Berlin, eine Straße gleich hinter dem Rathaus Schöneberg. Hier lebt im dritten Stock eines Mietshauses Christel Seidel, 76, früher war sie Redakteurin bei der Berliner Morgenpost. Seit einem Sturz vor knapp zwölf Monaten kann sie sich ohne Hilfe kaum noch in der Wohnung bewegen, von Spaziergängen in ihrem Kiez, dem Bayerischen Viertel, ganz zu schweigen. Sie ist auf die Hilfe des Schöneberger Pflegeteams angewiesen, mehrmals am Tag.
"Jetzt hilft man mir beim Rückenwaschen. Dann wird Frühstück gemacht. Dann werden die Betten gemacht. Und jetzt hab ich eben hier auch noch drei Mal über den Tag verteilt Hilfskräfte, die mir die Medikamente reichen."
Seit dem Tod ihres Mannes ist Christel Seidel allein in ihrer Zweizimmer-Wohnung. Deshalb sind die regelmäßigen Besuche für sie mehr als nur Hilfe zur Bewältigung ihres Alltages: Pfleger und Pflegerinnen sind ein Teil ihres sozialen Umfeldes geworden.
"Man spricht dabei, wenn man mir irgendetwas macht. Aber es ist ja persönlich überhaupt keinerlei Zeit, sagen wir mal, menschlich irgendwas zu pflegen und sich zu unterhalten. Und das bleibt alles auf der Strecke."
Denn ein Gespräch erkennt der medizinische Dienst, der begutachtet, welche Leistung von der Pflegeversicherung abzurechnen ist, nicht an.
Die Gutachter des Medizinischen Dienstes prüfen lediglich, welche Verrichtungen die Patienten nicht mehr selbstständig ausführen können. Haare kämmen, waschen, Zähne putzen - das alles wird zeitlich erfasst und addiert. Und die Versicherten werden dann in eine von drei Pflegestufen eingeordnet - mit entsprechender Anzahl an täglichen Pflegeminuten.
Christel Seidel, Pflegestufe eins, hat Anspruch auf 90 Minuten Pflege am Tag. Für Pflegerin Danielle Hense kann das in puren Stress ausarten.
"Wenn wir mit dem Patienten im Schlafzimmer sind, oder im Badezimmer oder im Wohnzimmer, wir reden schon mit dem Patienten die ganze Zeit, und fragen: Wie geht es ihnen? Was haben sie gemacht? Was haben sie vor? Aber Extra-Zeit gibt es einfach nicht."
Seit es die so genannte Minutenpflege gibt, leiden nicht nur die Patienten. Auch die Pflegekräfte sitzen zwischen den Stühlen - wenn sie sich die Zeit nehmen, die eigentlich nötig wäre, um individuell auf Patienten einzugehen, müssen die nächsten warten.
""Ich weiß, wenn ich zum Beispiel bei einem Patienten um sieben Uhr ankomme, habe ich nur 15 Minuten Zeit, und diese 15 Minuten muss ich für sie Frühstück vorbereiten und sie waschen."
Sigrid Almus leitet das Schöneberger Pflegeteam in der Berliner Grunewaldstraße. Für sie schon lange klar: Pfleger und Pflegerinnen müssen Idealisten sein. Das Gehalt allein reicht als Anreiz nicht aus. Wer hier arbeitet, muss bereit sein, draufzulegen, auch persönlich.
"Das erfordert eine enorme Haltungsarbeit, zu sagen, ok, auch dieser Patient, der 26., der ist auch noch wichtig. Dem muss ich auch noch mit Empathie begegnen können. Ohne, dass es auf meine Kosten geht. Jeder Mitarbeiter, der hier arbeitet, muss auch ein Selbstpflegekonzept haben. Wenn er das nicht verwirklicht hat, geht er unter und es kommt zum Burnout, automatisch."
Damit überarbeitete und überforderte Pflegekräfte nicht abstürzen, führt Sigrid Almus regelmäßig Supervisionen durch, in denen die Sorgen der einzelnen von der Gruppe aufgefangen werden. Auch dies ist keine Leistung, die von der Versicherung getragen wird.
Von einer Pflegereform wünscht sich Sigrid Almus vor allem, dass anerkannt wird, was wirklich gebraucht wird - und dass die allen lästige Pflegebürokratie abgebaut wird.
"Wir haben mal angefangen mit vier Seiten Pflegedokumentation. Inzwischen sind es 40 Seiten. Es ist nicht die Aufgabe der Pflege, alles zu dokumentieren. Sondern Aufgabe der Pflege ist es, zu pflegen."
Gesundheitsminister Daniel Bahr kennt die Klagen. Er tourt seit Monaten durch Pflegeheime, spricht mit dem Medizinischem Dienst und Angehörigen, mit Betroffenen und Wissenschaftlern, um sich inspirieren zu lassen. Die Pflegereform ist seine erste große Bewährungsprobe.
"Wir wollen Verbesserungen für Angehörige. Wir wollen ambulante Pflege vor stationärer unterstützen, weil die Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben wollen, nicht ins Heim abgeschoben werden sollen. Wir wollen auch etwas tun, dass die Bürokratie, die wir in der Pflege besonders zu beklagen haben, zurückgeführt wird. Und vor allem wollen wir die Finanzierung so stärken, dass sie Vorsorge trifft für die steigenden Kosten einer alternden Gesellschaft und damit Vorsorge stärkt für die steigenden Kosten von immer mehr Pflegebedürftigen."
Das klingt nach einem klaren Ziel: Pflegende Angehörige unterstützen, mehr Geld für Demenzkranke, die bislang nur wenig Hilfe bekommen. Und schließlich will Bahr die Pflegeversicherung auch noch auf die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft vorbereiten.
