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Die Vogelwelt des Jadebusens
Federleichtes Glück?

Der Jadebusen ist eine Meeresbucht zwischen der Unterweser und der Ostfriesischen Halbinsel. Es ist die Jahreszeit, in der an ihm Scharen von Wildgänsen und bezaubernde Formationen ziehender Enten und zuweilen auch wolkenschwarze Haufen von Staren und Drosseln erscheinen. Aber viele Vogelarten sind vom Aussterben bedroht.

Von Jule Reiner |
    Eine Vogelfeder liegt auf Herbstlaub
    Biologen und Ornithologen warnen, dass die Vogelbestände durch den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft stark zurückgehen. Und man müsse für kommende Generationen befürchten, es werde irgendwann ein "Stummer Frühling" einkehren. (picture alliance / dpa / Hinrich Bäsemann)
    Wir sind zurück in dieser fernen stillen Welt, wo der Horizont nicht aufhört und die Nachfahren der Chauken, der ersten germanischen Siedler im friesischen Land, ihre Freiheit genießen. Dort, wo das oberste Gesetz noch immer lautet: "Wer nicht will Deichen, der muss weichen." Angekommen am Jadebusen im kleinen Jade-Schweiburg, das uns mit seinen 750 Einwohnern schon fast zu einer anderen Heimat geworden ist und wo im alten Ortskern die schmucke klinkerrote St. Vithus Kirche die höchste Erhebung vor dem Deich darstellt. Am frühen Morgen fein durch die Luft sprühender Regen, als ich mit meinem Hund entlang den Wassergräben durch die Marschwiesen ziehe.
    Scharen von Wildgänsen
    Die Kühe liegen gemütlich malmend im triefenden Gras. Ihr warmer Atem schon mit einem Hauch Raureif vor den weichen Nasen.
    Der Deichanwohner Jacobs, den man in der weiten Landschaft zuverlässig am blauen Drillich und dem schlohweißen vollen Haarschopf erkennt, hat das Wiesenland vor seinem Hof inzwischen mit Staketen aus Kastanienholz umzäunt, hat Bäume gesetzt und einen großen Teich angelegt. Wir uns dieses Mal in seinem Hof eingemietet in einer mit altem Fachwerk kunstvoll aufgestockten Wohnung unterm Eulenschlag. Jahrhunderte alte windgeeichte Bäume umstehen das frei in der Marsch liegende Anwesen, und Kastanien und Eicheln prasseln in kleinen Salven aufs Hausdach und in den Hofgarten. Und tritt man vors Haus, schaut man geradezu über den gebogenen Horizont hinaus. Es ist die Jahreszeit, in der an ihm Scharen von Wildgänsen und bezaubernde Formationen ziehender Enten und zuweilen auch wolkenschwarze Haufen von Staren und Drosseln erscheinen. Dieses Schauspiel wollten wir erleben. Zugleich sind um den Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer die Zugvogeltage ausgerufen mit vielen naturkundlichen Veranstaltungen zum Thema. Und wir hören uns zunächst den wundersamen Vortrag eines Mannes an, der nahezu alle Stimmen der Vogelarten imitieren kann.
    "Diese Vogelstimmen nur so als kleine Einstimmung. Dann werd´ ich jetzt mal um die Einstimmung weiterzuführen - ich kann ja immer nur eine Stimme zur gleichen Zeit. Außer vielleicht einen Trupp Pfeifenten, das ich krieg ich auch hin mit mehreren – (imitiert sie). Ich habe auf meinen CDs ganze Konzerte gemacht, also Imitationen, Klangbilder. Und ein Klangbild heißt: An der Küste."
