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Die Unvollendeten

Im Nachwort zu seiner im vergangenen Jahr erschienenen Trilogie "Genealogie des Tötens", entstanden noch zu DDR-Zeiten, hat Reinhard Jirgl seinen neuen, jetzt erschienenen Roman "Die Unvollendeten" bereits angekündigt.

Guido Graf |
    Seit einiger Zeit beschäftigt mich ein Schreibprojekt besonderer Art. In direkter Folge des Zweiten Weltkriegs war zunächst eine Unzahl von Familien deutscher Herkunft aus ihrer angestammten Heimat in Osteuropa vertrieben worden; viele überlebten diesen Treck nicht. Die übrigen waren gezwungen, in fremden Lebensräumen unter vollkommen veränderten Umständen neben ihnen keineswegs freundlich gesinnten Einheimischen neu sich anzusiedeln; sie blieben oftmals für die restliche Lebenszeit "Die Unvollendeten". Die Zeit für ihr Leben aber ist der Menschen ursprünglicher Besitz. Vielen war niemals ihre Zeit gegeben, vielmehr durch alle Vorkommnisse im 20. Jahrhundert ist diesen Menschen stets ihre Zeit genommen worden.

    Beide Werke, die Genealogie und Die Unvollendeten, gehören in der Werkbiographie Reinhard Jirgls eng zusammen. Bezeichnend ist dabei allerdings das Ungleichgewicht im Umfang. Die Genealogie des Tötens hat um ein vielfaches mehr Seiten als Die Unvollendeten. Während die Genealogie für ein ebenso finsteres wie eindringliches Bild der Existenz dieses Autors zu DDR-Zeiten stehen, greifen Die Unvollendeten wie in einer Klammer davor, an den Anfang, den diese Existenz, nach Flucht und Vertreibung, in der gerade entstehenden DDR genommen hat, und dann in die Gegenwart, in das wieder vereinigte Deutschland von heute. Das ist Jirgls Versuch, von seiner Herkunft zu schreiben, aus einer Zeit, die er selbst nicht erlebt hat, die aber fortlebt im Denken und Handeln, über die Generationsgrenzen hinweg.

    Heimat: das ist nichts als 1 wundgeriebene Ferse.

    Jirgl hat die eigene Familiengeschichte zum Vorbild für seinen neuen Roman genommen und ist den Spuren nachgegangen, die dieser Transport von Erfahrung von denen, die vor ihm waren, hinterlassen hat. Genealogie, Heimat und Herkunft sind für Jirgl Begriffe, an deren Schnittpunkt die Aufgabe zu erzählen steht.

    Die Dimensionen von Heimat für Menschen sind wie Fühlhörner an der Schnecke: die ziehen sich zurück, sobald zum Fühlen Ein Hindernis zu mächtig geworden ist. Drinnen warten sie dann . Mitunter, und nach dem zigsten Fehlversuch, bleiben die Tastorgane eingezogen FÜR=IMMER.

    Deutsche Geschichten der Unbehausten und Gefühllosen hat Reinhard Jirgl in seinem Romanwerk schon zahlreich versammelt. Dass er sich jetzt den Vertreibungen nach dem zweiten Weltkrieg widmet, scheint da nur folgerichtig. Entsprechend war auch der Zeitpunkt gewählt, die Trilogie von der Genealogie des Tötens , die im wesentlichen Mitte der achtziger Jahre entstanden ist, im vergangenen Jahr zu veröffentlichen, als unmittelbaren Vorlauf für Die Unvollendeten. Denn /"Genealogie" bedeutet hier nicht nur Retrospektive, sondern vor allem Vergegenwärtigung. Die Herkunft aus dem Gewaltsamen und Ungesetzlichen, die Jirgl in der historischen Physiognomie der DDR-Gesellschaft kenntlich gemacht hat, schließt die Geschichte der Vertreibungen und der Vertriebenen mit ein. Ihrem Unvollendetsein gibt Jirgl eine Sprachgestalt.

