Ein völlig normaler Junge gleitet ab in die rechtsradikale Szene. Ein verschlafenes Dorf im strukturschwachen Osten erliegt dem Charme einer Neonazifamilie. Das ist die Story dieses Buches. Sie ist nicht an den Haaren herbeigezogen.
"Es scheint eine Strategie der Rechtsradikalen zu sein, sich in strukturschwachen Regionen niederzulassen. Niemand stellt sich ihnen in den Weg. Die Rechtschaffenen sind weggezogen, übrig ist der Rest, der den Kopf einzieht und nur noch überleben will. Für die braunen Bauern geradezu eine Einladung. Sie betreiben Lokalpolitik, kaufen Grund und Boden, lassen sich in den Vorstand der freiwilligen Feuerwehr wählen, in die Elternbeiräte der Schulen. Wer gegen sie aufmuckt, wird bedroht, zusammengeschlagen, gemobbt."
So beschreibt der 47-jährige Fernsehautor und Schriftsteller Daniel Höra die Lage, vor der sein Jugendroman "Braune Erde" spielt. Der Verfasser dieser Zeilen – ein Schriftsteller und damit einer der wenigen Intellektuellen im Dorf - ist wenige Tage später tot, ermordet von zwei rechtsradikalen Jugendlichen. Er war der Einzige, der ihnen noch Paroli geboten hat in einem Dorf, das sie schon fast ganz für die vermeintlich "deutsche Sache" gewonnen hatten. Ist das zu klischeehaft? Wer das Buch liest, stolpert über die eine oder andere Übertreibung. Zum Beispiel die, dass alle Neonazis schon durch ihre altdeutschen Vornamen wie Gunter und Freya klar identifizierbar sind. Aber im Übrigen ist das keine Geschichte, die an den Haaren herbeigezogen ist. Bestes Beispiel: das Dorf Jamel bei Wismar, das Neonazis bereits 1992 in ihrem Sinne umformen wollten. Bütow allerdings ist ein fiktives Dorf, es liegt ...
"... wie ein achtlos ausgespuckter Kirschkern im lehmigen Boden des Mecklenburgischen Landes, ein bisschen sich selbst überlassen, wie ein ungeliebter abgeschobener Verwandter."
Ein Dorf, in dem nur noch die bleiben, die keine Alternative haben, in dem nichts los ist, in dem die Erwachsenen über verpasste Chancen jammern und in dem alle nebeneinander her leben. In dieser Atmosphäre lebt Ben, ein 15-jähriger Waise, der bei Tante und Onkel aufwächst, als fünftes Rad am Wagen. Als Fremde ins alte Gutshaus ziehen und es wieder herrichten, ist Ben sofort fasziniert. Bald geht er bei ihnen ein und aus, drei Erwachsene, Hartmut, Reinhold und Uta, und drei Jugendliche, Gunter, Konrad und Freya, werden seine neue Familie. Endlich fühlt er sich angenommen und akzeptiert. Ben verändert sich, und der Leser ist Schritt für Schritt dabei; er erlebt, wie alles harmlos beginnt und Ben doch in die rechte Szene hineinschlittert:
"Ich genoss diese Nachmittage mit Reinhold. Der Kamin brannte, hin und wieder knackte und knisterte es leise, und wir redeten über alles Mögliche. Reinhold nahm mich ernst. Er redete nicht einfach drauflos und wischte meine Einwände achtlos beiseite. Am Ende kam er immer wieder auf die Gemeinschaft zu sprechen. Wir sprachen auch viel über Deutschland und was sich in diesem Land ändern müsste."
Die Gemeinschaft – das ist der Punkt, an dem die Neubürger die zerrütteten Dorfbewohner packen. Denn sie entpuppen sich nicht sofort als Neonazis; sie bringen erst mal wieder Leben ins Dorf – und einen neuen Gemeinschaftssinn. Bei denen, die an ihrer Scholle hängen, punkten die Neuen, weil sie sich für biologische Landwirtschaft stark machen. Bei den Einsamen machen sie sich beliebt, indem sie alte und kranke Dorfbewohner zu Hause besuchen. Und mit dem Rest des Dorfes renovieren sie das alte baufällige Gemeindehaus, um dort nun fortwährend gemeinsam altdeutsche Feste zu feiern. Der Rest der Gemeinschaftsaktivitäten ist nicht ganz so harmlos.
"Reinhold ließ seinen Blick über die Runde wandern. "Bürgerwehr!" sagte er nach einer Weile. "Wir organisieren das selber. Wir stellen Patrouillen auf, die abends auf Streife gehen. Rund ums Dorf'."