    Geschichten aus der Vogelwelt
    Wir haben am Wochenende einen Ausflug auf die Insel Langeoog gemacht, um dort Uwe Westphal zu treffen, jenen als Vogelmann in Rundfunk und Fernsehen bekannt gewordenen Biologen und Vogelstimmenimitator. Mühelos unterhält er sein Publikum mit lautmalerischen Geschichten aus der Vogelwelt und erwärmt uns für das geheimnisvolle Leben von Basstölpeln, Goldregenpfeifern und Pfuhlschnepfen. Sein tieferes Anliegen ist dabei, auf den Schwund so vieler der heimischen Vogelarten aufmerksam zu machen und für ihren Schutz einzutreten. Und ganz nebenbei haben wir in seinem Vortrag auch erfahren, welche Kobolde es wohl sind, die uns an manch einem in wattedicke Nebelschwaden gehüllten Tag in Jade auf den Wegen durchs Moor zu wispern wie zarte Gespenster.
    "Der Kiebitz ruft ja seinen Namen und zwar je nach der Situation in unterschiedlicher Betonung. Wenn er zum Beispiel einen Menschen oder einen Fuchs angreift, energisch: Oder wenn er erschreckt ist und ängstlich: Und früher als es noch viele Moore gab, sagte man immer: schaurig übers Moor zu gehen. Wenn es dann neblig war und es überall noch diese Vögel gab, eben Kiebitz und Goldregenpfeifer. Es gibt in Deutschland glaube ich noch ein halbes Dutzend Goldregenpfeifer als Durchzügler hier. Die Nordischen sind häufig aber die Südlichen, glaube ich, sind noch sechs Paare. Und man stelle sich vor man schreitet also durch dieses Moor, das war ja früher alles noch nass und nicht entwässert und dann kommt man den Kiebitzgelegen zu nahe, man sieht nichts weil es neblig ist und dann den Flügelschlag, den hört man auch, dieses Wuchteln. Und überall die Kiebitze und Goldregenpfeier, und deswegen dachte man, das wären die Rufe der Seelen der Verstorbenen, die durchs Moor irren. Deswegen war es schaurig."
    Schafe stehen auf einer Weide
    Schafe sind für die Deichsicherheit unverzichtbar. Entlang der Küstenstraße "Am Tiefen Fahrwasser" bei Wilhelmshaven weiden fast überall Schafe. Sie tragen zum Erhalt der Deiche bei. Die Schafe halten das Gras kurz und treten auch den Boden fest. (picture alliance / dpa / Klaus Nowottnick)
    Die Reise nach Langeoog schien uns zwar um Welten von Jade zu trennen. Hier war kaum ein Wispern aus Mooren und Marschen zu vernehmen. Aber wir wissen von den Mitbürgern unserer anderen Heimat, dass auch sie aus diesem Grund gerne nach oben auf die Ostfriesischen Inseln fahren. Um das auf- und ablaufende Meer an den Stränden zu erleben und nicht nur den Salzwiesengürtel und den Schlick des Watts vor Augen zu haben wie am Jadebusen. Endlose Strandspaziergänge, mit den Kindern Drachen steigen lassen, riesige Sandburgfestungen bauen, mit dem Fahrrad durch die Dünen zuckeln oder ins Spaßbad gehen, das alles löst jetzt auf der Insel die Badesaison ab. Und abends flaniert man durchs "Dorf", wie die einzige Ortschaft auf Langeoog genannt wird, um nahezu städtisch essen zu gehen. Aber auch gut 150 Zuschauer sind am Abend zu Uwe Westphals Vortrag zu den Zugvogeltagen gekommen. Es ist wirklich hinreißend wie der sensible Mann mit geschlossenen Augen zur Pfeifente, zum Brachvogel, zum Rotschenkel und anderen Bewohnern des Wattenmeeres wird. Uwe Westphal ist in Norddeutschland auf einem Bauernhof aufgewachsen und beschäftigt sich seit dem 11. Lebensjahr mit der Vogelsprache. Sein erster Dialog mit einem Rauchschwalbenküken im Kuhstall ging dann so:
