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Die wahren Schätze Belgiens

Pommes frites sind das Nationalgericht der Belgier. Darüber herrscht sogar bei den Flamen und Wallonen Einigkeit. Besonders gerne werden sie in den traditionellen Frittenbuden gegessen. In Brügge widmet sich sogar ein Museum den frittierten Kartoffelstäbchen.

Von Günter Beyer |
    Eine friedliche Landschaft in sanften Wellen, schraffiert von braunen Kartoffelfurchen – das ist der Hennegau, die belgische Provinz Hainault, nahe der Grenze zu Frankreich. Hier, unter der Ackerkrume, sind die wahren Schätze Belgiens verborgen: Kartoffeln.

    "Wir sind hier wirklich im Land der Kartoffeln. Wir haben hier sehr reiche und fruchtbare Böden, günstig für den Kartoffelanbau. Überwiegend verarbeiten wir Bintje. Das ist eine Sorte mit vielen Vorzügen. Etwa der gute natürliche Kartoffelgeschmack, ihre schöne Farbe und die Tatsache, dass man aus Bintjes sowohl Pommes frites als auch Püree und Kroketten machen kann."

    Und das tut die Fabrik, deren Marketingchefin Françoise Saint-Ghislain ist, im großen Stil. Die Erdäpfel werden sortiert, mit heißem Dampf geschält, geschnitten und vorfrittiert - 16 Tonnen pro Stunde! Anschließend werden die Stäbchen tiefgefroren, verpackt und in 90 Länder exportiert.
    Doch vor dem Versand steht die Geschmacksprobe. Ist die junge schlanke Laborantin um ihren Job zu beneiden? Jede Stunde entnimmt sie der laufenden Produktion eine Probe, frittiert sie fachgerecht und protokolliert das Ergebnis.

    "Wir müssen den Geschmack prüfen, und wir schauen uns die Beschaffenheit an, ob das in Ordnung ist. Wir kontrollieren auch die Länge der Fritten, die Qualität natürlich, die Farbe nach dem Frittieren. Sie müssen wissen, wir haben Kunden, die verlangen eine eher rotbraune Fritte und andere, die wollen ein eher weißes Kartoffelstäbchen."

    Niederländisch sprechende Flamen und französisch sprechende Wallonen sind sich in vielem nicht einig. Manche fürchten sogar, das kleine Königreich könnte auseinanderbrechen. Aber in einem gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheit: Pommes frites sind unschlagbar das Nationalgericht.
    Zwar kaufen viele Belgierinnen und Belgier heute ihre Kartoffelstäbchen im Supermarkt und bereiten sie zu Hause in der Fritteuse zu - aber am besten schmecken sie doch unterwegs in einer der 5000 "fritkots" oder "friteries", den Frittenbuden.
    Brüssel, Place St. Josse, am östlichen Rand der Innenstadt.

    Wer vor zwölf Uhr mittags kommt, könnte den unscheinbaren eckigen Kasten zwischen Zeitungsstand und Blumenkiosk glatt übersehen. Ein Verschlag, Marke Eigenbau, aus dem Dach ragen silberfarbene Abluftrohre. Mittags aber mutiert die weiße Kiste zum "Sesam-öffne-dich". Die Sperrholzwände werden auseinandergeklappt, ein Verkaufstresen mit Vitrine kommt zum Vorschein: das mit Kühltresen und Fritteusen bestückte Innenleben einer typisch belgischen Frittenbude.
    Palma Altamirano heizt ihre Apparate auf und stellt die Soßen bereit. Die Filipina hatte sich in Belgien lange als Putzfrau durchgeschlagen, bis sie die bestens eingeführte Bude an der Place St. Josse übernahm.

    Heute ist sie spät dran, ausnahmsweise hilft ihr Tsavaras, ihr Mann. Er setzt einen mechanischen Frittenschneider über eine dicke geschälte Kartoffel, drückt fest zu, und unten fallen formatierte Stäbchen heraus.

    "Wir erhalten sie täglich vakuumverpackt, geschält, gewaschen, und danach schneiden wir sie. Die sind frischer, der Geschmack ist besser. Das sind keine Tiefkühl-Fritten, echt! Das sind frische Kartoffeln."

