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Die Welt als Sarg voller Geschrei

Als der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño im Juli 2003 mit nur fünfzig Jahren in einem Krankenhaus in Barcelona starb, hatte er einen Sieg davon getragen. Es war ihm gelungen, seinen Roman "2666" abzuschließen, ein Mammutprojekt, das ihn seit Langem beschäftigte. An Hepatitis C erkrankt, schrieb er mit dem Tod um die Wette und verschob sogar eine Lebertransplantation, weil er die Arbeit nicht unterbrechen wollte.

Von Maike Albath |
    Als er schließlich fertig war, konnte der Eingriff nicht mehr rechtzeitig gemacht werden. Bolaños Vermächtnis ist ungeheuerlich. "2666" umfasst 1085 Seiten und besteht aus fünf Teilen, die jeweils eine eigene Geschichte erzählen. Die Schauplätze reichen von Europa über die USA bis nach Mexiko, die Handlung erstreckt sich von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart, ein Abriss des Zweiten Weltkrieges inbegriffen. Ein ganzer Kosmos entsteht. Es gibt Haupthelden und Nebenhelden, verblüffende Familienverzweigungen, Freundschafts- und Liebesbeziehungen rund um den Erdball. "2666" hat von allem etwas: Abenteuergeschichte, historischer Roman, Psychothriller, Sozialstudie, Künstlerporträt. Gleichzeitig entzieht es sich jeder Kategorisierung - das Wuchernde ist das ästhetische Grundprinzip dieses überbordenden Gebildes voller Kehrtwendungen, Zeitlöcher und überraschender Engführungen. Im Mittelpunkt steht immer wieder die Literatur.

    Einer der Protagonisten, der melancholische Philosophieprofessor Amalfitano, erläutert die Eigenart lateinamerikanischer Intellektueller, die er wegen ihres Verhältnisses zur Macht als schattenlos empfindet.

    Da die Intellektuellen ohne Schatten immer rücklings sitzen, können sie überhaupt nichts sehen, es sei denn, sie hätten Augen im Nacken. Sie hören nur die Geräusche, die aus der Tiefe des Stollens dringen. Und übersetzen oder interpretieren oder erschaffen sie neu. Ihre Arbeit, versteht sich von selbst, ist armselig. Sie bieten Rhetorik, wo man einen Orkan ahnt, sie versuchen eloquent zu sein, wo sie entfesselten Zorn ahnen, sie sind bemüht, sich metrische Strenge aufzuerlegen, wo nur eine ohrenbetäubende und nutzlose Stille herrscht. Sie sagen piep piep, wau wau, miau miau, weil sie nicht imstande sind, sich ein Tier von ungeheuren Ausmaßen oder die Abwesenheit dieses Tiers vorzustellen. Andererseits ist die Bühne, auf der sie arbeiten, sehr schön, sehr durchdacht, sehr reizend, nur schrumpfen ihre Dimensionen mit der Zeit zusehends.
    Das riesige Tier, das Amalfitano hier beschwört, ist nichts anderes als eine Chiffre für die Literatur, die für Bolaño und seine Helden das Absolute darstellt und immer ein Wagnis bedeutet. Im Vergleich dazu sind Wissenschaftler, Kritiker und Journalisten, denen der erste, zweite und dritte Teil von "2666" gewidmet ist, ein lächerlicher Abklatsch. Sie verkörpern die Binnenstrukturen, das uneigentliche Drumherum, sie sind Schmarotzer, die sich vom Eigentlichen ernähren. Bolaño selbst wagt sich ins Innerste vor, und wie in vielen seiner Romane erfindet er ein Alter Ego, das das ebenfalls tut. Der Motor von "2666" ist nämlich der geheimnisvolle Benno von Archimboldi, ein mythischer deutscher Schriftsteller, 1920 in einem Dorf an der Ostsee geboren, dessen umfangreiches Werk ganze Heerscharen von Forschern fasziniert. Er verkörpert das abwesende Zentrum, bis er im letzten Teil dann selbst auftaucht. Schon in Bolaños großartigem Roman "Die wilden Detektive" von 2002 über eine durchgeknallte Truppe junger Dichter war ein vermeintlich französischer Autor mit demselben Namen aufgetaucht, Verfasser des Werkes "Die unendliche Rose". Damit schlägt Bolaño eine jener gewitzten Querverbindungen, die er so liebt: Er spielt auf eine Erzählung von Borges an, über die er selbst einen kurzen Text geschrieben hat. In der Geschichte geht es um Paracelsus, der einem Schüler gegenüber behauptet, dass eine Rose unzerstörbar sei – auch wenn man sie ins Feuer würfe, könne man sie mit Worten wieder auferstehen lassen. Sie sei ewig, nur ihr Erscheinungsbild ändere sich. Im Grunde umreißt der Chilene damit seine Poetik: Er erschafft aus der Asche des vergangenen Jahrhunderts die Wirklichkeit. "2666", dessen Titel ebenfalls in den "Wilden Detektiven" auftaucht und sich auf einen Friedhof aus dem Jahre "2666" bezieht, ist "Die unendliche Rose" von Archimboldi. Sein Pseudonym erinnert nicht von ungefähr an den manieristischen Maler Arcimboldo mit den Gemüse- und Obstköpfen, berühmt für sein Verwirrspiel der Formen. Bolaños Archimboldi lebt seit Jahren an wechselnden Orten in Europa und meidet jede Öffentlichkeit. Seine Bücher stehen für sich, nur seine 90-jährige Verlegerin Baronin Bubis aus Hamburg kennt ihn näher und weiß, wo er sich aufhält. Der Leser nähert sich Archimboldi vom Rande her.

