Sandra Pfister: Was in Großbritannien passiert, hat einen gewaltigen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft, und deshalb kommt unsere Sendung heute komplett aus London, denn hier wird morgen gewählt und der Ausgang dieser Wahl, der wird auch darüber entscheiden, wann, ob und wie Großbritannien aus der EU ausscheidet. Das wird beeinflussen, wie es der Wirtschaft im Vereinigten Königreich in den kommenden Jahren gehen wird. Die Schockwellen eines Brexit (oder eben auch nicht Schockwellen) werden auch bis nach Europa schwappen.
Darüber reden wir jetzt mit Ulrich Hoppe, dem Leiter der britisch-deutschen Industrie- und Handelskammer in London. Guten Tag, Herr Hoppe.
Ulrich Hoppe: Guten Tag.
Sehr viel Unsicherheiten im Wahlsystem
Pfister: Herr Hoppe, wie viel Geld würden Sie im Moment darauf wetten, dass Boris Johnson da morgen mit einer absoluten Mehrheit rauskommt?
Hoppe: Da würde ich sicherlich ungefähr 20 Pfund drauf wetten, also nicht allzu viel, weil im Endeffekt die Lage ist so verworren und das taktische Wahlverhalten der Wähler ist nicht vorausberechenbar und auch das britische Wahlsystem mit dem Mehrheitswahlrecht birgt da sehr viel Unsicherheiten. Deswegen merkt man das jetzt auch zum Ende der Kampagne hier, dass alle noch da ihre Wähler motivieren wollen, weil sie sich nicht sicher sind, wie die Wahl ausgeht.
Pfister: Nun ist es so: Normalerweise ist das eine relativ einfache Rechnung. Wenn die Konservativen gewinnen, freut sich normalerweise die Wirtschaft, weil es Stabilität bedeutet. Nun stammt aber von Boris Johnson das berühmte Zitat: "Fuck Business" – darf man auch mal im Deutschlandfunk sagen. Er hat es auch gesagt. Das hat er gesagt, als er mit Einwänden konfrontiert wurde, der Brexit sei aber nun wirklich schlecht für die Wirtschaft. Wird man ihm das vergessen?
Hoppe: Das wird man ihm vergessen. Er hat natürlich immer eine Sprache gehabt, die ist ein bisschen deutlicher. Das ist sein Stil, das ist seine Marke. Man rechnet schon damit, dass er einen eher wirtschaftsfreundlicheren Kurs fahren wird. Aber natürlich der Brexit wirft auch sehr viele Fragen auf für die Wirtschaft: Wie geht es weiter? Wie verhält sich das Verhältnis zur Europäischen Union? Wie eng wird das später sein? Auch ein Premierminister Johnson birgt wahnsinnig viele Unsicherheiten, auch für die langfristigen Wirtschaftsentwicklungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.
Johnson "wird einen schwierigen Europakurs fahren"
Pfister: Denn man weiß ja auch nicht genau, welchen Boris Johnson man jetzt kriegt. Es gibt den einen, das ist der relativ liberale ehemalige Bürgermeister von London, der auch viel Gutes für die Wirtschaft getan hat. Es gibt aber auch eher einen Trump ähnlichen Populisten, der im Grunde genommen ein bisschen unberechenbarer ist, und Unberechenbarkeit ist eigentlich das Letzte, was die Wirtschaft braucht. Mit welchem der beiden Rechnen Sie?
Hoppe: Ich rechne mit einem Mittelweg am Ende, denn ich glaube nicht, dass er eine ganz riesige Mehrheit bekommen wird von mehr als 50 oder 60 Abgeordneten. Die bräuchte er aber, um all seine Hardline-Brexitiers unter Kontrolle zu halten. Also wird er wahrscheinlich – jedenfalls so meine Vermutung – nur eine relativ dünne Mehrheit bekommen, und dann muss er einen Mittelweg gehen. Er muss welche von den Hardline-Brexitiers mit einfangen und wird deswegen versuchen, ein Stück weit einen schwierigen Europakurs zu fahren, aber gleichzeitig auch die Wirtschaft zu unterstützen. Und es ist ihm am Ende auch klar: Wenn die Wirtschaft hier nicht wächst, wenn hier nicht mehr Einkommen erzeugt wird, dass eine Wiederwahl der Konservativen – und er möchte ja auch auf Dauer Premierminister sein – eher schwieriger sein wird.
