Archiv


Die verlorene Generation

Die Arbeitslosigkeit in Italien steigt weiter. Besonders betroffen sind die Schul- und Studienabgänger. Jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos - im Süden sind es sogar 38 Prozent. Und wenn jemand eine Arbeit ergattert, wird diese meist nicht angemessen entlohnt.

Von Nadja Fischer |
    Das Wort "Zukunft" haben die jungen Italienerinnen und Italiener längst aus ihrem Vokabular gestrichen. Zu beschäftigt sind sie damit, in der Gegenwart über die Runden zu kommen. Die 33-jährige Ökonomin Valeria Roggero vermittelt in Rom Mikrokredite an Leute, die dringend Geld brauchen und es von den Banken nicht erhalten. Die Ökonomin selber steht aber nicht besser da.

    "Ich erhalte nur eine Spesenvergütung. Anfangs waren das 200 Euro im Monat, jetzt sind es 600 Euro. Aber auch mit 600 Euro kann ich nicht leben. Mit Freunden ausgehen, das liegt nur ab und zu drin. Und die teuren Kontaktlinsen bezahlen mir meine Eltern."

    Valeria Roggero lebt notgedrungen bei ihren Eltern - so wie heute jeder dritte Italiener in ihrem Alter. Doch Valeria hofft, bald auf eigenen Füssen zu stehen. Sie wechselt in Kürze zu einer Finanzgesellschaft, die ihr für dieselbe Arbeit 900 Euro Grundlohn bietet plus eine Umsatzbeteiligung; für Valeria Roggero eine markante Verbesserung. Von bezahlten Krankheits- und Ferientagen sowie von Rentenbeiträgen kann sie jedoch auch in Zukunft nur träumen.

    Feste Arbeitsplätze mit sozialem Schutz sind in Italien heute die Ausnahme. Private Unternehmen, aber auch Gemeinden, Krankenhäuser oder Schulen stellen praktisch nur noch befristete Verträge aus. Kommt dazu, dass es kaum transparente Bewerbungsverfahren gibt: 85 Prozent der freien Stellen werden gemäss der italienischen Handelskammer unter der Hand vergeben. In Italien kommt nicht weiter, wer am besten qualifiziert ist, sondern wer über die besten Kontakte verfügt.

    Für viele Junge scheint der Weg ins Ausland heute die einzige Alternative. Es sind aber nicht ungelernte Arbeiter und Bauern, die Italien verlassen, sondern die Studierten. Der Radiosender der Wirtschaftszeitung "Il sole 24 ore" widmet dieser neuen Emigrationswelle seit Anfang Jahr eine eigene Sendung, die der 35-jährige Journalist Sergio Nava betreut.

    "Man sprach in Italien schon lange vom Phänomen des 'Brain Dran' und meinte damit das Abwandern von Wissenschaftlern. Im Ausland wurde mir aber klar, dass längst nicht nur Wissenschaftler emigrieren, sondern auch Anwälte, Ingenieure, Journalisten, Ärzte und Musiker. Nicht, weil sie die Welt erobern wollen. Sondern mangels Zukunftsperspektiven in Italien. Ich realisierte, dass wir es mit einem Massenphänomen zu tun haben. Dass Hunderttausende junge Italiener ihrer Heimat den Rücken kehren."

    Italien ist drauf und dran, seine zukünftige Elite zu verlieren - und hat das lange kaum bemerkt. Dabei sei das Land dringend auf die junge Generation angewiesen, betont der 40-jährige Demografie-Professor Alessandro Rosina.

    "Es ist paradox: Wir haben in Italien so wenige Junge wie sonst nirgendwo in Europa - aber kaum ein anderes Land behandelt sie so schlecht wie wir! Weitsichtige Politiker würden erkennen, dass wir in unsere wenigen Jungen investieren müssten, zum Beispiel in unser marodes Bildungssystem, damit sie - wenigstens qualitativ - mit den Jungen im Ausland mithalten können. Jedes Land - auch Italien - braucht die Jungen, um wirtschaftlich wachsen und konkurrenzfähig bleiben zu können."

    Stattdessen hätten die Alten ihre Privilegien auf Kosten der Jungen verteidigt: Sie haben sich ihre guten Löhne und Renten gesichert und den Jungen horrend hohe Staatsschulden vererbt. Und sie haben auf dem Buckel der Jungen den Arbeitsmarkt flexibilisiert. Mit dem Ergebnis, dass die Generation der heute 30- und 40-Jährigen auf dem Abstellgleis steht.

    Hoffnung setzt der Demograf in die jüngere Generation - in die heute 25-Jährigen, die mit Internet aufgewachsen sind, sich dort ganz selbstverständlich in Netzwerken zusammentun und für ihre Anliegen kämpfen. Wenn die alte Elite in 10 bis 15 Jahren aus demografischen Gründen abtrete, könnte diese Generation die Führung des Landes übernehmen und es endlich modernisieren, meint Rosina. Sodass die nachkommenden Generationen im Bel Paese wieder eine Zukunft haben.

    Programmhinweis

    Am Samstag, 16.10.2010, um 11:05 Uhr befasst sich die Sendung "Gesichter Europas" im Deutschlandfunk mit dem Thema:

    Keine Zukunft im Bel Paese - Italien vernachlässigt seine junge Generation