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Die wahre Geschichte des Jakob Wunschwitz

László Mártons Roman "Die wahre Geschichte des Jakob Wunschwitz" öffnet das knirrschende Räderwerk der Historie. Von einem in sich geschlossenen, perfekt funktionierenden und überschaubaren System kann aber nicht die Rede sein. Ein unübersichtliches Gewerk tausender Einzelteile mit herausgebrochene Zähnen, verbogenen Achsen und Sand im Getriebe - die Maschinerie bewegt sich wie und wohin sie will, ähnlich den bizarren kinetischen Plastiken eines Jean Tinguely. Die Banalität der Zufälle, die Mißverständnisse, die Irrtümer und Verleumdungen, die den Lauf der Dinge gegen jede Vernunft und Gerechtigkeit lenken, verschlagen einem schier die Sprache. Dazu Márton:

Christoph Schmitz | 21.10.1999
    "In Guben, in dieser niederlausitzschen Stadt, bricht im Jahre 1604 ein Bürgeraufstand aus wegen Mißbräuche des Stadtrats. Dieser Aufstand wird vom Landvogt, Freiherr von Promnitz, zwar gewaltig, aber nicht blutig niedergeschlagen. Die Aufwiegler, die blutrünstigsten Anführer des Aufstandes werden zwar verhaftet, aber für die Bewahrung des Friedens bald wieder freigelassen. Der Titelheld aber, Jakob Wunschwitz, der Mann, der immer die Kompromisse suchte, der Mann des Maßes, des Friedens, der noch dazu ganz zufällig in die Ereignisse hineingeraten ist, wurde vom Landvogt ebenfalls verhaftet und als abschreckendes Beispiel, ohne gerichtliches Verfahren, ganz willkürlich hingerichtet."

    Soweit der Plot des Romans, dem ein historischer Fall am selben Ort zur selben Zeit zu Grunde liegt, ein Roman, dessen Held nicht nur willkürlich hingerichtet wird, sondern in dem Willkür überhaupt das Zusammenspiel der Kräfte bestimmt. So begeben sich die Gubener Winzer zu Beginn der Geschichte, nachdem sie vom Stadtrat ohne ersichtlichen Grund an der Ausübung ihrer Geschäfte gehindert worden sind, auf einen Festplatz, wo sich die Ratsmitglieder gerade aufhalten. Als sich dort ein Handgemenge zu einer blutigen Auseinandersetzung entwickelt...

    "... ließen einige krächzende Stimmen die Weinbauern hochleben, die so viel Mumm in den Knochen hätten, daß sie es wagten, für Gerechtigkeit eine Lanze zu brechen. Die Weinbauern hielten sich zu diesem Zeipunkt überhaupt nicht mehr am Schauplatz des Schützenfestes auf, zumindest waren sie an der Schlägerei nicht beteiligt. Anderntags erinnerte man sich dennoch an sie, so als wären sie die Unruhestifter gewesen, die jenes kostspielige Fest, das mit so viel Liebe und Sorgfalt vorbereitet worden war, im Skandal erstickt hatten, wodurch die Winzer in der gesamten Provinz, ja sogar über deren Grenzen hinaus Schande über die Stadt gebracht hätten."

    Märton hat einen sehr genauen, ja akribischen Erzähler ins Spiel gebracht, der seinen Fall bis ins kleinste Detail ausleuchtet und durchstöbert - wie ein Jurist sein umfangreiches Aktenmaterial. Alle nur denkbaren Einflüsse werden benannt, von den Wetterbedingungen, falschen und verfälschten Informationen, über Aberglauben, ökonomische und politische Interessen bis hin zu den großen historischen Zusammenhängen am Vorabend des 30jährigen Krieges. Aber je mehr analysiert und erklärt wird, um so mehr verliert man sich in einem Gespinst von Fäden, die niemand in der Hand zu halten scheint. Nicht einmal der Erzähler, auch wenn er Gegenteiliges vorgaukelt. Am wenigsten aber haben die Winzer ihre Verwicklung in der heillosen Geschichte bemerkt:

    "Das Vertrauen der Winzer in die Gerechtigkeit war noch nicht erschüttert, und sie fühlten sich außerstande, daran zu glauben, daß jenes stabil scheinende Gebäude von Rechten und Pflichten lediglich ein Luftschloß und die Welt der Ordnung in Wahrheit nur Blendwerk sei."