"Wir brauchen eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule. Wir wollen die Finanzierung der Pflegeversicherung auf mehr Beine stellen. Wir wollen sie durch eine Mischfinanzierung auch stabiler und sicherer machen."
Die schwarz-gelbe Koalition hat 2011 zum Jahr der Pflege ausgerufen. Doch der Reformmotor stockt bedenklich. Eigentlich wollte der Gesundheitsminister schon vor der Sommerpause Eckpunkte für die Umgestaltung vorlegen. Dann hieß es: Bis zum 23. September, also in drei Tagen, werde der Minister liefern. Auch diesen Termin konnte er nicht halten, wie er gestern einräumen musste. Die Differenzen in der Koalition sind einfach zu groß.
Auch nach monatelangem Ringen konnte sich die schwarz-gelbe Koalition nicht auf ein gemeinsames Modell verständigen. Schuld ist die Union, sagt nun der liberale Gesundheitsminister. Die brauche noch etwas Zeit, um sich zu sortieren. Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der Union, sieht das etwas differenzierter.
"Das ist eine gemeinsame Verantwortung von CDU, CSU und FDP, jetzt zu einer gemeinsamen Linie zu kommen. Wir sollten jetzt tatsächlich endlich in konkrete konstruktive Gespräche einsteigen, denn die Betroffenen - die pflegenden Angehörigen, die Pflegebedürftigen - erwarten zu Recht eine Lösung."
Alles hängt am Geld. Wie viel soll die Reform kosten, wie soll sie finanziert werden? Das ist ebenso wenig geklärt wie die Frage, wer künftig auf welche zusätzlichen Hilfen hoffen kann.
Die Situation erinnert fatal an das vergangene Jahr, als sich FDP, CDU und CSU einen erbitterten Grundsatzstreit über die Reform des Gesundheitssystems lieferten, ein Streit, der in gegenseitigen Beschimpfungen als Wildsäue und Gurkentruppe gipfelte. Ein Konflikt, der der die Koalition nachhaltig zerrüttete.
Auch jetzt stehen sich FDP und CSU wieder unversöhnlich gegenüber. Die Freien Liberalen plädieren für eine private Zusatzversicherung, die Christsozialen in München wollen zusätzliche Steuermilliarden ins System pumpen. Gesundheitsexperten in der Union wiederum plädieren für höhere Beiträge, um die Pflegekasse mit mehr Geld auszustatten.
Drei bis vier Milliarden Euro wären nötig, um die zusätzlichen Leistungen der Pflegekasse zu finanzieren, sagt der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang, Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Er schlägt eine moderate Beitragserhöhung vor, und hält auch die Einbeziehung der privat Versicherten für sinnvoll. Ein Vorschlag, der auch bei SPD und Grünen gut ankommt:
"Wir erlauben es uns, dass ein Teil der Bevölkerung, der, der eigentlich leistungsstark ist und dazu noch jung und gesund, nur für sich selber sorgt und aus der Solidarität mit dem anderen Teil, den Älteren, Kränkeren herausgenommen ist. Auch das könnte man abbauen durch einen Finanzausgleich zwischen den beiden Systemen oder indem man alle Versicherten in ein System führt. Auch das würde den Beitragssatzanstieg moderieren."
Gesundheitsminister Daniel Bahr dagegen will höhere Beiträge vermeiden. Schließlich hatte seine Partei den Wählern einst mehr netto vom Brutto versprochen. Und erst zu Jahresbeginn die Krankenkassenbeiträge angehoben. Erneute Belastungen, so fürchtet Bahr, kämen schlecht an beim Wähler.
Und nicht nur dort. Auch die Arbeitgeber machen Front gegen höhere Pflegebeiträge. Es geht auch kostenneutral, meint Volker Hansen, der Pflegeexperte der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände:
"Wenn man davon ausgeht, dass die Pflegeversicherung von Anfang an eine Teilkasko-Versicherung ist, dann muss man feststellen, dass der Anteil der Leistungen der Pflegekosten bei den unteren Pflegestufen relativ höher ist als bei den Schwerstpflegebedürftigen, und hier könnte man durch Umschichtungen dazu kommen, dass eben der Versorgungsgrad der Schwerstpflegebedürftigen erhöht wird und der der nicht so schwer Pflegebedürftigen etwas geringer wird."
Heißt im Klartext: Was Demenzkranken gegeben wird, muss anderen weggenommen werden. Eine heikle Strategie, weiß auch Gesundheitsminister Daniel Bahr, der inzwischen einräumt, dass gute Pflege nicht zum Nulltarif zu haben ist.
Bahr will die Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte Säule ergänzen, finanziert über einkommensunabhängige Pauschalen. Alle Versicherten sollen also zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Die Arbeitgeber, die bislang zur Hälfte die Pflegeversicherung mitfinanzieren, würden geschont. Mit dem Geld soll eine Rücklage aufgebaut werden, um die demografischen Lasten abzufedern. Derzeit sind die Pflegekassen zwar noch gut gefüllt, verfügen über Rücklagen von fünf Milliarden Euro. Aber in zwei, drei Jahren wird das Finanzpolster aufgebraucht sein.