    Auch aus dieser Schar=dort-auf-der-Straße kam so gut wie kein Laut, und ganz wie bei der Menge auf dem Sportplatz setzte sich niemand zur Wehr so, als würden in Eile u Hast den Menschen auch die Laute ausgetrieben und davongelaufen sein. Und würden, sprachlos die kalkbleichen Schatten die Mienen verschlossen & hart wie beim Erfüllen eisern=strenger Pflicht, fortan sich selbst, ihren Wörtern wie der restlichen Leben¹s Zeit nacheilen müssen.

    Die Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart, die Jirgl anstrebt, wird schon in der Konzeption des Romans aufgestellt. Der erste von drei Teilen, "Von Hunden & Menschen" überschrieben, beginnt unmittelbar in der Zeit der Vertreibung der Deutschstämmigen aus dem Sudetenland. Der zweite Teil "Unter Glas" spielt dann an dem Ort, wo sich die Flüchtlinge niederlassen, noch in der schon gespaltenen Hoffnung, irgendwann in die Heimat zurückkehren zu können. Die Familie, die mit aller Macht zusammengehalten werden soll, ist männerlos. Die alte Johanna mit ihren beiden Töchtern Hanna und Maria. Hanna gelingt es schließlich, ihre anfangs verlorene Tochter Anna wiederzufinden und nachzuholen. Es ist vor allem Hanna, die hartnäckig an der Rückkehrillusion festhält. Nicht zuletzt aus diesem Grund untersagt sie sich selbst und allen anderen in der Familie, irgendwelche Bindungen einzugehen oder eigene Wege einzuschlagen, die diese Illusion zerstören könnten.

    Je größer Š ihre Einsamkeit, desto bestärkter fühlte Hanna sich in ihrer Haltung; während Andere materielle Güter hamsterten, hamsterte sie CHARAKTER. Durch mehrfach geprellte Sehnsucht (Kontusionen des inneren Leibs) waren ihr Menschen u Gemeinheit längst synonym geworden, und was sie dennoch Menschen aufsuchen ließ, das war ihre Furchtlosigkeit vor Ansteckung. So wuchsen in ihr neben Bitterkeit vor=allem Unerbittlichkeit.

    Im dritten Teil des Romans schließlich, "Jagen Jagen" heißt er, spricht ein männlicher Ich-Erzähler, der Sohn von Anna und Hannas Enkel, der nach einer Krebsbehandlung in einem Krankenzimmer der Berliner Charité liegt und aufschreibt, was wir vor uns haben. Ein Bettnachbar hört dort, wie er beim Schreiben laut mit sich spricht, einzelne Wörter nur.

    KOMM das sagten Sie oft, und WEIHRAUCH U STAUB DAVONGEGANGEN FÜR=IMMER - !ah und die AUSGEBLICHENEN SOCKEN HAMMERSCHLÄGE KRÜMELN ERDE IN MEINEN FINGERN ERDLOCH DAS SCHWARZE O -:Das müssen für Sie Zeit-Tunnel sein zwischen Heute u: Damals, Orte, an denen alles wiederkehrt.

    Dieser Ich-Erzähler, der immer mehr Enkel als Sohn war, den größten Teil seiner Kindheit ohne seine als Dolmetscherin in Berlin arbeitende Mutter verbracht hat, wühlt nun noch keine fünfzig Jahre alt im Schutt der Zeitdurchbrüche und muß erkennen, wie sehr das Vertriebenenschicksal ihn, den Nachgeborenen, geprägt hat. Eine Prägung, die eigentlich nie und darin unterscheiden sich ost- und westdeutsche Geschichte keineswegs Gegenstand von Gesprächen war. Das Unvollendetsein, das Jirgl umschreibt, hat sich vielmehr subkutan vermittelt, gleich der Mechanik eines Traums voller Grausamkeiten. Der Träumer reagiert nicht auf die grausamen Bilder, die er träumt, die Traumgedankenverschiebung findet eher auf Wörter statt, die eigentlich unbelastet sind und so das private innere Zollsystem überschreiten können. Eben die eigentlich alltagsbanalen Wörter, die der Erzähler vor sich hin spricht, sind es, Jirgl nennt das einmal "Fusionswörter", die Zeit- und Erfahrungsebenen zusammenbringen. Für den Erzähler ist das ein traumatischer Zusammenhang, den Jirgl in der Krebserkrankung auch körperlich fixiert. Einmal wird das Trauma der Vertriebenen Geschwür genannt.

