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"Die Uhr des Regimes ist abgelaufen"

Muammar al-Gaddaf wird gehen, sagt Udo Steinbach, ehemaliger Direktor des Orient-Instituts Hamburg. Doch was dann, denn Libyen sei ein zutiefst islamisch geprägtes Land, die Gesellschaft gespalten und politische Führungspersönlichkeiten fehlten.

Udo Steinbach im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Gerwald Herter: Die libysche Luftwaffe bombardiert Aufständische, ein Mitglied des Gaddafi-Clans kündigt an, man werde bis zur letzten Kugel kämpfen, und die Regierung von Venezuela hat dementieren lassen, dass der libysche Revolutionsführer Gaddafi auf dem Weg ins südamerikanische Exil sei. Es ist derzeit fast unmöglich, ganz sichere Informationen aus Libyen zu bekommen. In Kairo haben unsere Korrespondenten aber immerhin Zugang zu Libyern, die dort im Exil leben, und zu anderen Quellen.

    Tunesien, Ägypten und jetzt Libyen. Mein Kollege Dirk-Oliver Heckmann hat gestern Abend in unserer Sendung "Journal vor Mitternacht" mit dem früheren Direktor des Hamburger Orient-Instituts, mit Professor Udo Steinbach, über die Entwicklung in Libyen gesprochen. Er hat Udo Steinbach zunächst gefragt, ob nun ein weiterer nordafrikanischer Diktator stürzen wird?

    Udo Steinbach: Ja das ist fast sicher, dass dieses Regime zu Ende geht. Was in Ägypten begonnen hat, das setzt sich nun weiter fort in Libyen. Das liegt ein bisschen in der Logik der Geschichte. Ägypten und Libyen sind in vielen Dingen eng verbunden gewesen, denken wir daran, dass Gaddafi ja im Grunde die nasseristische Revolution von 1969 nachgeahmt hat, und jetzt ahmen die Libyer das nach, was ihnen die Ägypter vorgemacht haben an Protesten.

    Dirk-Oliver Heckmann: In Tunesien und Ägypten war entscheidend das Verhalten des Militärs. Nach anfänglicher Repression stellte sich die Armee in Ägypten vor die Demonstranten. Wie sehr kann sich Gaddafi auf sein Militär verlassen?

    Steinbach: Er kann sich auf sein Militär ganz offensichtlich nicht verlassen. Wir haben Bilder gesehen, wir hören von Desertionen, wir hören von Verbrüderungen von Teilen der Armee mit den Demonstranten. Also ein bisschen lässt hier Ägypten grüßen, wenn auch, sagen wir mal, die Motive für das Verhalten der Armee, die Art und Weise, wie sich die Armee bezieht auf die Demonstranten, anders sind als in Ägypten. In Ägypten war es eine Armee, die aus dem Volk kommt; hier ist die Armee stärker und geprägt durch anhaltende und nachwirkende Strukturen des Tribalismus.

    Die libysche Gesellschaft ist ja zutiefst gegliedert, zutiefst strukturiert nach Stämmen und Großfamilien. Also das libysche System hat es nicht vermocht, diese Friktionen der Gesellschaft gewissermaßen aus der Armee herauszuhalten, und jetzt verbündet sich eben, wer mit wem verwandt ist, oder über Stämme irgendeine Form von Verbindung unterhält.

    Heckmann: Aber es gibt nach wie vor starke Kräfte, auf die sich Gaddafi verlassen kann. Es soll ja laut Human Rights Watch über 300 Tote gegeben haben und Al Dschasira meldet, dass sogar jetzt Militärflugzeuge gegen Demonstranten eingesetzt wurden.