Und die Finanzlage wird sich weiter verschärfen, denn immer weniger Beitragszahler müssen in Zukunft immer mehr Pflegebedürftige finanzieren. Ihre Zahl wird bis 2050 von derzeit 2,3 Millionen auf 4,4 Millionen steigen, schätzt das Gesundheitsministerium. Darauf müssen wir uns vorbereiten, sagt auch Jens Spahn, der Gesundheitsexperte der Union:
"Wir wissen heute schon, dass wir ab 2035 und in den folgenden zehn bis 20 Jahren eine sehr starke große Generation von über 80-Jährigen haben werden - also einen höheren Finanzbedarf auch für die Pflege -, und wir dürfen die Arbeitnehmer, die die Beiträge in den Jahren dann zahlen, auch nicht alleine lassen mit dieser Aufgabe, wenn wir heute schon wissen, da gibt es einen größeren Finanzbedarf. Und ich finde, für diese Zeit sollten wir dann heute schon beginnen zu sparen. Das ist fair für die, die dann Pflege brauchen, und es ist fair für die, die dann die Beiträge zahlen sollen."
Eine private Zusatzversicherung - finanziert über einkommensunabhängige Pauschalen - das ist mit der CSU nicht zu machen, schallt es indes aus München.
Auch Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände halten wenig von der Idee. Das Pflegerisiko darf nicht allein auf die Patienten abgewälzt werden, sagt Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands:
"Ich denke, es kann nicht angehen, dass hier die Politik sich aus der Verantwortung stiehlt und das Pflegeproblem jetzt wieder privatisieren will. Das ist der völlig falsche Weg."
Gefährlicher als die Proteste der Opposition ist für die Koalition aber der Widerstand aus München. CSU-Chef Horst Seehofer will keinen Kapitalstock. Er will stattdessen mehr Steuergeld ins System pumpen. Zusätzliche Leistung zum Beispiel für Demenzkranke, schwere Pflegefälle und Behinderte will Seehofer ganz aus der Pflegeversicherung ausgliedern. Dadurch kämen auf den Bundeshaushalt aber neue Milliardenlasten zu.
Auch das ein Vorschlag, der schwer durchzusetzen sein wird. Finanzminister Wolfgang Schäuble muss die Schuldenbremse einhalten. Seine Bereitschaft, zusätzliche Ausgaben zu finanzieren, ist gering. Aber auch Gesundheitspolitiker wie Jens Spahn halten den Vorschlag für wenig durchdacht:
"Ein schuldenfinanzierter Zukunftsfonds, wie es in dem Papier vorgeschlagen wird, von dem halte ich gar nichts, weil er ja am Ende die Probleme nicht löst. Der verschiebt die Kosten dann von der Pflegeversicherung in den Bundeshaushalt, tut aber nichts dafür, diese Kosten auch zu finanzieren."
Spahn selbst ist nun mit einem eigenen Konzept vorgeprescht.
Er schlägt ein Mischmodell vor, mit dem kurzfristig zwei Milliarden Euro bereitgestellt werden könnten. Der Trick dabei: 1,6 Milliarden Euro sollen die Krankenkassen übernehmen, die künftig die medizinische Behandlung in den Pflegeheimen, also etwa Verbände wechseln und Spritzen setzen, bezahlen sollen. Weitere 400 Millionen will Spahn durch höhere Beiträge einnehmen.
Außerdem will er bei den Versicherten eine Zukunftsprämie von fünf Euro monatlich einsammeln, um eine Kapitalreserve für die Zukunft anzulegen. Ein Kompromissmodell, das sowohl bei der FDP wie auch der CSU bislang eisiges Schweigen ausgelöst hat.
"Ganz ehrlich, wir versuchen unser Bestes. Aber wir gehen ganz oft mit einem schlechten Gewissen nach Hause, weil man viel mehr machen könnte."
Therese Hirsch ist Ergotherapeutin im Seniorenheim Sankt Kamillus der Caritas im Berliner Bezirk Charlottenburg. Die meisten ihrer Patienten sind Demenzkranke - was eine besondere Pflege erfordert. Denn rein motorisch sind Demenzkranke zu den allermeisten Tätigkeiten in der Lage, die im Alltag benötigt werden. Nur im Kopf verstehen sie nicht mehr, dass sie sie ausführen müssen.
"Ich zeig den Bewohnern, wie sie Essen aufnehmen, das ist manchmal sehr unkonventionell, weil manche mit den Fingern essen, uns ist aber wichtig, dass sie es selbst tun. Und das braucht manchmal viel Zeit."
Das Abrechnungssystem der Pflegeversicherung versagt bei Demenzkranken völlig. Denn, wendet man nur die Pflegestufen an, wäre das, was Therese Hirsch jeden Tag wieder mit ihren Patienten trainiert, schlicht nicht abrechnungsfähig. Demenzkranke sind nämlich theoretisch in der Lage, zu essen und sich zu waschen - nur eben praktisch nicht. In der Pflegerealität ist Improvisation deshalb die Regel. Und das ist nicht die einzige Sorge, die Therese Hirsch umtreibt - eine Pflegereform wäre für sie nur dann sinnvoll, wenn sie mehr Zeit für weniger Patienten hätte.
"Wenn man überlegt, dass ich als eine Person für 25 demenziell erkrankte Personen eingestellt bin, dann müsste dieser Schlüssel eigentlich geändert werden. Weil ich einfach als eine Person nicht an einem Tag 25 Bewohnern gerecht werden kann."
Und: Bei Demenzkranken ist die so genannte Minutenpflege, noch weniger anwendbar, als bei anderen Patienten. Schwester Franziska Schulze weiß, dass die Logik der Pflegedokumentation dann endet, wenn sie die Tür zu den Zimmern ihrer Patienten öffnet.
"Ich geh zu jedem einzelnen Bewohner, berücksichtige, dass ich da nicht Stunden verbringe, weil es warten andere, die versorgt werden wollen. Ich hab die Zeit im Blick, aber es geht nicht, dass ich den Toilettengang in einer Minute durchführe oder das Duschen."