    Das Zeugma die Leben¹s Spur, & jeder Schritt ein fremder Schritt in der eigenen Rüstung zum Glück ŠŠ

    Ein katholisches Selbstverweigerungsgeschwür, dem Lust allein in der Deformation allen Fleisches geläufig ist, das sein Wissen und seine mörderische Wut allein gegen sich richtet, gefaßt im Korsett ewig rechthaberischer Duldsamkeit.

    Denn neben Allem, was in Menschen niemals schweigen will, u weil auch Zeit-zum-Warten mit dem grad letzten Krieg verbrannt, müssen die Immer=Wünsche & Wieder=Bitten mit Kirchturmkanülen dem taubstummen Himmelshall direkt ins Herz gestochen werden.

    Der Körper ist der Ort der Geschichte, hier speichert sich alles ein, nur bedingt beeinflussbar. Nichts in den Nachkommen bleibt spurenlos. Der Ich-Erzähler spürt das nur zu deutlich, wenn er als Erwachsener gegenüber Hanna, der Ersatzmutter, in Wut über ihre selbstverneinende Ethik ausbricht. Als beispielsweise Hanna und ihre Schwester Maria, längst pensioniert, eine neue Plattenbauwohnung beziehen sollen und ehe sie jemanden um Hilfe bitten ihren Umzug lieber allein mit einem Handwagen machen und folglich einiges Mobiliar zurücklassen müssen, erkennt sich der Enkel in seiner Wut über diese Engstirnigkeit auch selbst wieder.

    ?Woher solch Trieb zur Selbst-Erniedrigung.:

    Mehrfach fällt der Satz, dass Hannas und dann auch ihres Enkels - größte Stärke ihre rücksichtslose Schwäche sei, ihre rücksichtslose Ehrlichkeit, koste es, was es wolle. Für Hanna ist es dieser Begriff von Ehrlichkeit, der objektiv nur Leiden verursacht und auch Selbstverleugnung genannt werden kann, irgendwann der einzige Halt, der ihr geblieben ist.

    !Ihr mit eurem Blöden=Zwang, !bloßja!nicht !aufzufallen (brüllte ich, als ich sie wieder einmal besuchte, in die beiden aschfahlen Gesichter -; sie hielten wie=immer still, warteten, bis mein Jähzorn verraucht war.) Im-Grund brüllte ich gegen mich selber, gegen Das, was ich in=mir wußte von dieser ver!fluchten BescheidenheitŠŠ die ich von diesen Flüchtlingen geerbt hatte wie nen seelischen Buckel.

    Während die anderen bei der Flucht nach materiellen Gütern hamstern, hamstert Hanna Charakter, eine verbissene Macht über ihre Verluste, die sie mit niemandem teilen kann. Nur so kann sie den ausgedörrten Körper Heimat schultern, diesen Phantomschmerz und Glaubensartikel. Der Pragmatismus der anderen ist ihr fremd. Hanna lebt in ihrer Unerbittlichkeit. In der entstehenden DDR findet sie eine Stellung bei der Bahn. Sie ist für die Auszahlung der Löhne zuständig. Eine Zeit lang wird sie von ihrem, ebenfalls schon älteren Chef umworben. Schließlich macht er ihr auch einen Heiratsantrag. Sie lehnt ab mit der Begründung, dass sie eine Familie habe, die sie zusammenhalten muß. Sie sei nicht frei. Ganz so, als sei sie mit einem anderen verheiratet. Hanna meint es jedoch als Verpflichtung.

    Vor der Tür zum Haus Thälmann-Straße 32 nahm der Mann Abschied von Hanna. Die, wieder allein, fühlte beim Gang das Treppenhaus hinauf jenen seltsamen Zwie-Spalt: das Kräftigende aus dem 1halten eines Gebots u: die flaue Leere nach einem end=gültigen Verzicht.