Pfister: Denn das ist ja die Frage: Wird er die Partei komplett kapern lassen von den extremen Brexitiers, die in letzter Zeit so eine laute Stimme hatten.
Hoppe: Die Partei hat sich schon gewandelt. Man hat das ja gemerkt. Die konservativen Parteimitglieder sind eher anti-EU als die Wähler. So sieht man das jetzt auch an den Kandidaten, die aufgestellt worden sind. Da ist ganz klar auch ein Commitment eingefordert worden, dass die für einen EU-Austritt Großbritanniens sein müssen und ihn dann auch nicht mehr behindern dürfen, wenn er das umsetzen möchte zum 31. Januar, sollte er wiedergewählt werden.
"Die Unsicherheit bleibt für Unternehmen so oder so"
Pfister: Die Wirtschaftsprognostiker – das fand ich ganz auffällig -, die sind sich so extrem uneinig, was ein Sieg der Tories (mit welcher Mehrheit auch immer) für die Wirtschaft bedeutet. Die einen sagen, das ist das beste Ergebnis für die Wirtschaft überhaupt. Capital Economics heißen die. Die anderen sagen, das ist der Weg in die Rezession 2021 – die City Group. Was sagen Sie?
Hoppe: Auch das hängt ein bisschen davon ab, welche Wirtschaftszweige man sich anschaut. Manche Wirtschaftszweige profitieren natürlich von einer Sicherheit jetzt im Brexit, wie der Johnson es versprochen hat, und manche wünschen sich natürlich (gerade die, die international stärker unterwegs sind) eine nähere Anbindung an den Binnenmarkt, wie sie im Moment jedenfalls von Boris Johnson als Aussicht dargestellt wird.
Pfister: Wenn das Szenario kommt – spielen wir es mal ein bisschen durch -, dass Johnson morgen die Mehrheit holt, dann kann er noch vor Weihnachten über den Brexit abstimmen lassen und dann kann er sagen, der Brexit kommt am 31. Januar. Kurzfristig würde dann erst vielleicht ein bisschen Ruhe im Karton herrschen, raus aus der EU. Unternehmen können sich dann endlich auf was einstellen. Andererseits gäbe es unter Labour noch eine Chance zumindest, dass es ein zweites Referendum gibt und dass der Brexit nicht stattfindet. Was wäre Ihnen lieber?
Hoppe: Das ist am Ende wirklich die große Frage. Wenn jetzt der Boris Johnson gewinnt, der Brexit wird zum 31. Januar vollzogen, dann kommt es ja automatisch noch zu einer Übergangsphase bis zum 31. 12. 2020. Und die große Frage ist, was passiert danach. Dann hat man natürlich die rein theoretische Möglichkeit, dass Jeremy Corbyn eine absolute Mehrheit bekommt. Das ist aber eher unwahrscheinlich. Von daher wird er unter Umständen zusammen mit den Liberaldemokraten und den anderen kleineren Parteien eine Mehrheit der Abgeordneten haben. Dann hat er ja versprochen, wenn er dann Premierminister wird, oder jemand anders vielleicht dann von der Labour-Partei, dass sie noch mal neu mit der EU verhandeln wollen und dieses Verhandlungsergebnis dann der Bevölkerung noch mal zur Abstimmung stellen – entweder für dieses Ergebnis zu sein, oder für einen EU-Verbleib. Da ist natürlich auch noch wahnsinnig viel Unsicherheit drin und auch eine Regierung unter Führung Jeremy Corbyns oder jemand anders, die von vielen Parteien geduldet wird, bringt auch nicht die Sicherheit, die sich Unternehmen wünschen, denn am Ende, sollte es zu einem neuen Referendum kommen und sollte es dann zu einem EU-Verbleib kommen oder zu einer Annahme des dann neu verhandelten Deals, wie auch immer der aussehen wird, muss diese Regierung auch wieder abtreten, weil sie am Ende nicht lebensfähig sein wird. Dafür sind diese Parteien zu unterschiedlich, dass sie für fünf Jahre eine Regierung stellen können. Die Unsicherheit bleibt für Unternehmen so oder so.