Für Gabriele Schilling, Heimleiterin im Sankt Kamillus, ist klar, dass die Anforderungen der Pflegestufen nur dann funktionieren, wenn sie nicht befolgt werden. Die Zeit, die bei der Pflege benötigt wird, muss an anderer Stelle eingespart werden.
"Wir von der Caritas-Altenhilfe haben zum Beispiel die Pflegedokumentation sehr verschlankt. Wir haben ausgerechnet, mit dem neuen System sparen wir ungefähr 1.300 Stunden ein."
Von der Pflegereform verspricht sich Gabriele Schilling nicht nur, dass Pflegezeiten und -schlüssel neu berechnet werden. Vor allem wünscht sie sich ein Umdenken in der Gesellschaft insgesamt.
"Pflege soll geleistet werden, aber es will niemand dafür zahlen. Und das ist eine Sache, an die unsere Politiker ranmüssen."
Dabei ist die Pflegeversicherung gerade einmal 15 Jahre alt. Und doch schon grundlegend renovierungsbedürftig. Bei ihrer Einführung 1995 hielt der damalige Sozialminister Norbert Blüm die Neuerung noch für eine historische Errungenschaft:
"20 Jahre ist über Pflegeversicherung geredet worden. Heute ist der Tag, an dem das Reden zu Ende kommt. Deshalb ist das heute ein guter Tag für den Sozialstaat Deutschland."
Norbert Blüm hatte damit nicht einmal unrecht. Pflegebedürftige Menschen waren bis 1995 ganz auf sich gestellt, mussten Heimplatz oder häuslichen Pflegedienst aus eigener Tasche bezahlen. Wer das nicht konnte, musste sich ans Sozialamt wenden. Ein unhaltbarer Zustand, den Blüm mit der neuen Pflegeversicherung beenden wollte. Die übernimmt seit 1995 immerhin einen Teil der Kosten für die ambulante oder stationäre Hilfe. Doch die Defizite sind nicht zu übersehen.
Deshalb müsse das System grundlegend überholt werden, sagt der SPD-Politiker Karl Lauterbach:
"Die meisten Länder haben ja schon umgestellt, dieses, sage ich einmal, aus der Buchhaltung fast kommende System der Minutenpflege, was in Deutschland seit etwa acht Jahren beklagt wird und seit vier Jahren reformiert, wäre umzustellen. Es kostet mehr Geld. Aber ich kenne niemand, der dieses System noch verteidigen würde."
Die gesamte Konstruktion der Pflegeversicherung muss korrigiert werden, sagt nicht nur Karl Lauterbach. Wir müssen wegkommen von der Minutenzählerei, müssen neu definieren, was wir unter Pflegebedürftigkeit verstehen. Wir müssen das System vom Kopf auf die Füße stellen, sagt Claus Fussek, Pflegexperte und Bestsellerautor:
"Es ist schlichtweg pervers, dass wir, je schlechter gepflegt wird, desto mehr Geld gibt es in diesem System. Es verdienen, eine ganze Industrie verdient an den Folgen in den schlechten Heimen."
Leidtragende sind die pflegenden Angehörigen. Sie werden allein gelassen mit der Aufgabe, Pflege, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, klagt die Pflegeexpertin Christel Bienstein, Professorin an der Universität Witten-Herdecke seit Jahren:
"Ich kümmere mich sehr viel um Menschen, die rund um die Uhr pflegebedürftig sind - zum Beispiel junge Menschen im Wachkoma. Und die Familien, die landen fast alle in der Sozialhilfe."
Zwei Drittel der Pflegebedürftigen in Deutschland werden zuhause von Angehörigen gepflegt. Eine Aufgabe, die ungeheure Kräfte erfordert, sagt Stefan Görres, Professor am Institut für Public Health und Pflegeforschung in Bremen.
"Häufig klagen die pflegenden Angehörigen über Burnout. Jahrelang haben sie keinen Urlaub mehr machen können. Frauen müssen ihren Beruf aufgeben usw. Und da, glaube ich, brauchen wir mindestens genauso viel Unterstützung wie für die Professionellen."
Dringend nötig wären zudem Regelungen, die es Familienangehörigen erlauben, die Pflege besser mit dem
Beruf zu vereinbaren. Die Bundesregierung will eine zweijährige Familienpflegezeit einführen, sie soll pflegenden Angehörigen ermöglichen, die Arbeitszeit bis auf 15 Stunden herunterzufahren.
Der Entwurf für die Familienpflegezeit wird derzeit im Parlament diskutiert, zuständig ist das Familienministerium. Soweit ist Gesundheitsminister Daniel Bahr längst nicht. Er muss erstmal Konsens in der Koalition herstellen. Das ist nach wie vor eine schwierige Angelegenheit. Bahr sucht daher den Ratschlag der Experten, hat den Pflegebeirat reaktiviert. Der soll nun Vorschläge ausarbeiten, wie der Pflegebegriff ausformuliert und umgesetzt werden soll. Jetzt ist die Politik am Zug, sagt dagegen Heinz Rothgang. Er ist Mitglied des Pflegebeirates:
"Der Verdacht drängt sich doch auf, dass die Politik versucht hier, indem sie dem Beirat wieder zuspielt, auch Zeit zu gewinnen und sich vor Entscheidungen zu drücken."
Ähnlich sieht es Volker Hansen, der Pflegeexperte der Arbeitgeberverbände. Er fürchtet, dass auch das Minimalziel in Gefahr gerät: in dieser Legislaturperiode überhaupt noch eine Reform umzusetzen.
"Im Moment sehe ich keinen Vorschlag, der in der Koalition mehrheitsfähig ist."
