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Die Verwüstung Deutschlands

Als hätte Peter Englund die drei Fäden seines historischen Geflechts in die Grundfarben getaucht, so verwebt er - einem großen Wandteppich gleich - die oftmals verwirrenden Geschehnisse des 30jährigen Krieges zu einem detaillierten, dennoch überschaubaren Panorama. Peter Englund verknüpft die Karrieregeschichte eines Mannes einfacher Herkunft mit dieser wesentlichen Epoche europäischer Geschichte, die im Rückblick zum Beginn der Neuzeit werden sollte. Zugleich fädelt er als dritten Strang ein umfassendes kulturgeschichtliches Portät jener krisengeschüttelten Zeit in seine Darstellung ein. Die drei Stränge verbindet Peter Englund, so daß sich ein Bild Europas in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ergibt, und zwar aus einer schwedischen Perspektive.

Sven Jürgensen | 09.04.1998
    Da ist zum einen die Hauptperson Erik Jönsson Dahlberg, Repräsentant einer ganzen Epoche, des chaotischen 17. Jahrhunderts. Erik Jönsson Dahlberg: zumindest dem historisch bewanderten Schweden als Militärperson und Zeichner gut bekannt. So lautet ein durchaus notwendiger Hinweis Peter Englunds für den deutschen Leser. Dennoch will dieses Buch keine Biographie sein. Es erzählt die Geschichte des 30jährigen Krieges nicht aus der subjektiven Sicht Dahlbergs, obwohl das erste Kapitel doch diesen Eindruck erzeugt. Dieses Kapitel setzt nämlich nicht mit dem 30jährigen Krieg ein, weder mit seinem Anfang - dem berühmten Prager Fenstersturz, noch mit seinem Ende, dem Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück im Jahre 1648. Statt dessen läßt Peter Englund seine Hauptperson viel später im Jahre 1656 in Venedig mit größter Eile losreiten, und zwar nach Norden, Richtung Polen, wo der schwedische König Karl Gustav einen Krieg angezettelt hatte. Hier beobachtet "der Mann aus Italien" den Kampf bei Warschau, soweit all der Staub und Qualm ihm dies überhaupt ermöglichen. Wenige Wochen nach dieser Schlacht steckt Dahlberg sich mit der Pest an, ist dem Tode nahe und kommt doch mit dem Leben davon. In seinem Tagebuch notiert Dahlberg, daß sein Verstand "gleichsam tropfenweise nach und nach zurückzukehren begann".

    Diese Tagebuchnotiz läßt Peter Englund nun danach fragen, was der Genesende wohl schon gesehen, was sein Bewußtsein wohl bestimmt haben mag. In seinem Geburtsjahr 1625 tobte der 30jährige Krieg bereits einige Jahre, und ein Ende war noch längst nicht in Sicht. Von hier entwickelt Peter Englund nun die verfahrene Welt des 30jährigen Krieges, um nach über 600 Seiten seine Hauptfigur dort wieder zu erreichen, wo sie eingangs losgeritten war. Die Lebensgeschichte Dahlbergs wird auf diesem Weg aber oft so sehr an den Rand gedrängt, daß sie in vielen Kapiteln lediglich mit wenigen Worten kurz gestriffen wird. Überhaupt bleibt das Bild Dahlbergs eigentümlich blaß, selbst in den Passagen, die sich stärker der Karriere dieses Mannes widmen. Vielleicht ist diese Unschärfe aber auf die Diskretion eines wissenschaftlich arbeitenden Historikers zurückzuführen, der eben nicht ausmalen will, sondern lediglich das erzählen kann, was historisch verbürgt ist. Dennoch ist die Frage nach Englunds Verhältnis zu Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus naheliegend. Hat dieses große Vorbild aus dem 17. Jahrhundert den schwedischen Historiker beeinflußt? Er selbst beantwortet die Frage folgendermaßen: "Ich glaube, ich habe es drei mal gelesen. Und ich denke es ist ein wundervolles Buch, ein erschreckendes, aber auch ein lustiges Buch. Es beeinflußte mich in einem bestimmten Sinne: Grimmelshausen zeigt alle Aspekte des Krieges. Seine Geschichte ist sehr lang und mäandrisch. Sie startet nicht bei Punkt A, um auf kürzestem Weg geradlinig den Punkt B zu erreichen. Statt dessen wird diese Geschichte auf Umwegen erzählt, auf denen die verschiedensten Dinge passieren - ganz so wie im wirklichen Leben und in der Historie. In diesem Sinne hat Grimmelshausen mich beeinflußt."

    Die eigentliche Stärke dieses Buches über die Verwüstung Deutschlands im 30-jährigen Krieg liegt in der strukturierenden Kraft der Analyse. Sie bedient sich einer leichtgängigen, überaus sinnlichen Sprache, die das Elend und Leid jener Zeit gleichsam sichtbar und hörbar werden läßt. Seinen Weg in die Kulturgeschichte findet Peter Englund an vielen Stellen über Assoziationen, die ihn bestimmte Stichwörter liefern. So nimmt er beispielsweise das Frühjahr 1644, als Erik Jönsson zu einer reisenden Person geworden war, zum Anlaß, um der Frage nachzugehen, wie der Alltag auf Reisen im 17. Jahrhundert aussah. Der Beschreibung der langsamen Transportmittel schiebt er einen Exkurs über die Langsamkeit ein, die in der hellsichtigen Beobachtung gipfelt: "Eile war nur etwas für Leute, die unter anderer Leute Befehl standen. Sie war das Signum des Dieners. Langsam zu sein war eine Art und Weise zu zeigen, daß man selbst Herr über seine Zeit war."