"Investitionen werden hinten angestellt"
Pfister: Und das war für sie in den letzten viereinhalb Jahren eigentlich auch nichts anderes mehr.
Hoppe: Das ist nichts anderes, das kennen wir schon. Das ist natürlich schwierig für die britische Volkswirtschaft, weil Investitionen werden hinten angestellt. Man merkt das ganz deutlich. Nicht nur ausländische Unternehmen investieren hier nicht mehr; auch die britischen Unternehmen sind vorsichtiger geworden. Und das wirkt sich natürlich langfristig auf Produktivitätssteigerungen aus, und die braucht man ja, um im Endeffekt höhere Einkommen zu erzielen. Das heißt, die Briten verlieren relativ an Einkommenszuwächsen, und das trifft natürlich auch gerade die Regionen außerhalb des Großraumes London, die verstärkt für Brexit gewählt haben.
Pfister: Die EU sieht ja die größte Gefahr darin – zumindest gibt sie das hinter verschlossenen Türen schon zu -, dass vor ihrer Haustür ein Wettbewerber entsteht, der ihnen dank niedriger Regularien ein bisschen die Geschäfte kaputt macht. Je mehr die Briten von EU-Regeln abweichen wollen, desto weniger Marktzugang werden sie vermutlich kriegen. Die EU besteht dort auf Level Playing Field, wie man hier so schön sagt. Sehen Sie die Gefahr, dass die Briten sich nicht daran halten wollen?
Hoppe: Die Gefahr ist sicherlich da und Boris Johnson hat das auch verkündet, dass er gerade dann zukünftig ein loseres Verhältnis zur EU vereinbaren möchte. Und das heißt unter Umständen weniger Marktzugang. Aber ich glaube, da kommt am Ende, wenn man das über einen Fünf- oder Zehn-Jahres-Zeitraum sieht, auch das Faktische durch, dass im Endeffekt sich an eine Vielzahl von EU-Regularien gehalten werden muss, damit die Firmen weiter einfach auf den EU-Markt exportieren können. Da ist jetzt sehr viel Rhetorik und Wahlkampfmache. Das wird sich am Ende, glaube ich, nicht ganz so stark auswirken, wie jetzt angekündigt.
Wohl kein "massiver Wettbewerbsvorteil"
Pfister: Sie sagen, das wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. – Wir Europäer tendieren ja dazu, den Brexit so zu sehen, dass die Briten sich ökonomisch ins Knie schießen – am allermeisten, weil sie sich den Marktzugang zur EU teilweise kaputt machen oder schwieriger machen. Ziel aber einer Deregulierung, wie viele in der Brexit-Fraktion sie ja wollen, wäre ja, dass die Briten sehr viel wettbewerbsfähiger werden. Schießen sich doch vielleicht die Briten nicht so sehr in den Fuß oder ins Knie, sondern schießen sie uns ins Knie, der deutschen Wirtschaft und der EU als Ganzes?
Hoppe: Das glaube ich nicht, denn auch im Endeffekt sind hier die Ansprüche der Konsumenten und der Bevölkerung relativ hoch, dass es hier Produktsicherheit gibt und Standards gibt, die eingehalten werden müssen. Da kann man in gewissen Teilen einen deregulierten Ansatz fahren, aber der wird nicht so weit gehen, dass es einen massiven Wettbewerbsvorteil geben wird. Von daher sehe ich dieses Risiko nicht so groß. In Teilbereichen mag das da sein. Da werden die Briten das sicherlich auch nutzen zu ihrem eigenen Vorteil. Aber sie haben sich natürlich auch mit der Brexit-Entscheidung jetzt schon ein Stück weit ins Knie geschossen, denn das Wirtschaftswachstum wäre sonst wahrscheinlich um ein Prozent höher pro Jahr, und das ist jetzt drei Jahre seit dem Referendum. Da haben sie drei Prozent an Potenzialwachstum verloren. Sie wachsen zwar immer noch genauso wie die Eurozone oder genauso wenig, aber sie hätten viel größere Chancen gehabt und der Brexit ist wirklich für die Briten eine verpasste Chance zu mehr Wachstum, was sie jetzt dann nicht mehr erzielen werden.
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