Jens Spahn, der Gesundheitsexperte der Union beschwichtigt. Auf einen konkreten Termin will er sich aber auch nicht festlegen lassen:
"Wenn die Zeit reif ist, wird es gute Entscheidungen geben."
"Jetzt hilft man mir beim Rückenwaschen. Dann wird Frühstück gemacht. Dann werden die Betten gemacht. Und jetzt hab ich eben hier auch noch drei Mal über den Tag verteilt Hilfskräfte, die mir die Medikamente reichen."
Seit dem Tod ihres Mannes ist Christel Seidel allein in ihrer Zweizimmer-Wohnung. Deshalb sind die regelmäßigen Besuche für sie mehr als nur Hilfe zur Bewältigung ihres Alltages: Pfleger und Pflegerinnen sind ein Teil ihres sozialen Umfeldes geworden.
"Man spricht dabei, wenn man mir irgendetwas macht. Aber es ist ja persönlich überhaupt keinerlei Zeit, sagen wir mal, menschlich irgendwas zu pflegen und sich zu unterhalten. Und das bleibt alles auf der Strecke."
Denn ein Gespräch erkennt der medizinische Dienst, der begutachtet, welche Leistung von der Pflegeversicherung abzurechnen ist, nicht an.
Die Gutachter des Medizinischen Dienstes prüfen lediglich, welche Verrichtungen die Patienten nicht mehr selbstständig ausführen können. Haare kämmen, waschen, Zähne putzen - das alles wird zeitlich erfasst und addiert. Und die Versicherten werden dann in eine von drei Pflegestufen eingeordnet - mit entsprechender Anzahl an täglichen Pflegeminuten.
Christel Seidel, Pflegestufe eins, hat Anspruch auf 90 Minuten Pflege am Tag. Für Pflegerin Danielle Hense kann das in puren Stress ausarten.
"Wenn wir mit dem Patienten im Schlafzimmer sind, oder im Badezimmer oder im Wohnzimmer, wir reden schon mit dem Patienten die ganze Zeit, und fragen: Wie geht es ihnen? Was haben sie gemacht? Was haben sie vor? Aber Extra-Zeit gibt es einfach nicht."
Seit es die so genannte Minutenpflege gibt, leiden nicht nur die Patienten. Auch die Pflegekräfte sitzen zwischen den Stühlen - wenn sie sich die Zeit nehmen, die eigentlich nötig wäre, um individuell auf Patienten einzugehen, müssen die nächsten warten.
""Ich weiß, wenn ich zum Beispiel bei einem Patienten um sieben Uhr ankomme, habe ich nur 15 Minuten Zeit, und diese 15 Minuten muss ich für sie Frühstück vorbereiten und sie waschen."
Sigrid Almus leitet das Schöneberger Pflegeteam in der Berliner Grunewaldstraße. Für sie schon lange klar: Pfleger und Pflegerinnen müssen Idealisten sein. Das Gehalt allein reicht als Anreiz nicht aus. Wer hier arbeitet, muss bereit sein, draufzulegen, auch persönlich.
"Das erfordert eine enorme Haltungsarbeit, zu sagen, ok, auch dieser Patient, der 26., der ist auch noch wichtig. Dem muss ich auch noch mit Empathie begegnen können. Ohne, dass es auf meine Kosten geht. Jeder Mitarbeiter, der hier arbeitet, muss auch ein Selbstpflegekonzept haben. Wenn er das nicht verwirklicht hat, geht er unter und es kommt zum Burnout, automatisch."
Damit überarbeitete und überforderte Pflegekräfte nicht abstürzen, führt Sigrid Almus regelmäßig Supervisionen durch, in denen die Sorgen der einzelnen von der Gruppe aufgefangen werden. Auch dies ist keine Leistung, die von der Versicherung getragen wird.
Von einer Pflegereform wünscht sich Sigrid Almus vor allem, dass anerkannt wird, was wirklich gebraucht wird - und dass die allen lästige Pflegebürokratie abgebaut wird.
"Wir haben mal angefangen mit vier Seiten Pflegedokumentation. Inzwischen sind es 40 Seiten. Es ist nicht die Aufgabe der Pflege, alles zu dokumentieren. Sondern Aufgabe der Pflege ist es, zu pflegen."
Gesundheitsminister Daniel Bahr kennt die Klagen. Er tourt seit Monaten durch Pflegeheime, spricht mit dem Medizinischem Dienst und Angehörigen, mit Betroffenen und Wissenschaftlern, um sich inspirieren zu lassen. Die Pflegereform ist seine erste große Bewährungsprobe.
"Wir wollen Verbesserungen für Angehörige. Wir wollen ambulante Pflege vor stationärer unterstützen, weil die Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben wollen, nicht ins Heim abgeschoben werden sollen. Wir wollen auch etwas tun, dass die Bürokratie, die wir in der Pflege besonders zu beklagen haben, zurückgeführt wird. Und vor allem wollen wir die Finanzierung so stärken, dass sie Vorsorge trifft für die steigenden Kosten einer alternden Gesellschaft und damit Vorsorge stärkt für die steigenden Kosten von immer mehr Pflegebedürftigen."
Das klingt nach einem klaren Ziel: Pflegende Angehörige unterstützen, mehr Geld für Demenzkranke, die bislang nur wenig Hilfe bekommen. Und schließlich will Bahr die Pflegeversicherung auch noch auf die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft vorbereiten.
"Wir brauchen eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule. Wir wollen die Finanzierung der Pflegeversicherung auf mehr Beine stellen. Wir wollen sie durch eine Mischfinanzierung auch stabiler und sicherer machen."