    "Wir hatten jedenfalls mehrere Schwalben da und ich hatte mein Fahrrad da stehen. Ja, und ich kam eines Tages dahin und wollte Fahrrad fahren. Und da saß ein kleines, gerade flügge gewordenes Schwalbenkind auf dem Fahrradlenker. Hm, denk ich, was machst du jetzt. Bin ich hingegangen und hab erst mal guten Tag gesagt. Natürlich nicht auf Hochdeutsch und nicht Plattdeutsch sondern auf Rauchschwalbisch, die Kontaktrufe der Rauchschwalben: "twuit-twuit-twuit". Dann hat sie mich ganz groß angekuckt und hat sich gedacht "hm, der sieht nicht aus wie unsere Eltern". (Lachen im Publikum) Aber er spricht unsere Sprache. Mal sehen was er zu sagen hat und ob er vielleicht noch `ne Fliege mitgebracht hat. Und dann hat sie erst mal schüchtern mit dem breiten Schnabel, den Jungvögel so haben, ganz schüchtern geantwortet: "fuit-fuit-fuit". Und ich habe geantwortet: "Hallo ich bin der Uwe und wer bist Du?" Und dann wurde sie mutiger "twuit-twuit...fuitfuitfuit". Und dann konnte ich hingehen und konnte ihr den Handrücken untern Bauch halten und sie ist da raufgestiegen. Dann haben wir uns gegenseitig angezwitschert. Aber nun wurde unsere Idylle jählings gestört weil die Schwalbeneltern durch das Fenster kamen: "Oh Gott, oh Gott-oh Gott, der Mensch will unser Kind fressen". Haben sich fürchterlich aufgeregt (Pfeifen, Zetern). Da hab ich gesagt, "Eltern ist alles in Ordnung!". (pfeift) Da waren die völlig verblüfft, flogen paar Runden, schimpften und lockten, schließlich landeten sie überm Kuhstall am Balken und lockten ihrerseits das Kleine. Das flog hoch und ich konnte Fahrrad fahren."
    Farbfoto einer Rauchschwalbe sitzt auf einem Zweig mit Nestmaterial im Schnabel
    Viele Vogelarten sind vom Aussterben bedroht. (Imago/Blickwinkel)
    Auch wir machen anderntags eine kleine Radtour durch das Langeooger Pirolatal. Entlang des Weges liegen der Nichtraucherstrand, der Hundestrand, der Drachenstrand. Alles hat seine Ordnung auf der Insel. In den Dünen zwitschert und zilpt es, doch der Wind trägt die Geräusche schnell fort. Jungstare flattern in schwirrenden Wolken auf und sind vielleicht die ersten, die sich schon zum Zug formieren. Wir haben im Vortrag erfahren, dass Watvögel ihre Gesänge im Frühling in ihren Brutgebieten anstimmen. Das Wattenmeer ist die Drehscheibe zwischen ihren Brutplätzen in der russischen Tundra und dem Weiterflug in ihre südlichen Winterquartiere. Hier haben sie im Herbst nichts anderes zu tun, als sich für die kräftezehrende Reise vollzufuttern und Fettreserven zu tanken. Die brauchen sie für ihre nonstop Flüge von 4.500 und mehr Kilometern bis ans Mittelmeer und nach Afrika bis Mauretanien. Wieder zurück in Jade wollen wir ihnen am reich gedeckten Tisch des Wattenmeeres dabei zusehen.