    Die ersten Hungrigen stellen sich an, Nachbarn aus dem multikulturellen Viertel oder Passanten, die zufällig vorbei kommen. Viele bestellen Fritten ohne Fleischbeilage, "frites naturelles", bloß gesalzen, oder mit einem Klecks Mayonnaise. Beliebt ist auch "Sauce Andalouse", eine würzige Tunke aus Tomate, Paprika und Zwiebel.

    Auf dem Schwingdeckel des Abfalleimers sitzt eine erschöpft aussehende alte Frau im fadenscheinigen Wollmantel. Langsam kaut sie eine Portion "Frites naturelles".

    "Ich wohne oberhalb der Chaussee de Louvain. Alle Wege muss ich zu Fuß machen. Sonst bin ich nie hier, heute das erste Mal. Aber alle Läden haben zu! Und ich hab nichts im Hause."

    Zwei junge Männer aus Deutschland haben sich in die Warteschlange eingereiht. Einer der beiden ist erst vor ein paar Stunden angekommen. Er will ein Praktikum bei einer Brüsseler Firma machen.
    "Ich freu´ mich auf die Pommes, die Reise habe ich natürlich auch deswegen gemacht, um hier die Pommes zu probieren. In Deutschland esse ich eher Kartoffeln oder Reis oder Nudeln. Aber Pommes - nein!"

    Die Friterie St. Josse ist ein Stehimbiss "wie früher". Die Fritten werden hier noch in einer Spitztüte, einem sogenannten "Cornet" oder "puntzak", und nicht im offenen Pappschälchen gereicht. Man kann sie gleich hier essen, mit nach Hause nehmen oder sich mit seiner heißen duftenden Tüte in ein nahes Bistro setzen, sofern ein kleines Schild - "Frites acceptées ici" - das erlaubt, und drinnen ein Getränk dazu bestellen. Verschärfte Hygienevorschriften haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass Kartoffelstäbchen immer seltener in offenen Buden und öfter in massiv gebauten Schnellrestaurants verkauft werden. Aber treue Fans der Frittenbude lassen sich nicht beirren.

    "Vielleicht wird es mal weniger geben, vielleicht haben sie ein anderes Angebot, mehr nordafrikanisch. Aber trotzdem wird es einige Frittenbuden mit guter Qualität geben. Ich glaube, sie werden überleben. Das ist einfach Tradition in Belgien."

    Aber warum bloß ist die doch eher unscheinbare Fritte solch eine Grundfeste nationaler Identität geworden?

    "Die Fritte ist schon auch interessant, aber für mich ist die Frittenbude noch interessanter. Wirklich amüsant!"

    Der Kunsthistoriker Paul Ilegems, Jahrgang 1946, groß und schlank, lebt in der Altstadt von Antwerpen. Er hat Bücher geschrieben mit Titeln wie "Die Pommesbudenkultur" und "Die Geheimnisse der Fritte".

    "Die Frittenbude ist ein Phänomen, das man überall in Belgien sieht und das mir typisch für dieses Land zu sein scheint. Solch ein "Frietkot" ist ein improvisiertes Bauwerk, oft ein alter Autobus, ein Wohnwagen oder eine Bude, die der Besitzer selbst zusammengebastelt hat. Man erkennt darin große Fantasie, Vielfalt, einen Sinn für Improvisation, der mir sehr belgisch zu sein scheint."

    Frittenbuden sind Sehnsuchtsorte. Für alle. Arm und reich, vereint im Genuss der goldgelben Stäbchen!

    In Brügge, der alten Handelsstadt, hat man den Fritten vor fünf Jahren sogar ein eigenes Museum gewidmet. Es wurde in der noblen gotischen "Saaihalle", der ehemaligen Handelsniederlassung Genueser Kaufleute, eingerichtet und erzählt die Geschichte von Kartoffel und Pommes frites. Museumsleiter Cedric van Belle weiß, wo und bei welcher Gelegenheit Pommes frites überhaupt erfunden wurden. Natürlich ... in Belgien!

    "Die Leute im Tal der Maas im Süden Belgiens pflegten Gründlinge, also diese kleinen Fische, in Öl zu braten. Aber in der Zeit um 1750 folgte ein harter Winter dem anderen. Der Fluss war zugefroren, und man konnte nicht fischen. Also nahmen die Leute Kartoffeln, schnitten sie in Fischform zurecht, und brieten die Stäbchen in Öl. Das war die Geburtsstunde der ersten Fritten in Belgien im 18. Jahrhundert!"