Streife gehen, um sich gegen vermeintliche "polnische Eindringlinge" zu schützen, denn die polnische Grenze ist nicht weit. Die "Polacken" nennen sie sie und verstärken mit ihren Zündeleien, die eh schon schwelenden Vorurteile. Die Dorfbewohner ziehen mit. Die Unterstellungen der Neonazis treffen auf die offenen Ohren der anderen im Dorf. Auch bei Ben. Er geht mit auf Patrouille, er liest die deutschnationale Literatur, die die Neonazis ihm ans Herz legen, er übt mit den Zwillingen Konrad und Gunter, die etwas älter sind als er, paramilitärischen Drill.
Selbst als er bei einer Demonstration Rechtsextremer in Berlin am eigenen Leib erlebt, wie radikal und gewaltbereit seine neuen "Freunde" sind, kann er nicht von ihnen lassen. Misstrauisch wird Ben erst, als seine Nachbarn eines Nachts zwei Polen drangsalieren. Wird Ben es schaffen, sich dem Charme und der Gewalt der Rechtsextremen zu entziehen? Allein, weil man das erfahren möchte, liest sich "Braune Erde" streckenweise wie ein Krimi. Und das, obwohl die Charaktere oft zu holzschnittartig wirken und allzu plakative Parolen im Mund führen.
Die Sprache des Romans ist einfach gehalten, und wirkt authentisch, weil der, der spricht, der 15-jährige Protagonist Ben ist. Dass Daniel Höra jugendliche Leser abholen kann, hat er bereits mit seinem Roman "Gedisst" gezeigt, mit dem er bekannt geworden ist und in dem er die Bewohner einer trostlosen ostdeutschen Plattenbausiedlung porträtiert hat – einfühlsam und dennoch ohne Pathos. In "Braune Erde" gelingt ihm das wieder. Zwar leuchtet Höra die Mechanismen der Manipulation nicht bis ins Letzte aus. Dennoch wird klar: Perspektivlosigkeit ist ein idealer Nährboden für völkische Parolen. Wie Menschen trotz Zweifeln und Hemmungen zu Mitläufern werden, wie Neonazis ein Dorf in aller Ruhe infiltrieren können, das wird Jugendlichen an diesem Beispiel beklemmend und packend vor Augen geführt.
Buchinfos:
Daniel Höra: "Braune Erde", bloomsbury taschenbuch, ISBN: 978-3-833-35099-3, 304 Seiten, Preis: 8,99 Euro
"Es scheint eine Strategie der Rechtsradikalen zu sein, sich in strukturschwachen Regionen niederzulassen. Niemand stellt sich ihnen in den Weg. Die Rechtschaffenen sind weggezogen, übrig ist der Rest, der den Kopf einzieht und nur noch überleben will. Für die braunen Bauern geradezu eine Einladung. Sie betreiben Lokalpolitik, kaufen Grund und Boden, lassen sich in den Vorstand der freiwilligen Feuerwehr wählen, in die Elternbeiräte der Schulen. Wer gegen sie aufmuckt, wird bedroht, zusammengeschlagen, gemobbt."
So beschreibt der 47-jährige Fernsehautor und Schriftsteller Daniel Höra die Lage, vor der sein Jugendroman "Braune Erde" spielt. Der Verfasser dieser Zeilen – ein Schriftsteller und damit einer der wenigen Intellektuellen im Dorf - ist wenige Tage später tot, ermordet von zwei rechtsradikalen Jugendlichen. Er war der Einzige, der ihnen noch Paroli geboten hat in einem Dorf, das sie schon fast ganz für die vermeintlich "deutsche Sache" gewonnen hatten. Ist das zu klischeehaft? Wer das Buch liest, stolpert über die eine oder andere Übertreibung. Zum Beispiel die, dass alle Neonazis schon durch ihre altdeutschen Vornamen wie Gunter und Freya klar identifizierbar sind. Aber im Übrigen ist das keine Geschichte, die an den Haaren herbeigezogen ist. Bestes Beispiel: das Dorf Jamel bei Wismar, das Neonazis bereits 1992 in ihrem Sinne umformen wollten. Bütow allerdings ist ein fiktives Dorf, es liegt ...
"... wie ein achtlos ausgespuckter Kirschkern im lehmigen Boden des Mecklenburgischen Landes, ein bisschen sich selbst überlassen, wie ein ungeliebter abgeschobener Verwandter."
