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Die ungezählten Opfer von Tschernobyl

Umwelt. - In wenigen Tagen jährt sich zum 20. Mal die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Und noch immer streiten Experten darüber, wie viele Opfer das Unglück bis heute letztlich forderte. Dabei schwanken die Zahlen von 9000 - laut Weltgesundheitsorganisation WHO - bis zu über 90.000, wie Greenpeace angibt.

Arndt Reuning im Gespräch mit Dagmar Röhrlich |
    Arndt Reuning: Heute stellte die Internationale Agentur für Krebsforschung eine weitere Studie zur Katastrophe von Tschernobyl vor, die wiederum mit neuen Zahlen zu den Opfern aufwartet. Frau Röhrlich, Sie verfolgen die Diskussion seit nunmehr 20 Jahren. Wie lässt sich denn die Diskrepanz in den Opferzahlen nun erklären?

    Dagmar Röhrlich: "Abgesehen von der politischen Dimension ist es auch sehr schwierig, die Opferzahlen abzuschätzen. Es gibt dabei verschiedene Gruppen, so beispielsweise jene, die höher belastet wurden und bei denen die Risikoabschätzung verwendet wurde, die noch auf den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki basieren. Daraus schließen Experten, dass rund 4000 Opfer in die Gruppe der Hochbelasteten - das sind die so genannten Liquidatoren, die beispielsweise Aufräumarbeiten in den ersten zwei Jahren nach dem Reaktorunglück durchführten - fallen. Daneben gibt es eine zweite große Gruppe von rund fünf Millionen Menschen, die in der näheren Umgebung des Sarkophags sowie in höher belasteten Gegenden leben. Von diesen werden nach Ansicht der WHO etwa 5000 Menschen an den Folgen des Unglücks versterben. Im Grunde genommen ist die Zahl der 9000 Opfer relativ durchgängig bei den verschiedenen veröffentlichten Statistiken. Das Problem entsteht jedoch, wenn es um niedrige Strahlungsdosen geht. Deren Auswirkungen kann man sehr schwer abschätzen."

    Reuning: Wo finden sich denn diese niedrigen Dosen?

    Röhrlich: "Das ist im Grunde genommen der gesamte Bereich von Europa, der belastet worden ist. Westeuropa, Nordeuropa, bis hinüber nach England. Auf dieser Fläche wohnen mehr als 100 Millionen Menschen, die da drunter fallen und messbare Dosen abbekommen haben. Ein paar Gebiete sind indes kaum belastet worden. Diese Dosen sind so niedrig, dass sie - auf das Leben betrachtet - weit unterhalb der natürlichen Strahlenbelastung liegen. Da ist ein grundsätzlicher wissenschaftlicher Streit: wie wirksam sind diese Dosen, wie stark erhöht sich durch eine geringe zusätzliche Belastung das Krebsrisiko?"

    Reuning: Kann man denn nicht einen Anstieg in den Krankheits- oder Todeszahlen nach Tschernobyl eindeutig feststellen?

    Röhrlich: "Wenn man die niedrig belastete Personengruppe von 100 bis 200 Millionen Menschen anschaut, dann werden auch ohne Tschernobyl 22 bis 25 Prozent der Menschen an Krebs sterben. Das heißt, man hat 40 bis 60 Millionen Menschen - je nachdem, wie ich die Gruppe fasse - die auch ohne Tschernobyl an Krebs sterben werden. Dabei fallen 30.000 bis 60.000 zusätzliche Fälle durch die Reaktorkatastrophe statistisch einfach nicht mehr auf. Das ist einfach die Grenze der epidemiologischen Wissenschaft. Und darüber geht eigentlich jetzt der Streit: gibt es diese Fälle oder können wir sie einfach nur nicht messen oder sind diese niedrigen Dosen einfach nicht wirksam? So hat die WHO die geringen Dosen einfach nicht betrachtet, sondern zog eine Grenze, unter der ein sicherer Effekt nicht angenommen wurde. Dadurch wurde der Grundsatz aus dem Strahlenschutz, dass auch die niedrigste Dosis Folgen haben kann und deshalb auch sie berücksichtigt werden muss, einfach nicht angewandt. Dagegen wehren sich andere Organisationen, die wiederum argumentieren: dass wir es statistisch nicht sehen, heißt nicht, dass es nicht doch da ist."