    Steinbach: Ja das ist die Präsidentengarde. Die ist über Jahrzehnte privilegiert gewesen, die ist besonders ausgebildet gewesen, besonders kaserniert. Ein bisschen erinnert das an Saddam Hussein und seine Garden. Aber ich denke einmal, die Uhr des Regimes ist abgelaufen. Wenn die Bevölkerung davon geht - und Teile der libyschen Gesellschaft scheinen, sich ja schon fast unabhängig gemacht zu haben; in Bengasi soll Gaddafi, soll das Regime nichts mehr zu sagen haben -, wenn das Militär auseinandergeht, wenn die Stammesführer damit drohen, sozusagen den Ölexport zu unterbrechen, dann sehen wir doch, wie tief die Verwerfungen, wie tief der Spaltpilz und die Konflikte bereits in die Gesellschaft eingedrungen sind, und dann wird die nackte Machtausübung durch die Präsidentengarde nichts mehr bringen, außer sehr vielen Opfern noch in den kommenden Stunden.

    Heckmann: Die Zeit des Regimes abgelaufen, sagten Sie. Blicken wir mal auf die Europäische Union. Da haben ja die Außenminister heute zusammengesessen und bekannt, dass man auf der Seite der Demokratie stehe, dass man die Gewalt verurteile. Aber Sanktionen beispielsweise, die wurden lediglich diskutiert. Ist das ein sinnvolles Vorgehen?

    Steinbach: Solange das Regime an der Macht ist, wird sich natürlich Europa schwer tun, zumal ja die europäischen Regierungen – denken wir an Berlusconi, denken wir aber auch an die französische Regierung – aufs engste verbandelt waren mit den Regimen in Nordafrika, auch mit dem Gaddafischen Regime. Ich glaube, dass es dazu gar nicht mehr kommen wird. Die Dinge werden sich möglicherweise so schnell entwickeln, dass Sanktionen ohnehin überflüssig werden.

    Ich glaube, dass Europa jetzt viel stärker darüber nachdenken müsste, was es tut mit Blick auf die tiefe Krise Nordafrikas, und diese tiefe Krise ist ja wirtschaftlicher Natur, vor allen Dingen was Ägypten betrifft, was Tunesien betrifft, und da hat man wohl in den letzten Tagen zu wenig getan.

    Im Übrigen wird das natürlich sehr schwer werden. Die Frage, wohin sich eine Regierung, ein System nach Gaddafi entwickelt, ist schwieriger zu beantworten als die Frage mit Blick auf Ägypten oder mit Blick auf Tunesien. Libyen war immer ein rabenschwarzes Loch, hier gibt es keine Strukturen, hier gibt es keine Persönlichkeiten, die wir ja im Falle Tunesiens, Ägyptens gekannt haben. Und im Übrigen: Der Islam wird hier eine deutlich größere Rolle spielen mit Blick auf ein künftiges System. Die libysche Gesellschaft ist zutiefst islamisch geprägt, sodass ich glaube, dass tatsächlich Europa hier bei allem Wunsch, die Dinge zu begleiten, auch doch von Land zu Land zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen muss und auch zu unterschiedlichen Strategien, mit welchen Mitteln man jeweils den Gesellschaften hilft.

    Heckmann: Der Westen, Herr Professor Steinbach, hat Gaddafi in den vergangenen Jahren als Partner regelrecht hofiert. Hintergrund sind das Ölvorkommen im Land, aber auch, um den Flüchtlingsstrom aus Afrika einzudämmen. Ist Libyen also ein weiteres Beispiel dafür, dass Europa auf Diktaturen setzt, um eigene Interessen zu verfolgen, und sich damit gegen die Menschen stellt?

    Steinbach: Ja, das ist es. Das ist überhaupt keine Frage und ich denke einmal, die europäisch-libyschen Beziehungen waren besonders unappetitlich, weil sie ganz klar ökonomisch waren. Was Ägypten betrifft, was Tunesien betrifft, da haben andere Motive, politische Motive, strategische Motive, noch eine Rolle gespielt, aber an den glänzenden Beziehungen europäischer Regierungen, europäischer Unternehmen mit Libyen ist ausschließlich die Wirtschaft zu nennen, und ich denke einmal, das macht einen besonders nachdenklich auch über die Qualität europäischer Außenpolitik, die ja ohnehin in den letzten Wochen in Verruf geraten ist.

    Herter: Worte, die Gewicht haben. – Der ehemalige Direktor des Hamburger Orient-Instituts, Professor Udo Steinbach, gestern Abend im Gespräch mit meinem Kollegen Dirk-Oliver Heckmann.