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Die Unterdrückung Osteuropas

Vor zehn Jahren veröffentlichte die amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum ein mehrfach ausgezeichnetes Buch über den Gulag. In ihrem neuen Werk zeichnet sie nach, wie sich der Stalinismus im ersten Jahrzehnt nach 1945 über Osteuropa ausbreitete.

Von Otto Langels | 23.09.2013
    "Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein 'Eiserner Vorhang' über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas."

    Der englische Politiker Winston Churchill verwendete die Formulierung vom "Eisernen Vorhang" im März 1946 bei einer Rede vor amerikanischen Studenten, um zu verdeutlichen, dass Städte wie Berlin, Prag, Budapest oder Warschau nunmehr im sowjetrussischen Einflussbereich lagen. Anne Applebaum hat die berühmte Rede Churchills ihrem Buch über den "Eisernen Vorhang" vorangestellt, als Referenz für den Titel, aber auch als Verweis auf den Inhalt: Churchill sprach von der zunehmenden Kontrolle Moskaus über die osteuropäischen Staaten, und Applebaum führt auf gut 600 Seiten aus, wie der sowjetische Diktator Josef Stalin seine Herrschaft nach Westen ausdehnte.

    "Es war ein System totaler Kontrolle. Der stalinistische Staat war überzeugt, dass er alles kontrollieren konnte, nicht nur die Politik und die Wirtschaft, sondern auch das gesellschaftliche Leben, das Privatleben, Sportvereine, Schachklubs. Im stalinistischen System gab es nicht eine unabhängige Institution."

    Bevor Anne Applebaum detailliert auf das Leben hinter dem "Eisernen Vorhang" eingeht, beschreibt sie in einem eindrücklichen Kapitel die sogenannte "Stunde Null": Wie sich das Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer plötzlichen und unheimlichen Stille ankündigte. Ob in Berlin, Budapest oder Warschau, Beobachter registrierten zerstörte Städte, große Trümmerflächen, verkohlte Ruinen, ausgebrannte Panzer und den Gestank von Leichen; und zugleich menschenleere Straßen, verlassene Fahrzeuge und eine ängstliche, in Kellern ausharrende Bevölkerung, die auf die Ankunft der Roten Armee wartete und einer ungewissen Zukunft entgegenblickte.

    Im Vorfeld und Schatten des sowjetischen Vormarschs kam es zu exzessiven Gewaltausbrüchen. Die Ukrainische Aufständische Armee z.B. ermordete 50.000 Polen, fast alle Zivilisten, und verjagte Zehntausende, um die Region von polnischen Bewohnern "zu säubern". Im Zuge der von den Siegermächten beschlossenen Grenzverschiebungen mussten 1,5 Millionen Polen die Ukraine, Litauen und Weißrussland verlassen, jeder vierte Pole wechselte zwischen 1939 und 1950 seinen Wohnort.

    Dies alles waren gewissermaßen Vorspiele zur Unterdrückung Osteuropas durch das sowjetische Imperium. Anne Applebaum trägt akribisch und systematisch Materialien zusammen, die zeigen, wie die Kommunisten auf allen Ebenen die Macht übernahmen und festigten. Sie hat in Archiven recherchiert, sie zitiert aus Aufzeichnungen Betroffener und aus Gesprächen, die sie mit Zeitzeugen geführt hat, von Egon Bahr und Hans Modrow über den jüngst verstorbenen Erich Loest bis zu Agnes Heller.

    "Ich wollte aus einem anderen Blickwinkel, nämlich von Grund auf zeigen, was es für den einzelnen bedeutete, diesem System ausgeliefert zu sein: Wie trafen Menschen in diesem System ihre Entscheidungen, wie reagierten sie und wie verhielten sie sich."

    Allerdings beschränkt sich die Autorin in ihrer Darstellung auf Ostdeutschland, Polen und Ungarn. Sie habe sich für diese drei Länder entschieden, weil sie sehr unterschiedlich waren, so ihre Erklärung. Näher begründet sie ihre Auswahl nicht, wie überhaupt ein analytischerer Blick dem Buch gut getan hätte. Die Frage, warum die Sowjetunion ihre Herrschaft über halb Europa ausdehnen wollte, bleibt offen.

    Applebaum selbst verweist auf Stalins Postulat vom "Sozialismus in einem Land" aus dem Jahr 1924. Die knappe Bemerkung, dass die Sowjetunion die Weltrevolution nicht aufgegeben, sondern nur verschoben und 1945 wieder auf die Tagesordnung gesetzt habe, ist keine erschöpfende Antwort. Sie geht auch nicht darauf ein, dass viele Arbeiter und Intellektuelle nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung im Sozialismus eine Alternative sahen. Erst die brutale Wirklichkeit des stalinistischen Systems belehrte die meisten eines Besseren, aber längst nicht alle. Warum z.B. stieg in Rumänien die Zahl der kommunistischen Parteimitglieder von 1000 im Jahr 1944 auf 800.000 drei Jahre später?

    Etwas überraschend endet Anne Applebaums Buch mit dem Ungarnaufstand im Jahr 1956. Ebenso gut hätte sie den Schlusspunkt 1953 setzen können, mit dem Tod Stalins und dem Volksaufstand in der DDR.

    "1956 endet die stalinistische Epoche, Stalin ist längst tot, er stirbt 1953, und nach ‘53 wollen die Menschen dieses System reformieren. Als sich der Stalinismus über Osteuropa ausbreitete, war dies der Versuch, alles staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Und 1956 war die Antwort oder die Rache der Zivilgesellschaft, dass sich die Menschen selber zu organisieren begannen."

    Im poststalinistischen Osteuropa sei kein Regime mehr so grausam gewesen wie zuvor, so Applebaum. Innerhalb des von der Sowjetunion vorgegeben Rahmens hätten die Regierungen zusehends an Handlungsspielraum gewonnen. Da das kommunistische Projekt an sich aber fehlerhaft war, taumelten die Satelliten Moskaus von einer Krise zur nächsten. Das Ende ist bekannt.

    Anne Applebaums Buch bietet zwar keine neuen Erkenntnisse, aber ihre gut lesbare Darstellung beeindruckt durch Faktenreichtum, und ihr gelingt es, einen vielschichtigen Blick hinter den Eisernen Vorhang zu werfen.

    Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956.
    Siedler Verlag, 640 Seiten, 29,99 Euro
    ISBN: 978-3-827-50030-4