Die schwarz-gelbe Koalition hat 2011 zum Jahr der Pflege ausgerufen. Doch der Reformmotor stockt bedenklich. Eigentlich wollte der Gesundheitsminister schon vor der Sommerpause Eckpunkte für die Umgestaltung vorlegen. Dann hieß es: Bis zum 23. September, also in drei Tagen, werde der Minister liefern. Auch diesen Termin konnte er nicht halten, wie er gestern einräumen musste. Die Differenzen in der Koalition sind einfach zu groß.
Auch nach monatelangem Ringen konnte sich die schwarz-gelbe Koalition nicht auf ein gemeinsames Modell verständigen. Schuld ist die Union, sagt nun der liberale Gesundheitsminister. Die brauche noch etwas Zeit, um sich zu sortieren. Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der Union, sieht das etwas differenzierter.
"Das ist eine gemeinsame Verantwortung von CDU, CSU und FDP, jetzt zu einer gemeinsamen Linie zu kommen. Wir sollten jetzt tatsächlich endlich in konkrete konstruktive Gespräche einsteigen, denn die Betroffenen - die pflegenden Angehörigen, die Pflegebedürftigen - erwarten zu Recht eine Lösung."
Alles hängt am Geld. Wie viel soll die Reform kosten, wie soll sie finanziert werden? Das ist ebenso wenig geklärt wie die Frage, wer künftig auf welche zusätzlichen Hilfen hoffen kann.
Die Situation erinnert fatal an das vergangene Jahr, als sich FDP, CDU und CSU einen erbitterten Grundsatzstreit über die Reform des Gesundheitssystems lieferten, ein Streit, der in gegenseitigen Beschimpfungen als Wildsäue und Gurkentruppe gipfelte. Ein Konflikt, der der die Koalition nachhaltig zerrüttete.
Auch jetzt stehen sich FDP und CSU wieder unversöhnlich gegenüber. Die Freien Liberalen plädieren für eine private Zusatzversicherung, die Christsozialen in München wollen zusätzliche Steuermilliarden ins System pumpen. Gesundheitsexperten in der Union wiederum plädieren für höhere Beiträge, um die Pflegekasse mit mehr Geld auszustatten.
Drei bis vier Milliarden Euro wären nötig, um die zusätzlichen Leistungen der Pflegekasse zu finanzieren, sagt der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang, Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Er schlägt eine moderate Beitragserhöhung vor, und hält auch die Einbeziehung der privat Versicherten für sinnvoll. Ein Vorschlag, der auch bei SPD und Grünen gut ankommt:
"Wir erlauben es uns, dass ein Teil der Bevölkerung, der, der eigentlich leistungsstark ist und dazu noch jung und gesund, nur für sich selber sorgt und aus der Solidarität mit dem anderen Teil, den Älteren, Kränkeren herausgenommen ist. Auch das könnte man abbauen durch einen Finanzausgleich zwischen den beiden Systemen oder indem man alle Versicherten in ein System führt. Auch das würde den Beitragssatzanstieg moderieren."
Gesundheitsminister Daniel Bahr dagegen will höhere Beiträge vermeiden. Schließlich hatte seine Partei den Wählern einst mehr netto vom Brutto versprochen. Und erst zu Jahresbeginn die Krankenkassenbeiträge angehoben. Erneute Belastungen, so fürchtet Bahr, kämen schlecht an beim Wähler.
Und nicht nur dort. Auch die Arbeitgeber machen Front gegen höhere Pflegebeiträge. Es geht auch kostenneutral, meint Volker Hansen, der Pflegeexperte der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände:
"Wenn man davon ausgeht, dass die Pflegeversicherung von Anfang an eine Teilkasko-Versicherung ist, dann muss man feststellen, dass der Anteil der Leistungen der Pflegekosten bei den unteren Pflegestufen relativ höher ist als bei den Schwerstpflegebedürftigen, und hier könnte man durch Umschichtungen dazu kommen, dass eben der Versorgungsgrad der Schwerstpflegebedürftigen erhöht wird und der der nicht so schwer Pflegebedürftigen etwas geringer wird."
Heißt im Klartext: Was Demenzkranken gegeben wird, muss anderen weggenommen werden. Eine heikle Strategie, weiß auch Gesundheitsminister Daniel Bahr, der inzwischen einräumt, dass gute Pflege nicht zum Nulltarif zu haben ist.
Bahr will die Pflegeversicherung durch eine kapitalgedeckte Säule ergänzen, finanziert über einkommensunabhängige Pauschalen. Alle Versicherten sollen also zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Die Arbeitgeber, die bislang zur Hälfte die Pflegeversicherung mitfinanzieren, würden geschont. Mit dem Geld soll eine Rücklage aufgebaut werden, um die demografischen Lasten abzufedern. Derzeit sind die Pflegekassen zwar noch gut gefüllt, verfügen über Rücklagen von fünf Milliarden Euro. Aber in zwei, drei Jahren wird das Finanzpolster aufgebraucht sein.
Und die Finanzlage wird sich weiter verschärfen, denn immer weniger Beitragszahler müssen in Zukunft immer mehr Pflegebedürftige finanzieren. Ihre Zahl wird bis 2050 von derzeit 2,3 Millionen auf 4,4 Millionen steigen, schätzt das Gesundheitsministerium. Darauf müssen wir uns vorbereiten, sagt auch Jens Spahn, der Gesundheitsexperte der Union:
"Wir wissen heute schon, dass wir ab 2035 und in den folgenden zehn bis 20 Jahren eine sehr starke große Generation von über 80-Jährigen haben werden - also einen höheren Finanzbedarf auch für die Pflege -, und wir dürfen die Arbeitnehmer, die die Beiträge in den Jahren dann zahlen, auch nicht alleine lassen mit dieser Aufgabe, wenn wir heute schon wissen, da gibt es einen größeren Finanzbedarf. Und ich finde, für diese Zeit sollten wir dann heute schon beginnen zu sparen. Das ist fair für die, die dann Pflege brauchen, und es ist fair für die, die dann die Beiträge zahlen sollen."