    Großferngläser für Zugvogeltouristen
    Es ist nochmals einer dieser Glanztage, an dem das Herbstlaub der Eichen in rot-goldenem Ornat strahlt. Die Marschwiesen leuchten in schrillem Grün, darin staksen fast reglos Reiher und lauern mit vorgestrecktem Hals auf Beute. Über dem Deich dreht ein Trupp Nonnengänse eine herrliche Pirouette. In der Nordwest-Zeitung war auch die Sensationsmeldung zu lesen, dass "Ein sehr seltener Gast in der Wesermarsch" zu Besuch gekommen ist. Ein Uhu, der plötzlich in der benachbarten Ortschaft Diekmannshausen im Baum saß. Es ist ein Jungvogel und man hofft, er wird sich einnisten. Nicht weit von Jade liegt die Kleinstadt Varel mit ihrem Hafen und der Schleuse zur Fahrrinne hinaus auf die See. Am Hafenkanal gibt es bei Fisch-Arndt die besten Krabbenbrötchen zu schnabulieren. Dann geht es am Kanal entlang, vorbei an flotten Yachten, schönen alten Kuttern und Bootshäusern bis zur Schleuse. Die Luft wird immer frischer und hinter der Schleuse und dem Deich wirkt die Stille über den Salzwiesen wie ein Echo für die jauchzenden Rufe der Silbermöven. An der letzten Landspitze vor dem Watt ist ein Beobachtungsturm errichtet. Und dort hinaus spazieren wir mit anderen Zugvogeltouristen, die mit Ferngläsern und enormen Teleobjektiven behängt sind.
    Der Turm ist kein Schmuckstück, nur ein Gerüst mit drei Plattformen. Darauf sind Großferngläser postiert und junge Rangerinnen vom Nationalpark Wattenmeer stellen sie uns auf interessante Stellen im Watt ein. So kann ich einem großen Brachvogel folgen und einigen Pfuhlschnepfen. Zierliche zartbraun und weiß gefärbte flinke Läufer, die mit ihren langen Schnäbeln nach Wattwürmern stochern. Und an anderer Stelle posiert ein schöner schwarzer Vogel mit weißem Bauch, rotem Schnabel und langen roten Beinen auf einem Holzpfahl – ein Austernfischer. Wenig weiter drüben liegen zwei Robben elegisch auf einer Sandbank.
    Blick übers Watt mit den typischen Wattwurm-Häufchen
    Blick übers Watt mit den typischen Wattwurm-Häufchen (Deutschlandradio / Axel Schröder)
    So aus dem tonlosen Watt auf Augenhöhe heranholt, scheinen sie einer wundersamen Anderswelt anzugehören. Ein zärtliches, die Sinne beruhigendes Erlebnis. Mit einem Mal wogt ein weißer Schwall auf, fegt übers Watt, teilt sich wie eine auseinanderbrechende Welle und sinkt wie Schaum ins Watt zurück. "Das könnten Silberreiher sein", ruft die Rangerin auf dem Turm. Selten in dieser Gegend, kann das sein. Ja, es sind Silberreiher." Das ist nach dem Uhu die zweite Sensation eines Tages in Jade! Eine Dame auf der obersten Plattform sagt, das sei ihr schönster Turmtag seit sie ans Wattenmeer komme. So federleicht kann das Glück sein. Auf dem Rückweg zum Deich prasseln die Strahlen der Abendsonne durch eine dunkelviolette Wolke, und das Licht gleist und hüllt eine Baumgruppe ein wie einen lodernden Flecken. Auf dem Deichweg stoppt ein Radfahrer und scheint das fast übersinnliche Licht fotografieren zu wollen. Aber es verschwindet wie mit einem Schlag, die Figur des Radfahrers wirkt nun schwarz und plan wie ein Scherenschnitt und harsche Kälte zieht vom Meer heran. Die Zugvögel müssen sich jetzt beeilen, um für ihre große Reise genügend Fettreserven aus dem Watt zu puhlen. Das Doppelte ihres Körpergewichtes müssen sie zulegen und dann ihre Körperfunktionen zurückschalten. In den Lüften werden sie nur von ihren Reserven zehren und gleiten und gleiten. Auch das Wetter muss ihnen beim Start gewogen sein, damit sie mit Rückenwind in sternenklare Nächte aufsteigen können und den richtigen Weg finden. Müssten sie umkehren, würden sie schon zu viel von ihrem Flugbenzin einbüßen. Aber auch während der Stärkungstage aufgescheuchte Vögel verlieren Energie, die ihnen für den Weiterflug fehlen würde. So ist der Schutz des Wattenmeeres als UNESCO Weltnaturerbe ihr großes Glück. Hunderttausend Schlickkrebse, fünfzigtausend Wattschnecken, dreihundert Herzmuscheln können auf einem Quadratmeter Wattfläche zu holen sein. Als Garnitur vielleicht noch ein paar Wattwürmer, Miesmuscheln, Sandklaffmuscheln und Seeringelwürmer gefällig. Dann mal alle ran an den Speck! Und viel Glück auf eurem Flug.