    Im "Teil der Kritiker", wie der Auftakt von "2666" heißt, lernen wir vier Germanisten kennen: Jean-Claude Pelletier aus Paris, Manuel Espinoza aus Madrid, den Italiener Piero Morini, der im Rollstuhl sitzt und in Turin lebt, und die Londonerin Liz Norton. Alle sind den Romanen Archimboldis seit ihrer Jugend verfallen, wirken als Übersetzer und Interpretatoren, haben ihre Karrieren seinem Werk zu verdanken, bestreiten Kongresse und Symposien und gelten als Koryphäen ihres Faches. Die Pointe ist nun, dass sie sich, während sie Archimboldis Ruhm vergrößern, in komplizierteste Liebschaften untereinander verwickeln - so als schrieben sie die Literatur des Schriftstellers mit ihren eigenen Leben fort. Zwischen der forschen, selbstbewussten Liz Norton, dem feinsinnigen Pelletier und dem draufgängerischen Espinoza etabliert sich eine delikate Dreiecksbeziehung, denn die attraktive Engländerin geht mit beiden abwechselnd ins Bett. Mit viel Humor skizziert Roberto Bolaño ein bohemienartiges, akademisches Milieu, das an die avantgardistischen Dichterkreise in "Die wilden Detektive" erinnert. Als Liz Norton ihre beiden Galane abserviert und sich einem jungen britischen Lehrer zuwendet, ist es mit der aufgeklärten Gelassenheit vorbei. Plötzlich bricht etwas anderes durch, ein archaischer Untergrund, der "2666" in verschiedenen Ausprägungen bestimmt. Eines Abends in London landen Pelletier, Espinoza und Norton angetrunken und in Diskussionen über Eifersucht verwickelt in einem Taxi. Angesichts der auch für einen Außenstehenden augenfälligen erotischen Verwirrungen entschlüpft dem pakistanischen Fahrer eine fatale Bemerkung: In seiner Heimat gelte eine Frau wie die anwesende Lady als Nutte, Hure oder Flittchen, während sich derartig gebärdende Herren als Luden, Zuhälter oder Kuppler bezeichnet würden. Die Archimboldianer reagieren mit Verzögerung.

