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Die Welt, wie sie Gaddafi sieht

Auf einer Verkehrsinsel in Tripolis steht ein Denkmal, das drei überdimensionale Bücher in rot, blau und grün zeigt. Sie stehen für die drei Möglichkeiten, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren. So jedenfalls sieht es Revolutionsführer Muammar al-Gadaffi. Sein vor 30 Jahren verfasstes "Grünes Buch" steht über den beiden anderen, die sich dem Marxismus und dem Kapitalismus widmen. Kurt Gerhardt hat die politische Fibel Gaddafis gelesen.

    "Der Mann kann weder schwanger werden noch stillen," teilt "Bruder Führer" mit, im Kapitel "Die Frau". Derlei Erkenntnisse gehören zu Gaddafis "Dritter Universaltheorie", wie er sein Werk in notorischer Bescheidenheit nennt, aufgeschrieben auf knapp 120 Seiten. Veröffentlicht in mehreren Schritten hat es Oberst Gaddafi seit Mitte der 70er Jahre. Da war er kaum 35 Jahre alt und schon seit sieben Jahren an der Macht, die er 1969 durch einen Putsch an sich gerissen hatte.

    "Dritte Universaltheorie" – damit sollte jenseits von Kapitalismus und Kommunismus eine neue Gesellschaftsordnung in Worte gefasst und verwirklicht werden. Erstes Kapitel: die "Lösung des Demokratieproblems". "Parlamente isolieren die Volksmassen von der Macht," schrieb er in seinem Grünen Buch. Sie sind "Mittel zur Ausplünderung und Aneignung der Volksmacht".

    Auch die Parteien schrieb er in Grund und Boden: Sie seien "vorgetäuschte Demokratie" und in Wirklichkeit "offene Diktatur".

    Als Heilmittel bietet der kapriziöse Meister ein gesellschaftliches Steuerungssystem, dessen Ausläufer man noch heute erlebt, wenn man sich zum Beispiel an die libysche Botschaft in Berlin wendet, die eben nicht so heißt, sondern "Volksbüro", Volksbüro der "Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Dschamahirija". Letztere ist auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein Geflecht aus Volkskomitees und -kongressen, durch die wahre Herrschaft des Volkes angeblich möglich wird in "direkter Demokratie", wie Gaddafi sagte, und die sei die "endgültige Lösung des Problems".

    Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus, denn nach wie vor trifft der Oberst alle wichtigen Entscheidungen selbst – also in einer verkappten Diktatur.

    Basis aller Überlegungen ist für Gaddafi der Islam. Jedes politische System müsse im Glauben verwurzelt sein. Wenn er formuliert, "die Freiheit ist bedroht, solange die Gesellschaft kein geheiligtes Gesetz hat", ein durch Regierungen nicht veränderbares – dann könnte dies auch aus einer päpstlichen Verlautbarung stammen.

    Im dritten Kapitel der Schrift geht es um Soziales. Darin verkündet der Libyer unter anderem, die Herrschaft der weißen Rasse gehe zu Ende, und: "Jetzt wird es an der schwarzen Rasse sein, sich durchzusetzen." Gelegentlich schweift er ins Poetische: Wo Familien in Gefahr sind, da seien die Gesellschaften wie Felder, deren Pflanzen verdorren und durch Feuersbrunst zerstört werden.

    Auch Kritiker geben zu, dass durch das Grüne Buch einiges zum besseren bewegt worden sei. Zum Beispiel für die Frauen, die seien in Libyen rechtlich und politisch besser gestellt als in den Nachbarländern.

    Im Zuge der jüngsten politischen Neuorientierung des Staates, der Öffnung gegenüber dem Westen, ist manches an der universaltheoretischen Ordnung Gaddafis in Bewegung geraten. Privateigentum ist wieder möglich, über frühere Begrenzungen hinaus. Sonst gäbe es keine Auslandsinvestitionen. Um diese zu begünstigen, werden inzwischen Staatsbetriebe privatisiert.

    Zu dieser Rolle rückwärts passt der Niedergang des "Internationalen Studien- und Forschungszentrums des Grünen Buches", wie es sich nennt, in der Hauptstadt Tripolis. Es hat Gaddafis Schrift herausgegeben und ausgiebig erforscht. Aber inzwischen tut sich da offenbar nicht mehr viel. Wenn man auf der Website des Hauses nach Informationen sucht, die in verschiedenen Sprachen angeboten werden, dann findet man nur Fehlanzeigen und nur noch Arabisches.

    Das Grüne Buch ist zwar nach wie vor offizielle Staatsdoktrin in Libyen, aber dass es im Lande je noch einmal Wirklichkeit werden und vor allem weltweit ausstrahlen könnte, diese Erwartung scheint dahin zu sein. Und deswegen liegt die Vermutung nahe, dass man dereinst auf diesen Fall zurückschauen und sagen wird: Es war eine Kapriole der Weltgeschichte.

    Muammar el-Gaddafi: Das Grüne Buch. Die dritte Universaltheorie
    1975 erstmals erschienen