    Hanna klagt nicht. Sie will die Wiederkehr einer immer ferner rückenden Heimat. Doch eigentlich geht es ihr darum, die Lebenszeit wieder zurückzukehren. Was ihr bleibt, sind Diesseitsekel und Einsamkeit. Paradox, dass gerade Hanna, die mit ihrer Haltung einer Selbstvernichtung geradezu entgegenarbeitet, die einzige ist, an der sich der Ich-Erzähler aufrecht halten kann, die ihm Orientierung gibt, wo er von seiner Mutter allein gelassen wird, die ihm gegen den neuen Stiefvater hilft, zu dem und seiner Mutter er zwischenzeitlich nach Berlin ziehen muß. Insbesondere der dritte Teil des Romans ist in vielerlei Hinsicht eine Aufrechnung des Ich-Erzählers über sein Erbe: was hat er mitbekommen, was hat er verloren. Wir erfahren, dass er lange als Zahnarzt gearbeitet hat, den Beruf jedoch nie mit mehr als dem ererbten Pflichtgefühl ausgeübt hat.

    Um wenigstens 1mal in Übereinstimmung mit dem mein gesamtes Wesen inzwischen verbitternden Ekel vor Diesemberuf (den ich mir einst aus all meiner Unentschlossenheit zum Wirklichen-Leben, aus meinem Unwillen zu allem Künftigen dennoch selbst erwählte) zu gelangen, trieb mich Damals seit Einigerzeit das Verlangen nach einer absurden Tat, die auszuführen von-Tag-zu-Tag mir dringender erschien, und mit nur immer größerem inneren Aufwand konnte ich zurückhalten, Das zu tun.

    Der ersehnte Ausbruch findet so nicht statt. Erst nach dem Ende der DDR entschließt er sich, den lang gehegten Traum zu verwirklichen, eine Buchhandlung zu eröffnen, die sich auf Kleinverlage spezialisiert, auf die Bücher jenseits der Bestsellerlisten. Was Reinhard Jirgl en passant Gelegenheit gibt zu einer leidenschaftlichen Philippika gegen die Verheerungen der Ökonomie auf dem Markt der Literatur. Seine Frau, die Malerei studiert hat, lernt zur Zahnarzthelferin um, um mit ihrer Brotarbeit den vorgeblich gemeinsamen Traum und ihre Familie, zu der noch ihre mitgebrachte Tochter gehört, zu subventionieren. Doch das sind nur die äußeren Daten einer Spur des Erbes, die nun auch sichtbar wird: Das Ungesellige und Selbstgenügsame, das Ichbezogene dieser vertriebenen Existenz, die ihr Unvollendetsein fortan mit Wörtern auffüllen muß. Auch der Buchhändlertraum steht im Zeichen der Unrast und des Zuspät.

    Meine Lesehast durch Bücher in früheren Jahren ist aus meiner Hast gekommen am Leben Anderer vorbei. Verwischte Bilder Draufsichten verwaschene Konturen Bleiben !niemals u !nirgends.

    Auch dieser Zuspätgekommene ist sich seines Ungenügens, seines Unvollendetseins allzu gewiss. Ein "Angstredner" zwar, doch immer nur mit der Resonanz seiner Gefährtin. In dem Maße, in dem sie Einsicht in sein Innerstes erhält, wächst die Distanz. Als er nach seiner Krebsdiagnose ins Krankenhaus kommt, sind sie bereits kein Paar mehr. Außer dem Fortgang der Chemotherapie erwartet er nichts mehr und schreibt, in seiner, wie es heißt, "Ich-Haft" von den Abschieden seines Lebens, von denen seiner Familie, von Abschieden, die Jirgl in zeitgeschichtliche Dimensionen wirft, um die private auf die historische Archäologie abzubilden und umgekehrt.

    Zu dem Wissen, aus einem Niemand¹s Land, dem Irr-Wahna DeDeR, zu kommen als der Ewigfremde, & nur bedingt 1 Recht aufs Hier-Sein in Diesemland, weil auch Zeit-Kontinente driften & somit der-Westen vorbeikam, trat die Ahnung hinzu, Meintraum, so glatt in Erfüllung gegangen, wird aus-sich=selbst für die Erfüllung am Ewigfremden Vergeltung nehmen.