    Dazu Márton: In dieser Region, wo auch ich geboren und aufgewachsen bin, ich meine jetzt Ungarn, wohin auch der östliche Teil von Deutschland gehört, spielt die Paradoxität von Recht und Willkür eine besondere wichtige Rolle. Und zwischen Recht und Willkür ist natürlich eine große Spannung, und diese Spannung kann manchmal fruchtbar sein, hat aber in gewissen Perioden verheerende Wirkungen. In offenen Despotien und Tyranneien gibt es das Recht einfach nicht. Als Instanz existiert es nicht.

    Lászlo Márton hat seinen Text ins Gewand des historischen Romans gehüllt. Die Verkleidung sitzt wie angegossen. Doch darunter gibt sich der Erzähler als Zeitgenosse des ersten postkommunistischen Jahrzehnts zu erkennen, der den Gubener Bürgeraufstand zu Beginn des 17. Jahrhunderts als gesellschaftliche Parabel deutet. Den Figuren, meint Márton, ist sie zeichenhaft auf die Stirn geschrieben:

    "Das sind die Zeichen der schicksalhaften Determination oder, ganz anders formuliert, ein Netz von Mißverständnissen, von Hoffnungen und natürlich Unterdrückung, was die Verhältnisse dieser Region, dieser ostmitteleuropäischen Region bestimmt."

    Verkleidung und Verstellung sind das Gestaltungsprinzip dieses Romans. Hinter der vermeintlich nüchternen chronikalen Erzählung steckt eine unbändige Lust an deftigen, skurillen, bizarren und phantastischen Geschichten. Da fährt vor den Augen einer Gänsehirtin ein Beil aus den Wolken nieder und spaltet einen Hügel. Zur gleichen Zeit schleudert ein betrunkener Freiherr von Promnitz eine Axt in das bemalte Glas eines Schrankes, das eine Gänsehirtin darstellt. Dazu meint Márton:

    "Das erhellt schon gewissermaßen die Problematik der historischen Authentizität. Nämlich diese Geschichte wird doch grundsätzlich von der Phantasie des Autors, des Narrators, der Helden gelenkt."

    "Gelenkt hat den Autor und seinen Narrator aber auch die Sprache eines deutschen Klassikers - das Verkleidungstück geht weiter. Es ist kein Geringerer als Heinrich von Kleist. László Márton kennt Kleists strengen und komplexen Stil besonders gut, hat er doch dessen Gesammelte Werke ins Ungarische übertragen. Und Rhythmus und Ton der kleistschen Prosa hat sich Märtons Erzähler auf souveräne Weise anverwandelt. Auf den historischen Fall des Jakob Wunschwitz berichtet Márton, ist er in der gleichen Chronik gestoßen, in der schon Kleist die Kohlhaas-Geschichte gefunden hatte:

    "Das war also ein Text, den Heinrich von Kleist ganz gewiß gelesen, aber nicht verwendet hat, und ich bin vom gleichen Ofen ausgegangen, wie beim Tanz, aber in eine andere Ecke geraten. Ich würde es so sagen, und das heißt auch die Distanzierung vom erzählerischen Geist."

    Ein ungarischer Gegenwartsautor erfindet also einen von Kleist inspiririerten Erzähler, der sich zum einen als Zeitgenosse des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu erkennen gibt und der zum anderen eine Geschichte aus dem frühen 17. Jahrhundert erzählt. Ein schönes hintersinniges literarisches Spiel. Die Distanzierung von einer als lästig empfundenen Nähe zu Kleists "starker Persönlichkeit", zu diesem "erzählerichen Ungeheuer", wie Márton es an anderer Stelle des Gesprächs formulierte, unternimmt der Autor, indem er den Helden auf eigene Weise charakterisiert:

    "Kleist hat für sich Michael Kohlhaas als einen Held von fast antiker Prägung erwählt. Einen verheerenden Dämon, der für sich Gerechtigkeit schaffen will, und er tritt fast als Erzengel Michael und zugleich als wütender Herakles auf. Jakob Wunschwitz, im Gegenteil, ist ein sehr gemäßigter, sehr friedlicher Mensch, der zwar nach der Gerechtigkeit sich sehnt, er ist aber im Prinzip von der Gerechtigkeit nicht besessen, und der die aufgehetzten Bürger eher zurückhalten will. ist kein Motor der Ereignisse. Er ist ein getriebenes Blatt."