    Tierstimmen-Imitator Uwe Westphal
    Der Tierstimmen-Imitator Uwe Westphal (Foto: Uwe Westphal)
    Während ich nun dies erzähle, sind sie schon fast alle weggeflogen. Der November kam und drohte mit nasser Kälte und ersten Frösten. Und Millionen der leichtgewichtigen Fresserchen vom Wattenmeer sind auf den ostatlantischen Flugweg gegangen. Und nun folgen die Dezemberstürme und auf den Höfen in Jade sind die Ställe eingestreut und das Vieh ist von den Weiden herunter. Die kurzen dunklen Tage sind dazu da, so hat es unsere Nachbarin auf dem Louisenhof ausgedrückt, es "sich so richtig muckelig zu machen". Mit Kaminfeuer und viel heißem Tee, dazu vielleicht Uwe Westphals Buch mit dem netten Titel "Schräge Vögel". Mit heiterem und erstaunlichem Blick entwickelt er darin die Portraits von über 40 ganz besonderen heimischen Vogelarten. Sie tragen selten gehörte Namen wie Neuntöter, Ziegenmelker oder Ortolan. Auch unsere kleinen im Watt beobachteten Schnepfenverwandte, die Scolopacidae, sind darunter. Sie heißen Alpenstrandläufer, Knutt und Sanderling. Auch die etwas größeren Pfuhlschnepfen gehören zu ihnen und sind die Rekordflieger unter den Zugvögeln. Eine kleine Pfuhlschnepfe, die mit einem Satellitensender ausgestattet war, flog in neun Tagen nonstop von Alaska quer über den Pazifik nach Neuseeland – eine Strecke von rund 11 700 Kilometern. Wie viele der Zugvögel jedoch nicht in unseren Frühling zurückkehren, darüber haben wir mit Uwe Westphal am Beispiel einiger stark bedrohter Arten traurige Bilanz gezogen.
    "Ja, das ist eine neue Entwicklung. Die Basstölpel die fliegen runter bis an die westafrikanische Küste. Und da sind spezialisierte Fischtrawler unterwegs, oder Trawler, die aber keine Fische fischen, sondern Tölpel. Und die werden gleich an Bord portioniert und fertig gemacht und nach China geschickt. Weil die Chinesen essen sie. Das ist natürlich eine Entwicklung, die man auch im Auge behalten muss. Also die Chinesen haben gerade die Weidenammer an den Rand des Aussterbens gebracht. In Europa ist die Weidenammer ausgestorben. Von Ostfinnland bis in den Fernen Osten war sie weit verbreitet. Ja und irgendwann gab es sie in Finnland nicht mehr und mittlerweile gibt es sie im gesamten europäischen Teil Russlands nicht mehr und dann hat man sich gefragt, wieso eigentlich. Wieso kann ein Vogel in so kurzer Zeit so stark zurückgehen. Und da hat man festgestellt, dass sie in ihren südostasiatischen Winterquartieren geradezu industriell systematisch gefangen werden und gegessen werden. Und insgesamt hat das Ausmaße angenommen, die kaum vorstellbar sind. Allein in Ägypten gibt es auf 700 Kilometer Küstenlänge gigantische Fanganlagen nahezu lückenlos, die alles wegfangen. Man nimmt an, dass das Millionen Vögel sind, jedes Jahr, die gefangen werden. Und auch sonst auf dem Balkan wird auch geschossen. Vor allen Dingen auf Enten, auf Greifvögel. Man hat immer Südeuropa im Fokus, aber die Balkanroute ist auch nicht ungefährlich. Und Malta lebt nach der Devise: Kein Vogel verlässt die Insel lebend."