    So wie sie geplant war, läuft die Buchhandlung nicht. Der Ich-Erzähler zieht sich mit den von ihm geliebten Büchern in eine Nische des Ladens zurück. Als seine Frau darauf dringt, auch marktgängige Titel ins Programm zu nehmen, kommt es zum Bruch. --
    Es ist wahr (mich überraschte Dein Tonfall) die Großeltern kehren in den Enkeln wieder. Deine Stärke ist deine !rücksichtslose Schwäche. Hättest du dir nur 1 bißchen Wirklichkeits-Wissen angeschafft, deine Mensch-Verachtung hätte dich zum Großkarrieristen begabt. Davon blieb dir nur deine GierŠŠ Damit zerstörst du Alles. (Das Gesicht rotfleckig voller Tränen, und mit erstickter Stimme riefst Du noch:) - Was deiner Großmutter die-Heimat Komotau, das ist dir die-Heimat Bücher. Du verdammter !Scheißkerl: In ?welches Grau hast !du als Schwur ?deine Schuldgefühle hinein erbrochen.

    In der Nacht vor seiner Entlassung aus dem Krankenhaus streift der Ich-Erzähler durch die Stadt, betritt auch die verwaiste Buchhandlung. Seine Bücher sind noch da, doch angesichts seines bald möglichen Todes sind sie schon zum Abtransport verpackt und in die Ecke gestellt. Diese seine Heimat, die nur seinen Wunsch nach einem kleinen Raum für ihn allein verwirklichen sollte, paßt nicht in die Welt der Erwachsenen, die solches Geschäft nicht nur anfangen, sondern auch vollenden müssen. Jirgls Ich-Erzähler springt wie Kafka vom Kindesalter direkt ins Greisenalter. Gemeinsinn, Familie, Eigentum, Verpflichtung: diese Übereinkünfte des bürgerlichen Lebens sind ihm ungreifbar und unlebbar. Für ihn bleibt alles immer nicht zuende gelebt. In der Welt der Vollendeten wird das Leben verwaltet, nicht der Tod. Was den Tod im Leben ausmacht, ist von anderer Natur. Den Tod als Erfahrungsgröße am Leben zu erhalten, ist Bestandteil des Unvollendeten. Gerade in diesem Punkt vermittelt Jirgls Roman keine notwendig deprimierende Perspektive. Doch die Herkunft aus dem beraubten Leben der Vertriebenen spricht von der Verhinderung von Erfahrungen, Erzählfäden sind abgebrochen. So stellt sich nach vielen Jahren durch Zufall für Hanna und Maria ein Kontakt zu einer inzwischen in Westdeutschland lebenden Frau her, die ebenfalls aus dem Sudetendorf Komotau stammt. In der Folgezeit erhalten sie in regelmäßigen Abständen Pakete aus dem Westen, meist mit Waren, die in der DDR nicht erhältlich sind. Doch auf Hannas immergleiche verkniffene Gegenpräsente reagieren die früheren Bekannten irgendwann mit einem schroffen Abbruch des Kontaktes. Ein Gespräch, nicht einmal unter den Schwestern, ist unmöglich. Statt dessen befördert Hanna den kostbaren Kaffee und viele andere seltene und schöne Sachen in den Müll.

    Meist das Kleine, das Wenige & in schmaler Münze, was Menschen als ihr Leben ausgezahlt bekommen; dafür mit vollen Händen Nöte u Beschwernis. Jahre verbrennen wie dürres Unkraut am Bahndamm und der Mensch stirbt an Freunden, die er nicht hat.

    Für die Unvollendeten wird die verlorene Heimat tatsächlich zu einer Genealogie des Tötens. Als Hanna durch die Schuldirektorin von den Plänen ihrer Tochter Anna erfährt, eine Dolmetscherschule in Leipzig besuchen zu wollen, und damit klar ist, dass ihr ständiges Bemühen seit der Vertreibung, die Familie für die Rückkehr Œeines TagesŒ zusammenzuhalten, gescheitert ist: da ist es für Hanna, als würde sie ein weiteres mal aus ihrer Heimat vertrieben. Der Satz, der da nur noch in ihrem Kopf hämmert, heißt:

    Stirb ein langes Leben.