Archiv


Die verschwindenden Büros

Hier dreht sich sehr viel ums Sitzen und dies in mehr als einem Sinn. Aber der Drehstuhl als klassische Designerfindung für den professionellen Sitzer findet bei der Orgatec 2002 neue Dimensionen der Verbreitung und Vertiefung. Zum einen: er muss mehr können, viel mehr, er kippt, schwingt, vibriert, massiert, sendet Wellness-Feelings aus, denn, zum anderen, er wird produziert für eine weitgehend im Sitzen arbeitende Bevölkerung. Aber nicht nur weil der homo erectus zu 80 Prozent auf seinen vier Buchstaben gelandet ist, sieht eine Leitmesse für das zukunftsfähige Büro streckenweise aus wie ein weiträumiges und nobel gestaltetes Lager ergonomischer Hightech-Maschinchen und repräsentativer Vorstands-Sitzgelegenheiten: Stuhl und Tisch sind in der Ära elektronischer Kommunikation und non-territorialer Arbeitsplätze das Reelle, die Zurückführung auf das Notwendigste, die man im Maßstab der Unternehmensführung Verschlankung nennt. An einer einzigen Poststelle bleibt der schweifende Blick hängen, einer Organisationseinheit also, in der Briefe von draußen oder zwischen den Mitarbeitern sortiert und weitergeleitet werden, aber wer schreibt noch Briefe, der der Kollegin im Nebenzimmer auch mailen kann?

Anmerkungen von Beatrix Novy |
    Anders als die Möbelmesse gibt es die Orgatec nur alle zwei Jahre. Das gibt ihr den Vorteil , nicht allzu krampfig dem Zeitgeist neueste Entwicklungen ablauschen zu müssen, um ihm mit Innovationen entgegenzutreten. In der Welt der Arbeit passiert derzeit genug, um einer Orgatec glaubhaften Handlungsbedarf und überzeugende Motive zu bieten. Der moderne Nomade, ein Thema aller Möbel- und Büromöbelmessen seit Jahren, ist noch selbstverständlicher geworden, und seit Flexibilität, Selbstmanagement, alternierende Arbeitsplätzen auch die Verwaltungen erreicht haben, kann ein Rollschrank und eine Hängeregisterschublade nicht mehr der Weisheit letzter Schluss sein.

    Ein anderer Schrank drängt sich ins Blickfeld: Ein Kubus, 1 x 1 qm messend, ausklappbar und ausziehbar der Stuhl, die Schreibplatte, Schubladen, Ablagen, Zeitschriftenhalter: das universelle und autarke Mikrobüro also, genial, das Parallelsystem zum beliebten Küchenmodul für das Single-Privatleben. Die Geborgenheit, die diese mobile Arbeitseinheit durch den schwenkbaren silence-wall vermittelt, als Isolation zu verkennen, hieße die guten Absichten missdeuten, die hinter den Errungenschaften für das in Lohn und Brot verbleibende Arbeitsvolk stehen. "In wirtschaftlich angespannten Situationen", schreibt der Pressedienst der Messe, "rückt der arbeitende Mensch einmal mehr in den Vordergrund, dass er aber den größten betrieblichen Kostenfaktor darstellt, kommt kaum zur Sprache".

    Ganz so ist es nicht, der größte Kostenfaktor wird mit eben diesem Argument täglich zu Tausenden auf die Straße befördert, auf dem Rest aber, mahnen Büromöbel-Produzenten, sollte das unternehmerische Augenmerk liegen: "Die Last, die der einzelne zu tragen hat, steigt angesichts personeller Ausdünnungen massiv an" - die Leistungsträger, zu denen ehemalige Arbeitnehmer mutiert sind, die freilich werden in der Zukunft, Zitat "immer mehr selber entscheiden, ob sie im Sitzen, Liegen oder Stehen arbeiten wollen". Bilder aus dem alten Rom drängen sich auf, Bilder von Gelagen, die zu Orgien werden - dabei geht es nur um die orthopädische Vermeidung eines dann doch unerwünschten Antrags auf Frühinvalidität.

    Link: mehr ...

    212.html