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Die Ur-Angst der Protestanten vor einer Abspaltung Nordirlands

Die Zunahme der katholischen Bevölkerung in Nordirland ist ein Grund für die neue Angst der pro-britischen Protestanten, die Republik könne sich abspalten, sagt Peter Neumann vom King's College London. Der Streit um das Hissen beziehungsweise Nichthissen der britischen Flagge in Belfast sei deshalb symbolisch aufgeladen.

Das Gespräch führte Dirk Müller |
    Dirk Müller: Steine, Feuerwerkskörper, Flaschen und sogar Absperrgitter fliegen durch die Luft, seit Tagen im nordirischen Belfast, wieder einmal. Diesmal sind es gewaltbereite Protestanten. Krawalle gegen eine Entscheidung des Stadtrates, die britische Flagge nur noch an wenigen Tagen im Jahr an öffentlichen Gebäuden wehen zu lassen. Krawalle auch heute Nacht wieder.
    Die Ausschreitungen in Belfast in der sechsten Nacht zur Folge - darüber sprechen wir nun mit Politikwissenschaftler Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien und Radikalismus am King's College in London. Guten Morgen!

    Peter Neumann: Guten Morgen!

    Müller: Herr Neumann, kann man nicht zwei verschiedene Fahnen hissen?

    Neumann: Ja, das wäre für die Unionisten genauso ein Problem, denn die wollen ja, dass Nordirland britisch ist und nicht irisch. Und wenn man jetzt damit anfängt, dass man die irische und die britische Flagge hisst, dann würde die Interpretation sein, ja, das ist im Prinzip jetzt der Übergang und irgendwann ist die britische Fahne dann weg. Also das wäre genauso schlimm, würde wahrscheinlich nichts besser machen.

    Müller: Wir haben ja alle oder viele die Fernsehbilder gesehen in den letzten Tagen. Auch gestern Abend wieder sind die Fernsehbilder um die Welt gegangen, auch die großen Networks haben das übertragen beziehungsweise ausführlich darüber berichtet. Vor allem waren es ja junge Menschen, die dort protestiert haben, zum Teil dann im Laufe der Demonstration gewalttätig. Reden wir denn immer noch über die alten traditionellen Gräben?

    Neumann: Ja, es sind immer noch die alten traditionellen Gräben, und eine wichtige und wahrscheinlich auch fundierte Theorie ist ja auch, dass gerade die Jungen so aktiv sind – nicht nur wegen der sozio-ökonomischen Situation, und weil sie nichts zu tun haben, sondern eben auch, weil ihnen die aktive Erinnerung daran fehlt, wie schlimm dieser Konflikt war. Das sind zum Teil Leute, die sind 16, 17 Jahre alt, 1998 ging der Konflikt zu Ende. Das heißt, das sind keine Menschen mehr, die noch wissen, die noch persönlich den Schmerz dieses Konfliktes erfahren haben, denen die aktive Erinnerung fehlt und die möglicherweise deswegen kein Problem damit haben, im Prinzip wieder von vorne anzufangen. Das ist die Theorie.

    Müller: Sind denn die Kräfte bekannt, die das initiieren, die das schüren?

    Neumann: Ja. Obwohl es natürlich diese aktiven paramilitärischen Gruppen, terroristischen Gruppen in Nordirland offiziell nicht mehr gibt, gibt es natürlich noch diese Strukturen und gibt es natürlich noch viele, viele Kennverhältnisse und natürlich auch das Know-how ist noch da. Diese Strukturen lassen sich leicht wieder aktivieren und gerade im Osten von Belfast. Aber auch auf katholischer Seite existieren diese Strukturen noch, und die sind auch aktiv jetzt gerade in dieser Phase.

    Müller: Ich möchte auch hier in dem Gespräch noch einmal daran erinnern, für viele, die es nicht so im Kopf haben, nicht mehr so präsent haben, im Hinterkopf haben. Das Karfreitagsabkommen, dieses "Friedensabkommen" ist fast 15 Jahre alt und damals haben ja Personen wie David Trimble, Ian Paisley, Gerry Adams da die entscheidende Rolle gespielt. Dann haben wir aus westlicher Sicht, aus europäischer Sicht, kontinentaler Sicht lange Zeit nichts mehr gehört. Immer wieder aber mal Ausschreitungen, immer wieder mal Auseinandersetzungen. Dennoch waren viele davon ausgegangen, Nordirland geht in die richtige Richtung. Das war ein Trugschluss?