    Die Worte, die dabei herauskamen, waren: Halten Sie sofort an, wir möchten aussteigen. Vielleicht auch: Halten Sie ihr widerliches Taxi an, wir gehen lieber zu Fuß. Eine Bitte, der der Pakistani unverzüglich nachkam, und während er den Wagen parkte, stoppte er den Taxameter und teilte seinen Fahrgästen mit, was sie ihm schuldeten. Schlussakt oder Schlussszene oder Abschiedsgruß, was Norton und Pelletier, vielleicht noch gelähmt von der überraschenden Beleidigung, nicht ungewöhnlich fanden, aber bei Espinoza das Fass zum Überlaufen brachte, der, kaum ausgestiegen, die Vordertür des Taxis aufriss und den Fahrer auf die Straße zerrte, welcher mit dieser Reaktion eines so gut gekleideten Gentleman nicht gerechnet hatte. Noch weniger rechnete er mit dem Hagel iberischer Fußtritte, der sodann über ihn hereinbrach, Fußtritte, die zunächst nur Espinoza austeilte, bis ihm die Puste ausging und Pelletier für ihn einsprang, unerachtet der schreienden Norton, die sie zu bremsen versuchte, die sagte, mit Gewalt ändere man gar nichts, im Gegenteil, der Pakistani, werde nach der Tracht Prügel die Engländer noch mehr hassen, was Pelletier als Nichtengländer ersichtlich wenig beeindruckte, noch viel weniger Espinoza, obwohl sie den Pakistani, während sie auf ihn eintraten, auf Englisch beschimpften, ohne sich im mindesten daran zu stören, dass der Asiate zusammengekrümmt am Boden lag, Tritt rechts, Tritt links, steck' dir deinen Islam in den Arsch, da gehört er hin, dieser Tritt kommt von Salman Rushdie (ein Autor, den beide übrigens nicht sehr schätzten, dessen Erwähnung ihnen aber angebracht schien), dieser Tritt von den Pariser Feministinnen (Hört endlich auf, Scheiße noch mal, schrie Norton), diesen Tritt schickt dir der Geist von Valerie Solana, du Missgeburt, und immer so weiter, bis er besinnungslos und, abgesehen von den Augen, aus allen Öffnungen des Kopfes blutend dalag. Nachdem sie von ihm abgelassen hatten, versanken sie für Sekunden in die seltsamste Ruhe ihres Lebens.
    Natürlich schämen sich Pelletier und Espinoza kurze Zeit später für ihren Ausbruch. Gleichzeitig kündigt der Kontrollverlust der sonst vollkommen domestizierten Akademiker ein großes Thema von "2666" an: Gewalt und die unheimliche Faszination, die sie entwickeln kann. Ein Nebenstrang des ersten Teils handelt von einem bildenden Künstler namens John Edwin, der sich auf dem Höhepunkt eines Schaffensrausches die Hand abhackt und in ein Kunstwerk integriert. Bolaño hackt sich im Grunde dauernd die Hand ab, denn Dreck, Schmutz und Brutalität sind für Bolaño ebenso Gegenstand der Literatur, wie die Sublimation aller Triebe durch Kunst. Im vierten und längsten Teil von "2666" geht es um eine über Jahre anhaltende Serie von Frauenmorden im mexikanischen Santa Teresa, einer Stadt an der US-amerikanischen Grenze, wo auch der Philosophieprofessor Amalfitano lehrt.

    Die Gewaltattacke Pelletiers und Espinozas ist so etwas wie ein Vorbote unguter Instinkte, denn wenige Wochen nach dem Angriff, für den sie nicht zur Verantwortung gezogen werden, kommt das Gerücht auf, Archimboldi befände sich in eben jenem Santa Teresa in der Wüste von Sonora. Gleichzeitig heißt es immer wieder, der deutsche Schriftsteller sei für den Nobelpreis im Gespräch, und alle vier Archimboldi-Forscher verspüren plötzlich den Drang, den Urheber dessen, worauf sich ihre Existenz gründet, einmal zu sehen. Am Ende reisen nur Pelletier, Espinoza und Norton nach Mexiko. Hier werden die Wahrnehmungsparameter der drei theoriegestählten Literaturwissenschaftler vollends außer Kraft gesetzt. Etwas Unheimliches ergreift von ihnen Besitz. Sie werden von Träumen und brutalen Fantasien heimgesucht und drohen den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren.

    Nach einer finalen "ménage à trois" mit ihren Reisegenossen ergreift Liz Norton die Flucht und entscheidet sich für den vierten Archimboldianer, nämlich Morini, was sie den beiden Freunden per E-Mail mitteilt. Espinoza verfällt einer mexikanischen Teppichverkäuferin. Wenn er abends ins Hotel zurückkehrt, findet er Pelletier am Pool vor, wo der Franzose systematisch alle Werke Archimboldis noch einmal durchliest. Immer stärker gestaltet Bolaño seinen Roman, der zu Beginn wie eine ironische adademic novel der angelsächsischen Tradition daher kommt, zu einem Spiegelkabinett voller Verweisen auf Kafka und Borges um. Er belässt es aber nicht bei einem intellektuellen Vexierspiel, sondern erzeugt eine ungeheure Spannung, die jeden Stephen-King-Schinken blass aussehen lässt.

