardinal Joseph Ratzinger? Er war immerhin im Todesjahr Rufeisens alias Steins in diesem einflussreichen Amt.
Fragen dieser Art führen über den Roman hinaus, aber sie weisen auf die
Aktualität dieses Buches hin. Seltsam, wie dieser Roman, der an allen möglichen Orten dieser Welt und in verwirrten wie in gläubigen Herzen spielt, in die gegenwärtige Debatte eingreift und eine argumentative Kraft entfaltet. Alle Stichworte dafür sind in ihm enthalten und ausgebreitet. Er ist ihr unbeabsichtigt vorweg geschrieben. Er wirkt wie ein Gegentext zu den Diskussionen über antisemitische Piusbrüder und ihren Rückhalt im Vatikan. Er zeigt, was wahrer Traditionalismus in der Kirche bedeuten könnte: nämlich die Rückkehr zu Wurzeln, in denen Christentum und Judentum kaum geschieden waren. Er lässt ahnen, wie sehr dieses Wissen im Vatikan inzwischen zur Häresie gerechnet wird.