    Und noch etwas anderes beschäftigt den Wissenschaftler auch hierzulande. Das sind die fortschreitend entstehenden Agrarsteppen mit großflächigen Monokulturen, die Versiegelung der Dörfer, die Unwirtlichkeit der Städte, wo die Vögel zu enormen Anpassungsleistungen gezwungen sind, um noch Nahrung zu finden. Zu vielen unserer heimischen Arten gelingt aber diese Anpassung nur schlecht oder gar nicht.
    Buch "Schräge Vögel" geht unter die Haut
    Die Geschichte eines Vogels ist mir im Buch "Schräge Vögel" besonders unter die Haut gegangen. Es ist die des Ortolans, einem spatzenartigen hübschen grau-braun-weiß gefiederten melancholischen Sänger, auch als Gartenammer bekannt. Es gibt bei uns nur noch zwei Verbreitungsgebiete dieses stark von nachhaltigen Landwirtschaftsformen und Wärme abhängigen kleinen Pechvogels. Im Wendland und in Mainfranken greifen ihm Naturschützer und Landwirte mit aufwendigen Erhaltungsprojekten unter die Flügel. Schätzungsweise 50.000 der streng geschützten Vögel gibt es noch bei uns. Nur sind Ortolane unter den heimischen Ammernarten die einzigen, die auch ausgesprochene Zugvögel sind. Und was ihnen dann auf ihrem Zug widerfährt, mag Uwe Westphal in seiner ruhigen wissenschaftlichen Art schildern. Mich macht es zu zornig.
    "Der Ortolan der zieht über Frankreich und Spanien bis ins tropische Afrika. Das ist immer schon risikoreich, weil in Afrika ändert sich auch die Landschaft, da werden auch Pestizide ausgebracht und der Klimawandel wirkt sich aus. Aber in Frankreich werden sie als besondere Delikatesse geschätzt. Schon seit Römerzeiten eigentlich. Die werden massenhaft mit Lockvögeln gefangen, anschließend gemästet über drei Wochen in ganz flachen Käfigen, wo sie sich nicht groß bewegen können und nicht fliegen können vor allen Dingen. Sie können außer Fressen nichts tun. Und wenn sie richtig fett sind, so nach drei Wochen, werden sie in Armagnac ertränkt, lebend und das gilt in Feinschmeckerkreisen als höchste Delikatesse. Da wird für eine Portion, also ein Vögelchen, 500 Euro bezahlt. Das ist ein riesen Geschäft."
    Vogelbestände gehen stark zurück
    Wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen. Doch gibt es schon seit den 70er Jahren ernsthafte Warnungen von Biologen und Ornithologen, dass die Vogelbestände durch den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft stark zurückgehen. Und man müsse für kommende Generationen befürchten, es werde irgendwann ein "Stummer Frühling" einkehren. Noch sind es Milliarden Vögel, die jährlich zwei Mal unter Höchstleistung um die Welt fliegen. Und ihre in unseren Breiten unersetzliche Drehscheibe auf dem ostatlantischen Flugweg ist das Wattenmeer. Jetzt werden noch einige schöne Schneeammern dort in den Marschen überwintern, leise und fern unterm hohen Himmel. Wenn die anderen schrägen Vögel im Frühling zurückkommen, werden wir wieder dort sein und uns noch bewusster an ihrem Jubelgesang freuen. Bis dahin üben wir das Singen im Chor. Unsere Nachbarin hat im vergangenen Jahr gemeinsam mit einem anderen Nachbarn, einem Bandleader und Musiklehrer, den 1. SC Schweiburg gegründet, weil Singen froh macht. Der Chor ist schon auf dreißig Mitglieder angewachsen und erstaunlich melodisch aufgestellt. Wir finden, das kann sich hören lassen, auch wenn noch auch ein paar schräge Töne dabei sind.