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Die Visitenkarte der Armut

In Großstädten gehören sie zum Stadtbild: Obdachlose oder Bedürftige, die vorbei eilenden Passanten Straßenzeitungen anbieten. Zu den ersten Magazinen diese Art zählte "Hinz und Kunzt" aus Hamburg. Vor 20 Jahren konnten die Macher von der heutigen 70.000er-Auflage nur träumen. Andere Träume von damals blieben dagegen Illusion.

Von Swantje Unterberg |
    "Ihr vielleicht 'ne Zeitung?" Schiebermütze, St.-Pauli-Pulli, die Jeans hochgekrempelt über die Springerstiefel:Das ist Chaka, wie er am Hamburger Rathausmarkt steht und die Straßenzeitung "Hinz und Kunzt" anbietet. Die Passanten spricht er nur selten an, er will nicht aufdringlich sein, nicht stören.

    "Ich verkaufe Hinz und Kunzt seit etwa knapp über zwei Jahren aus der Not heraus, weil ich nicht betteln will und die Leute belästigen. Darum verkauf ich Hinz und Kunzt. Um mein eigenes Gesicht zu bewahren. Ich kaufe die Zeitung ja für 90 Cent auf und versuche die selber noch an den Mann zu bringen, und das ist gar nicht so einfach."

    Chaka, 35 Jahre alt und obdachlos, seit er mit 14 Jahren aus einem Heim abgehauen ist, ist einer von 500 Zeitungsverkäufern, die vor Supermärkten und am Eingang zu Einkaufspassagen das Monatsmagazin "Hinz und Kunzt" anbieten. Nicht nur Zubrot sein, sondern den Verkäufern Würde zurückgeben, sie auf Augenhöhe bringen und ihnen in ein neues Leben verhelfen – mit diesen Ansprüchen ist "Hinz und Kunzt" vor 20 Jahren als Kooperationsprojekt zwischen Journalisten und Obdachlosen gestartet. Nicht ohne Lehrgeld zu bezahlen, sagt Chefredakteurin Birgit Müller:

    "Wir hatten die Illusion, einen Zustand, der über Jahre einen Menschen bedroht, belastet und geschädigt hat, zu schnell abzuschaffen Wir hatten gehofft, dass jemand dadurch, dass er wieder eine Aufgabe hat, gleich alle seine Probleme über Bord werfen kann."

    Birgit Müller war von Anfang an dabei. Die Abschaffung der Obdachlosigkeit, das blieb eine Illusion. Doch: Das Heft wurde gekauft: Die Auflage verdoppelte sich zu Beginn mit jeder Ausgabe, noch heute ist Hinz und Kunzt mit etwa 70.000 Zeitungen im Monat die auflagenstärkste unter den rund 30 deutschen Straßenzeitungen.

    "Und was wir damals zum Beispiel nicht gedacht hätten, ist, dass wir auch als Magazin so eine soziale Stimme in der Stadt werden würden, wir wollten das immer sein, auf eine Art, aber dass wir so eine politische soziale Stimme werden würden, das haben wir nicht erwartet."

    Fast 5600 Verkäufer in 20 Jahren
    Die kleine Redaktion um Birgit Müller macht Lobbyarbeit, das ist ihr Selbstverständnis. Anwaltlichen Journalismus, der die Vertreibung von Bettlern aus der Innenstadt auf die Agenda setzt, der die Lebenswelten von Armen und Obdachlosen thematisiert. Auch investigativ:

    "Die Geschichten, die ich am tollsten finde, sind so zustande gekommen, dass ein Verkäufer etwas aus seiner Lebenswirklichkeit erzählt, sich darüber aufregt. Und wir mit unseren Mitteln, mit unseren Recherchemöglichkeiten dem sozusagen nachgehen und auf diese Art und Weise sind unsere mit besten Geschichten entstanden."

    In drei Hotelreports berichteten sie etwa über Hungerlöhne für Reinigungskräfte und deckte 2010 den größten Mietskandal Hamburgs um einen CDU-Politiker auf.

    In den Geschäftsräumen der Zeitung in der nähe des Hauptbahnhofes ist nicht nur die Redaktion zu Hause, sondern auch die Sozialarbeiter des Projekts und der Vertrieb, in dem mehrheitlich ehemalige Obdachlose angestellt sind.

    Die Zeitung geht hier für 90 Cent das Stück über den Tresen und die Plätze werden vergeben, an denen die Verkäufer die Hinz und Kunzt für 1,90 Euro anbieten.

    5570 Menschen haben in den vergangenen 20 Jahren "Hinz und Kunzt" verkauft. Die Klientel hat sich über die Jahre gewandelt. Zunächst vor allem Alkoholkranke und Junkies, dann auch Mittelstand in der Krise: Mit den Hartz-IV-Gesetzen kamen sehr junge Arbeitslose und Rentner hinzu, es folgten Zuwanderer aus Süd- und Osteuropa. Zuletzt öffnete sich das Projekt für Roma.

    Und das Internet? Seit zwei Jahren ist "Hinz und Kunzt" auch mit tagesaktuellen Artikeln im Netz vertreten, berichtet etwa über die Flüchtlingsproteste in der Stadt, stellt den rassistischen Ressentiments gegen "die Zigeuner" einen Faktencheck gegenüber – und erschließt sich durch soziale Netzwerke jüngere Leser. Doch trotz offener Fragen zu neuer Armut und neuen Medien ist eines auch für die Zukunft klar. Birgit Müller:

    "Nur der Verkäufer draußen kann zeigen, wie es eigentlich auf der Straße aussieht, welche Not herrscht und kann aber auch den Weg nach draußen liefern, er ist die beste Visitenkarte, die man überhaupt zum Thema Armut haben kann."