Eine private Zusatzversicherung - finanziert über einkommensunabhängige Pauschalen - das ist mit der CSU nicht zu machen, schallt es indes aus München.
Auch Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände halten wenig von der Idee. Das Pflegerisiko darf nicht allein auf die Patienten abgewälzt werden, sagt Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands:
"Ich denke, es kann nicht angehen, dass hier die Politik sich aus der Verantwortung stiehlt und das Pflegeproblem jetzt wieder privatisieren will. Das ist der völlig falsche Weg."
Gefährlicher als die Proteste der Opposition ist für die Koalition aber der Widerstand aus München. CSU-Chef Horst Seehofer will keinen Kapitalstock. Er will stattdessen mehr Steuergeld ins System pumpen. Zusätzliche Leistung zum Beispiel für Demenzkranke, schwere Pflegefälle und Behinderte will Seehofer ganz aus der Pflegeversicherung ausgliedern. Dadurch kämen auf den Bundeshaushalt aber neue Milliardenlasten zu.
Auch das ein Vorschlag, der schwer durchzusetzen sein wird. Finanzminister Wolfgang Schäuble muss die Schuldenbremse einhalten. Seine Bereitschaft, zusätzliche Ausgaben zu finanzieren, ist gering. Aber auch Gesundheitspolitiker wie Jens Spahn halten den Vorschlag für wenig durchdacht:
"Ein schuldenfinanzierter Zukunftsfonds, wie es in dem Papier vorgeschlagen wird, von dem halte ich gar nichts, weil er ja am Ende die Probleme nicht löst. Der verschiebt die Kosten dann von der Pflegeversicherung in den Bundeshaushalt, tut aber nichts dafür, diese Kosten auch zu finanzieren."
Spahn selbst ist nun mit einem eigenen Konzept vorgeprescht.
Er schlägt ein Mischmodell vor, mit dem kurzfristig zwei Milliarden Euro bereitgestellt werden könnten. Der Trick dabei: 1,6 Milliarden Euro sollen die Krankenkassen übernehmen, die künftig die medizinische Behandlung in den Pflegeheimen, also etwa Verbände wechseln und Spritzen setzen, bezahlen sollen. Weitere 400 Millionen will Spahn durch höhere Beiträge einnehmen.
Außerdem will er bei den Versicherten eine Zukunftsprämie von fünf Euro monatlich einsammeln, um eine Kapitalreserve für die Zukunft anzulegen. Ein Kompromissmodell, das sowohl bei der FDP wie auch der CSU bislang eisiges Schweigen ausgelöst hat.
"Ganz ehrlich, wir versuchen unser Bestes. Aber wir gehen ganz oft mit einem schlechten Gewissen nach Hause, weil man viel mehr machen könnte."
Therese Hirsch ist Ergotherapeutin im Seniorenheim Sankt Kamillus der Caritas im Berliner Bezirk Charlottenburg. Die meisten ihrer Patienten sind Demenzkranke - was eine besondere Pflege erfordert. Denn rein motorisch sind Demenzkranke zu den allermeisten Tätigkeiten in der Lage, die im Alltag benötigt werden. Nur im Kopf verstehen sie nicht mehr, dass sie sie ausführen müssen.
"Ich zeig den Bewohnern, wie sie Essen aufnehmen, das ist manchmal sehr unkonventionell, weil manche mit den Fingern essen, uns ist aber wichtig, dass sie es selbst tun. Und das braucht manchmal viel Zeit."
Das Abrechnungssystem der Pflegeversicherung versagt bei Demenzkranken völlig. Denn, wendet man nur die Pflegestufen an, wäre das, was Therese Hirsch jeden Tag wieder mit ihren Patienten trainiert, schlicht nicht abrechnungsfähig. Demenzkranke sind nämlich theoretisch in der Lage, zu essen und sich zu waschen - nur eben praktisch nicht. In der Pflegerealität ist Improvisation deshalb die Regel. Und das ist nicht die einzige Sorge, die Therese Hirsch umtreibt - eine Pflegereform wäre für sie nur dann sinnvoll, wenn sie mehr Zeit für weniger Patienten hätte.
"Wenn man überlegt, dass ich als eine Person für 25 demenziell erkrankte Personen eingestellt bin, dann müsste dieser Schlüssel eigentlich geändert werden. Weil ich einfach als eine Person nicht an einem Tag 25 Bewohnern gerecht werden kann."
Und: Bei Demenzkranken ist die so genannte Minutenpflege, noch weniger anwendbar, als bei anderen Patienten. Schwester Franziska Schulze weiß, dass die Logik der Pflegedokumentation dann endet, wenn sie die Tür zu den Zimmern ihrer Patienten öffnet.
"Ich geh zu jedem einzelnen Bewohner, berücksichtige, dass ich da nicht Stunden verbringe, weil es warten andere, die versorgt werden wollen. Ich hab die Zeit im Blick, aber es geht nicht, dass ich den Toilettengang in einer Minute durchführe oder das Duschen."
Für Gabriele Schilling, Heimleiterin im Sankt Kamillus, ist klar, dass die Anforderungen der Pflegestufen nur dann funktionieren, wenn sie nicht befolgt werden. Die Zeit, die bei der Pflege benötigt wird, muss an anderer Stelle eingespart werden.