    Pelletier und Espinoza freunden sich mit Amalfitano an, dem Helden des zweiten Teils von "2666". Auch Amalfitano, Vater einer 20-jährigen Tochter, wird von wahnhaften Zuständen befallen. Eines Tages hängt er im Garten ein Buch an einer Wäscheleine auf: Es heißt "Das geometrische Vermächtnis" und stammt von einem gewissen Dieste. Mit dieser Aktion kopiert der Professor ein Ready-made von Duchamp, gleichzeitig drückt er sein Unwohlsein aus, das wiederum mit den Morden von Santa Teresa und seiner Angst um Rosa zusammenhängt. Während die grausamen Gewalttaten an jungen Frauen, die mit Vergewaltigungen einhergehen, im ersten und zweiten Teil ein bedrohliches Hintergrundgeräusch sind, stehen sie im dritten und vierten Teil im Vordergrund. Im "Teil von Fate" geht es um einen jungen schwarzen Journalisten aus New York, der wegen eines Boxkampfes nach Santa Teresa reist, von den Frauenmorden erfährt, darüber berichten will, Zeuge von Drogenexzessen wird und sich schließlich in Rosa verliebt. Er scheint nur knapp zu entkommen und nimmt auf Amalfitanos Bitte dessen Tochter mit in die USA. Die Morde dauern an.

    Eine Woche nach der Entdeckung der Leiche des dreizehnjährigen Mädchens in der Umgebung von El Obelisco fand man an der Hauptstraße nach Cananea den leblosen Körper einer etwa Sechzehnjährigen. Die Tote maß knapp einen Meter sechzig, hatte schwarzes, langes Haar und war von schlankem Wuchs. Sie wies nur eine einzige Verletzung auf, eine tiefe Stichwunde im Unterleib, die ihr buchstäblich durch und durch ging. Dem Obduktionsbericht zufolge war der Tod jedoch durch Strangulation und den Bruch des Zungenbeins verursacht worden. Von dem Platz aus, wo man sie fand, sah man auf eine Reihe sanfter Hügel, auf ein paar verstreute weiße und gelbe Häuser mit niedrigen Dächern, auf vereinzelte Schuppen, in denen Maquiladores Materialien und Ersatzteile lagerten, auf Wege, die von der Hauptstraße abzweigten und wie Träume verblassten, grundlos, absichtslos. Laut Polizeibericht handelte es sich bei dem Opfer vermutlich um eine Tramperin auf dem Weg nach Santa Teresa, die man vergewaltigt hatte. Alle Versuche, sie zu identifizieren, schlugen fehl und die Ermittlungen wurden eingestellt. Fast zur gleichen Zeit wurde ein weiteres, etwa sechzehnjähriges Mädchen erstochen und verstümmelt aufgefunden (obwohl die Verstümmelungen möglicherweise auf die streunenden Hunde zurückzuführen waren), diesmal an den Hängen des Cerro Estrella im Nordosten der Stadt, viele Kilometer vom Fundort der anderen drei März-Toten entfernt.
    Mit quälender Genauigkeit zählt Bolaño die Opfer auf, schildert Aussehen, Familienumstände, Todesart, nimmt Müllhalden und Kloaken unter die Lupe, die ärmlichen Behausungen der Arbeiterinnen und die zwielichtigen Etablissements der Prostituierten, beschreibt die Ermittlungen der Polizei und porträtiert die befugten Kommissare. Die Behörden reagieren mit Verschleppung: Beweisstücke gehen auf dem Postweg verloren, Zeugenaussagen werden verschlampt, Spuren nicht weiter verfolgt und die wenigen engagierten Ermittler auf höhere Weisung wieder abgezogen.

    Bolaños Santa Teresa ist die literarische Verdichtung eines tatsächlich existierenden Ortes, nämlich von Ciudad Juárez, wo seit Anfang der 90er-Jahre eine Mordserie an jungen Frauen einsetzte, die bis heute anhält und niemals aufgeklärt wurde. Bei Bolaño bleibt das Ganze bewusst diffus – sein Santa Teresa ist eine Metapher für das Böse an sich, ein Ort des Grauens, ein innerer Höllenkreis. Seine Figuren geraten unter den Bannfluch des Todes und widersetzen sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise der Gefahr der Auslöschung. Vor allem Sex ist immer wieder ein Bollwerk: in "2666" wird bis zur Besinnungslosigkeit gevögelt.