Ein Dorf, in dem nur noch die bleiben, die keine Alternative haben, in dem nichts los ist, in dem die Erwachsenen über verpasste Chancen jammern und in dem alle nebeneinander her leben. In dieser Atmosphäre lebt Ben, ein 15-jähriger Waise, der bei Tante und Onkel aufwächst, als fünftes Rad am Wagen. Als Fremde ins alte Gutshaus ziehen und es wieder herrichten, ist Ben sofort fasziniert. Bald geht er bei ihnen ein und aus, drei Erwachsene, Hartmut, Reinhold und Uta, und drei Jugendliche, Gunter, Konrad und Freya, werden seine neue Familie. Endlich fühlt er sich angenommen und akzeptiert. Ben verändert sich, und der Leser ist Schritt für Schritt dabei; er erlebt, wie alles harmlos beginnt und Ben doch in die rechte Szene hineinschlittert:
"Ich genoss diese Nachmittage mit Reinhold. Der Kamin brannte, hin und wieder knackte und knisterte es leise, und wir redeten über alles Mögliche. Reinhold nahm mich ernst. Er redete nicht einfach drauflos und wischte meine Einwände achtlos beiseite. Am Ende kam er immer wieder auf die Gemeinschaft zu sprechen. Wir sprachen auch viel über Deutschland und was sich in diesem Land ändern müsste."
Die Gemeinschaft – das ist der Punkt, an dem die Neubürger die zerrütteten Dorfbewohner packen. Denn sie entpuppen sich nicht sofort als Neonazis; sie bringen erst mal wieder Leben ins Dorf – und einen neuen Gemeinschaftssinn. Bei denen, die an ihrer Scholle hängen, punkten die Neuen, weil sie sich für biologische Landwirtschaft stark machen. Bei den Einsamen machen sie sich beliebt, indem sie alte und kranke Dorfbewohner zu Hause besuchen. Und mit dem Rest des Dorfes renovieren sie das alte baufällige Gemeindehaus, um dort nun fortwährend gemeinsam altdeutsche Feste zu feiern. Der Rest der Gemeinschaftsaktivitäten ist nicht ganz so harmlos.
"Reinhold ließ seinen Blick über die Runde wandern. "Bürgerwehr!" sagte er nach einer Weile. "Wir organisieren das selber. Wir stellen Patrouillen auf, die abends auf Streife gehen. Rund ums Dorf'."
Streife gehen, um sich gegen vermeintliche "polnische Eindringlinge" zu schützen, denn die polnische Grenze ist nicht weit. Die "Polacken" nennen sie sie und verstärken mit ihren Zündeleien, die eh schon schwelenden Vorurteile. Die Dorfbewohner ziehen mit. Die Unterstellungen der Neonazis treffen auf die offenen Ohren der anderen im Dorf. Auch bei Ben. Er geht mit auf Patrouille, er liest die deutschnationale Literatur, die die Neonazis ihm ans Herz legen, er übt mit den Zwillingen Konrad und Gunter, die etwas älter sind als er, paramilitärischen Drill.
Selbst als er bei einer Demonstration Rechtsextremer in Berlin am eigenen Leib erlebt, wie radikal und gewaltbereit seine neuen "Freunde" sind, kann er nicht von ihnen lassen. Misstrauisch wird Ben erst, als seine Nachbarn eines Nachts zwei Polen drangsalieren. Wird Ben es schaffen, sich dem Charme und der Gewalt der Rechtsextremen zu entziehen? Allein, weil man das erfahren möchte, liest sich "Braune Erde" streckenweise wie ein Krimi. Und das, obwohl die Charaktere oft zu holzschnittartig wirken und allzu plakative Parolen im Mund führen.
Die Sprache des Romans ist einfach gehalten, und wirkt authentisch, weil der, der spricht, der 15-jährige Protagonist Ben ist. Dass Daniel Höra jugendliche Leser abholen kann, hat er bereits mit seinem Roman "Gedisst" gezeigt, mit dem er bekannt geworden ist und in dem er die Bewohner einer trostlosen ostdeutschen Plattenbausiedlung porträtiert hat – einfühlsam und dennoch ohne Pathos. In "Braune Erde" gelingt ihm das wieder. Zwar leuchtet Höra die Mechanismen der Manipulation nicht bis ins Letzte aus. Dennoch wird klar: Perspektivlosigkeit ist ein idealer Nährboden für völkische Parolen. Wie Menschen trotz Zweifeln und Hemmungen zu Mitläufern werden, wie Neonazis ein Dorf in aller Ruhe infiltrieren können, das wird Jugendlichen an diesem Beispiel beklemmend und packend vor Augen geführt.
Buchinfos:
Daniel Höra: "Braune Erde", bloomsbury taschenbuch, ISBN: 978-3-833-35099-3, 304 Seiten, Preis: 8,99 Euro