"Wir von der Caritas-Altenhilfe haben zum Beispiel die Pflegedokumentation sehr verschlankt. Wir haben ausgerechnet, mit dem neuen System sparen wir ungefähr 1.300 Stunden ein."
Von der Pflegereform verspricht sich Gabriele Schilling nicht nur, dass Pflegezeiten und -schlüssel neu berechnet werden. Vor allem wünscht sie sich ein Umdenken in der Gesellschaft insgesamt.
"Pflege soll geleistet werden, aber es will niemand dafür zahlen. Und das ist eine Sache, an die unsere Politiker ranmüssen."
Dabei ist die Pflegeversicherung gerade einmal 15 Jahre alt. Und doch schon grundlegend renovierungsbedürftig. Bei ihrer Einführung 1995 hielt der damalige Sozialminister Norbert Blüm die Neuerung noch für eine historische Errungenschaft:
"20 Jahre ist über Pflegeversicherung geredet worden. Heute ist der Tag, an dem das Reden zu Ende kommt. Deshalb ist das heute ein guter Tag für den Sozialstaat Deutschland."
Norbert Blüm hatte damit nicht einmal unrecht. Pflegebedürftige Menschen waren bis 1995 ganz auf sich gestellt, mussten Heimplatz oder häuslichen Pflegedienst aus eigener Tasche bezahlen. Wer das nicht konnte, musste sich ans Sozialamt wenden. Ein unhaltbarer Zustand, den Blüm mit der neuen Pflegeversicherung beenden wollte. Die übernimmt seit 1995 immerhin einen Teil der Kosten für die ambulante oder stationäre Hilfe. Doch die Defizite sind nicht zu übersehen.
Deshalb müsse das System grundlegend überholt werden, sagt der SPD-Politiker Karl Lauterbach:
"Die meisten Länder haben ja schon umgestellt, dieses, sage ich einmal, aus der Buchhaltung fast kommende System der Minutenpflege, was in Deutschland seit etwa acht Jahren beklagt wird und seit vier Jahren reformiert, wäre umzustellen. Es kostet mehr Geld. Aber ich kenne niemand, der dieses System noch verteidigen würde."
Die gesamte Konstruktion der Pflegeversicherung muss korrigiert werden, sagt nicht nur Karl Lauterbach. Wir müssen wegkommen von der Minutenzählerei, müssen neu definieren, was wir unter Pflegebedürftigkeit verstehen. Wir müssen das System vom Kopf auf die Füße stellen, sagt Claus Fussek, Pflegexperte und Bestsellerautor:
"Es ist schlichtweg pervers, dass wir, je schlechter gepflegt wird, desto mehr Geld gibt es in diesem System. Es verdienen, eine ganze Industrie verdient an den Folgen in den schlechten Heimen."
Leidtragende sind die pflegenden Angehörigen. Sie werden allein gelassen mit der Aufgabe, Pflege, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, klagt die Pflegeexpertin Christel Bienstein, Professorin an der Universität Witten-Herdecke seit Jahren:
"Ich kümmere mich sehr viel um Menschen, die rund um die Uhr pflegebedürftig sind - zum Beispiel junge Menschen im Wachkoma. Und die Familien, die landen fast alle in der Sozialhilfe."
Zwei Drittel der Pflegebedürftigen in Deutschland werden zuhause von Angehörigen gepflegt. Eine Aufgabe, die ungeheure Kräfte erfordert, sagt Stefan Görres, Professor am Institut für Public Health und Pflegeforschung in Bremen.
"Häufig klagen die pflegenden Angehörigen über Burnout. Jahrelang haben sie keinen Urlaub mehr machen können. Frauen müssen ihren Beruf aufgeben usw. Und da, glaube ich, brauchen wir mindestens genauso viel Unterstützung wie für die Professionellen."
Dringend nötig wären zudem Regelungen, die es Familienangehörigen erlauben, die Pflege besser mit dem
Beruf zu vereinbaren. Die Bundesregierung will eine zweijährige Familienpflegezeit einführen, sie soll pflegenden Angehörigen ermöglichen, die Arbeitszeit bis auf 15 Stunden herunterzufahren.
Der Entwurf für die Familienpflegezeit wird derzeit im Parlament diskutiert, zuständig ist das Familienministerium. Soweit ist Gesundheitsminister Daniel Bahr längst nicht. Er muss erstmal Konsens in der Koalition herstellen. Das ist nach wie vor eine schwierige Angelegenheit. Bahr sucht daher den Ratschlag der Experten, hat den Pflegebeirat reaktiviert. Der soll nun Vorschläge ausarbeiten, wie der Pflegebegriff ausformuliert und umgesetzt werden soll. Jetzt ist die Politik am Zug, sagt dagegen Heinz Rothgang. Er ist Mitglied des Pflegebeirates:
"Der Verdacht drängt sich doch auf, dass die Politik versucht hier, indem sie dem Beirat wieder zuspielt, auch Zeit zu gewinnen und sich vor Entscheidungen zu drücken."
Ähnlich sieht es Volker Hansen, der Pflegeexperte der Arbeitgeberverbände. Er fürchtet, dass auch das Minimalziel in Gefahr gerät: in dieser Legislaturperiode überhaupt noch eine Reform umzusetzen.
"Im Moment sehe ich keinen Vorschlag, der in der Koalition mehrheitsfähig ist."
Jens Spahn, der Gesundheitsexperte der Union beschwichtigt. Auf einen konkreten Termin will er sich aber auch nicht festlegen lassen:
"Wenn die Zeit reif ist, wird es gute Entscheidungen geben."