    Eine andere Gelegenheit nutzt Peter Englund für einen Exkurs über Mode. Die Verhandlungsdelegationen reisten nämlich mit viel Pomp nach Münster und Osnabrück: Ein guter Anlaß, um die Kleidung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorzustellen. Peter Englund ist es auf diese Weise gelungen, ein wissenschaftlich fundiertes Buch populär zu schreiben. Er selbst meint: "Mein Buch ist eine Mischung aus beiden. Es basiert selbstverständlich auf historischen Forschungen, auf meinen Forschungen und denen anderer Historiker. Aber ich experimentiere mit einer Sprache, die man normalerweise in Romanen benutzt. Gleichwohl basiert alles auf Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen."

    Einerseits läßt Peter Englund keinen Zweifel an der ungeheuren historischen Distanz, die den Leser vom 30jährigen Krieg trennt. Andererseits vollbringt er aber das Kunststück, die Ereignisse dieses ersten europäischen Krieges von den Staubwolken zu befreien, um sie dem Leser fast greifbar nahe zu bringen. Dabei wird immer wieder deutlich, welche furchtbare Eigendynamik dieser Krieg erzeugte, wie er den verantwortlichen Politikern und Militärs immer mehr aus den Händen glitt. Das einzige Subjekt dieses Krieges war der Krieg selbst. Er sollte so lange dauern, wie er selbst sich ernähren konnte. So scheiterte der Feldzug einer zunächst durchaus erfolgreichen Armee immer wieder an den Versorgungsschwierigkeiten, an Desertionen, Hunger und Krankheiten. Peter Englund hebt hervor: "Eine Armee in Bewegung hinterließ eine schwer heilende Narbe von Zertörung entlang ihres Weges, konnte aber trotz allem unberührte Regionen erreichen. Eine stillstehende Armee schuf unweigerlich eine wachsende Wüste um sich her, eine Wüste, die im Quadrat zu der Zeit zu wachsen schien, die im Lager verbracht wurde."

    Immer wieder verhungerten also die Armeen durch ihren eigenen Erfolg - so wie überhaupt die meisten Menschen in diesen Jahren des wechselseitigen Gemetzels nicht unmittelbar in den Schlachten zu Tode kamen, sondern durch die Folgeerscheinungen des Krieges. Konsequenterweise zeigt dieses Buch den Westfälischen Frieden daher auch nicht als ein Resultat überparteilicher Vernunft - ganz im Gegenteil: dieser Krieg wurde nur deswegen beendet, weil keiner der Kontrahenten in dem völlig verödeten Deutschland mehr Gewinne erwarten konnte. Zuletzt ging es darum, wer die ungeheuren Kosten für die Demobilisierung des schwedischen Heeres übernehmen sollte. Denn mit der Demobilisierung wurden Kredite fällig, die der verschuldete schwedische Staat nicht aus eigener Tasche zahlen konnte. Auch muß man sich immer wieder vergegenwärtigen: Der Krieg hat zwar viel Leid gebracht, viele Menschen haben aber auch von ihm gelebt. Entsprechend läßt Peter Englund die Männer fragen: "Was sollen wir tun, wenn nun Frieden ist? Wir sind im Krieg geboren, haben kein Heim oder Vaterland oder Freunde. Der Krieg ist unser einziges Gut. Wohin sollen wir nun gehen?"

    Erst als das Problem der Demobilisierungskosten geklärt war, stimmten die siegreichen Schweden dem Friedensvertrag zu. Peter Englund schreibt: "Als der Krieg 1648 endete, geschah dies auch nicht mit einem großen und dramatischen, für alle hörbaren Knall, sondern er verendete gleichsam mit einem langsamen Röcheln."

    Dennoch betont Peter Englund die Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648: "Es war so ein großes Ereignis, daß zum ersten Mal alle europäischen Staaten, alle europäischen Völker in ein und dasselbe Geschehen involviert waren. Das hat es vorher noch nicht gegeben. Es war das erste Mal, daß alle europäischen Staaten, alle wichtigen Politiker, die alle möglichen Völker, alle möglichen Sprachen repräsentieren, zusammenkamen. In diesem Sinne war es das erste europäische Ereignis."

    Schade, daß der scharfsinnige Autor kein Wort über den Friedensvertrag von Münster und Osnabrück verliert, der nach all den Greueln erstaunlicherweise vorschreibt, daß alles in immerwährendem Vergessen begraben sein solle. Die für den Leser so vertraute ‘Aufarbeitung der Vergangenheit’ scheint damals eine aussichtslose Aufgabe gewesen zu sein.