    In seinen Essays äußerte sich Roberto Bolaño zur "Verbrecherliteratur" und nennt diese den einzig möglichen Ausgangspunkt zeitgenössischen Schreibens. Literatur sei ein Sprung ins Leere, und sie sei etwas Gefährliches. Die Seiten über die Morde starren vor Schmutz und Blut und verschlagen einem häufig den Atem – Bolaño nimmt die düsteren Seiten der Zivilisation ebenso in den Blick wie die lichtvollen. Ihm geht es nicht um Moral, sondern darum, etwas aufs Spiel zu setzen, nicht um das Wohltemperierte und Gedämpfte, sondern um das Ekstatische. Der vierte Teil von "2666" kommt dieser Vorstellung ziemlich nahe. Zwei, drei unbestechliche Kommissare sind die letzten Kämpfer gegen die Barbarei, eine Wahrsagerin irrlichtert durch die Fernsehtalkshows, klagt die Behörden an und bezeichnet "die Welt als einen Sarg voller Geschrei". Zugleich skizziert Bolaño die typischen mittelamerikanischen Verhältnisse: eine selbstgefällige Oberschicht, einen korrupten Staatsapparat, zynische Drogenbosse, die Abwesenheit einer bürgerlichen Schicht, die Leibeigenschaft der Armen. Seine Entsprechung findet dieser Teil dann in der Schilderung des Zweiten Weltkriegs und in Archimboldis Geschichte, der in Wirklichkeit Hans Reiter heißt und wie Cervantes Soldat ist. Er legt eine ganz eigene Art von Tapferkeit an den Tag.

    Der Unteroffizier dachte nach und antwortete dann, nein, das träfe es nicht genau. Reiter, sagte er, sei anders gewesen, eigentlich derselbe wie immer, den alle kannten, nur dass er eben in den Kampf gegangen sei, als ginge er nicht in den Kampf, als wäre er nicht dort oder als ginge ihn die Angelegenheit nichts an, was nicht heiße, dass er die Befehle missachtet oder nicht ausgeführt habe, das sicher nicht, auch nicht, dass er in Trance gewesen sei, einige von Angst wie gelähmte Soldaten fallen in Trance, aber das ist keine Trance, nur Angst, kurz, dass er, der Unteroffizier es nicht wisse, aber dass Reiter etwas an sich habe, das sogar die Feinde spürten, die mehrmals auf ihn geschossen hätten, ohne ihn zu treffen, was sie immer nervöser machte.
    Nicht alle Teile von "2666" sind gleichermaßen geglückt. Archimboldis Schriftstellerbiografie weist die meisten Ungereimtheiten auf, obwohl es auch hier bestechende Passagen gibt: so wie die über die Moskauer Intellektuellen nach der Revolution oder die eines fehlgeleiteten Judentransports. Aber dass bestimmte Erzählstränge zu wuchern beginnen oder scheitern können, gehört für Bolaño dazu. In der Nachfolge von Kafka, Borges und Cortázar begreift er Literatur als etwas Unausgegorenes und Riskantes. Statt "Moby Dic"k läse man heute lieber "Bartleby", lässt er Amalfitano sagen, statt dem "Prozess" die "Verwandlung".

    Trauriges Paradox, dachte Amalfitano. Nicht einmal belesene Apotheker wagen sich mehr an die großen, die unvollkommenen, die überschäumenden Werke, die Schneisen ins Unbekannte schlagen. Sie geben den perfekten Fingerübungen den Vorzug. Anders gesagt: Sie wollen die großen Meister bei eleganten Fechtübungen beobachten, aber nichts wissen von den wahren Kämpfen, in denen die großen Meister gegen jenes Etwas kämpfen, das uns allen Angst einjagt, jenes Etwas, das gefährlich die Hörner senkt, und es gibt Blutvergießen, tödliche Wunden und Gestank.
    Dies ist die beste Beschreibung dessen, was Bolaño in seinem letzten Werk unternimmt. Er wagt sich hinab in die Grabkammern der Gegenwart und erzählt davon. Aufregender kann ein Roman nicht sein.

    Roberto Bolaño: "2666". Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag. München 2009, 1093 Seiten, 29, 90 Euro