    Neumann: Nicht unbedingt. Natürlich hat sich unglaublich viel verbessert. Wenn Sie heute nach Belfast fahren, ist es kein Vergleich zu dem Belfast von vor 15 Jahren. Es gibt kein Militär mehr auf der Straße, die gesamte Innenstadt ist im Prinzip neu. Man muss sich auch vor Augen halten: Vor 1998 oder besser noch vor 1994, da gab es den ersten Waffenstillstand der IRA, sind in Nordirland ungefähr 50 bis 100 Leute jedes Jahr gestorben in einer sehr, sehr kleinen Provinz, ungefähr so groß wie das Saarland. Jetzt sterben ungefähr vielleicht fünf. Also die Reduktion der Gewalt ist schon dramatisch. Die Verbesserung ist schon immer noch da und die Situation ist weitaus besser. Jetzt geht es eben darum: Viele Leute haben Angst davor, dass es wieder zurückgeht. Noch ist es nicht zurückgegangen zu der Zeit vor 1998, aber viele Leute haben Angst davor, und das ist die Befürchtung, nicht, dass es bereits so schlimm ist, sondern, dass es wieder so schlimm werden könnte.

    Müller: Haben denn, Herr Neumann, die führenden Parteien beider Lager inzwischen einen Konsens erreicht, dass man gemeinsam an einem Strang ziehen muss?

    Neumann: Nein, und das ist genau das Problem. Die Antwort ist nein, und das Problem ist, dass besonders die führenden protestantischen Parteien nicht die Führung gezeigt haben, die vielleicht nötig gewesen wäre, und dass das ein bisschen außer Kontrolle geraten ist. Nun muss man auch wissen, dass die Protestanten in diesem Friedensprozess sich so ein bisschen auf die Seite gedrängt gefühlt haben in den letzten Jahren. Es war der Eindruck, dass die Katholiken die ganze Aufmerksamkeit bekommen, die vormalige IRA, Gerry Adams, Martin McGuinness, dass die sozusagen alle die Gewinne machen und die Protestanten an den Rand gedrängt werden, und dass natürlich auch durch das Bevölkerungswachstum bei den Katholiken und das zurückgehende Bevölkerungswachstum bei den Protestanten der Eindruck entstanden ist, dass im Prinzip die protestantische Kultur und Identität, nicht nur die politischen Anliegen, dass auch die an die Seite gedrängt werden.

    Müller: Wenn ich Sie hier kurz unterbrechen darf. Sie sagen, das ist ein Eindruck. Ist da auch was dran?

    Neumann: Zum Teil, denn es ist tatsächlich so, dass natürlich der protestantische Bevölkerungsanteil etwas rückläufig ist und der katholische Anteil steigt, und das drückt sich dann auch in der Demografie aus. Das heißt, Sie haben in Belfast Stadtteile, die früher mal protestantisch waren, die jetzt katholisch sind. Und für Protestanten, die seit Generationen in Belfast leben, entsteht da der Eindruck, die Katholiken, die übernehmen schon wieder einen Stadtteil und bald ist ganz Belfast katholisch und dann ist ganz Nordirland katholisch. Deswegen war auch dieser Streit um die Flagge so wichtig und so symbolisch. Das ist im Prinzip ein Symbol, was für diese ganzen Trends steht, die in den letzten zehn, 15 Jahren in Nordirland passiert sind. Und wenn Sie nach Belfast gehen, dann werden Sie merken: Diese Flagge im Zentrum von Belfast auf dem Rathaus, das ist nicht irgendeine Flagge, das ist eine ganz wichtige Flagge. Das ist so, wie wenn in Deutschland jemand entscheiden würde, auf dem Reichstag weht keine deutsche Flagge mehr. Das ist eine Flagge im Zentrum von Belfast, und Belfast ist natürlich das Zentrum Nordirlands. Also es ist eine ganz wichtige Flagge und sie steht als Symbol für die Identität der Protestanten in Nordirland.

    Müller: Also war das zumindest unsensibel, diese Flaggenentscheidung zu treffen?

    Neumann: Ich glaube schon. Ich denke, das kam ja von nationalistischer Seite, das kam also von der katholischen Seite, diese Forderung, die Flagge muss weg, natürlich aus genau dem Grund, umgekehrt, den ich vorher erklärt habe, weil sie so wichtig ist für die britische Identität Großbritanniens, und ich glaube, da hat der Stadtrat zu schnell nachgegeben und diese Reduktion von 365 Tagen auf 50 Tage ist natürlich sehr extrem. Ich denke, da hätte man möglicherweise eine andere Lösung finden können.

    Müller: Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien und Radikalismus am King's College in London. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neumann: Danke!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.