Als Vierjähriger hatte der in Manchester geborene John Foulds mit dem Klavierspiel begonnen; später kam die Oboe, dann das Cello als sein Hauptinstrument dazu. Schon mit sieben Jahren komponierte er. Man weiß wenig über seine Kindheit, die wohl nicht allzu glücklich gewesen sein muss, denn mit dreizehn lief er von zuhause weg und verdiente bald darauf seinen Lebensunterhalt als professioneller Orchestermusiker. Mit achtzehn komponierte er ein Streichquartett, in dem er stellenweise – vermutlich als erster europäischer Komponist – Vierteltöne benutzte. Diese Vorliebe für kleinere Intervalle als die bei unseren traditionellen Skalen üblichen Halbtonschritte behielt er bei; nicht als regelhaft neu erfundenes Tonsystem, sondern mehr als besonderes Ausdrucksmittel. Auch in der jetzt eingespielten Ton-Dichtung "Mirage" von 1910 finden sich z.B. im dritten Teil solche Passagen. Ansonsten gibt es Stellen, die nach Richard Wagner klingen und andere, wo man sich an die großen Tondichtungen von Richard Strauss erinnert fühlt. Die Überschriften der einzelnen Abschnitte lassen an philosophische Strömungen der Zeit denken, wenn von der "unwandelbaren Natur", vom "ewigen Streben des Menschen", seiner "ewigen Unvollkommenheit" oder dem "Sieg des Menschen über sich selbst" die Rede ist.
• Musikbeispiel: John Foulds - 3. Satz aus: "Mirage"
Das war der dritte Satz "Lento assai – Allegro molto" aus der Tondichtung "Mirage von John Foulds, gespielt vom City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung von Sakari Oramo. 1915 lernte John Foulds in London seine große Liebe Maud MacCarthy kennen. Auch sie war von Kindesbeinen an mit Musik vertraut, hatte eine viel versprechende Wunderkind-Karriere als Geigerin jedoch aufgrund eines Nervenleidens aufgeben müssen. Sie interessierte sich brennend für alles Indische, für Esoterik und Okkultismus. 1909, also lange vor den Beatles oder den sinnsuchenden Aussteigern der Hippie-Bewegung, war sie nach Indien gegangen, hatte Volksmelodien gesammelt und zwei Jahre lang indische Kunstmusik und das Spiel einiger landestypischer Instrumente studiert. Mit verblüffender Natürlichkeit gelang ihr das Singen der traditionellen Skalen. Bei ihr lernte John Foulds später das Tablaspiel, durch sie wurde sein Interesse an exotischen Klangwelten verstärkt und in systematische Bahnen gelenkt. Er erstellte einen Katalog von 90 Modi, allesamt seiner Meinung nach ebenso sinnvoll und in sich abgeschlossen wie die beiden in westlicher Musik gebräuchlichsten Skalen der Dur- und Molltonleiter. Und um das zu beweisen, begann er mit der Komposition eines Zyklus’ von Klavierwerken nach Vorbild von Bachs "Wohltemperierten Klavier", in dem jedem dieser Modi ein eigenes Stück gewidmet sein sollte. Auch hier erweist sich Foulds als sehr früher Vordenker einer Musikrichtung, die später ein Komponist wie der Franzose Olivier Messiaen zu großer Blüte gebracht hat.
Vermutlich für "seine" Maud komponierte John Foulds auch das Stück "Lyra Celtica", ein Konzert für wortlose Stimme und Orchester. Ähnlich wie Glière, Vaughan Williams, Nielsen oder Rachmaninow fügt Foulds hier die menschliche Stimme als zusätzliche Klangfarbe ins große Orchester ein. Neben der 22-stufigen, mikrotonalen Skala der klassischen Indischen Musik, mit deren Ausführung Maud MacCarthy so gut vertraut war, findet man hier vor allem auch Melodien der Hebriden. Foulds gelingt der Brückenschlag zwischen diesen beiden Kulturen mühelos und in sehr poetischer Weise. Solistin unserer Aufnahme ist Susen Bickley.
• Musikbeispiel: John Foulds - 2. Satz (Anfang) aus: "Lyra Celtica” – Concerto for Voice and Orchestra, op. 50
Im April 1935 war es dann so weit: John Foulds segelte mit Frau und zwei Kindern nach Indien. Auch er betrieb jetzt Volksmusik-Forschung, wurde dann in Delhi beim Rundfunk Direktor für Europäische Musik und begann daneben, mit indischen Musikern auf deren Instrumenten zu probieren. 1938 wurde das erste präsentierbare Resultat des Zusammenspiels eines westlichen Orchesters mit einer Gruppe indischer Musiker der Öffentlichkeit präsentiert – lange vor den spektakulären Begegnungen "West meets East" der 70er Jahre, die Ravi Shankar und Yehudi Menuhin zusammenführten. Auch mit indischer Religion und Mythologie hat Foulds sich beschäftigt: Schon in den 20er Jahren hatte er an einer geheimnisvollen Sanskrit-Oper gearbeitet, die er schließlich aufgab und vernichtete. Nur die drei Orchestereinleitungen zu den drei Akten sind unter dem Titel "3 Mantras" erhalten; sie wurden erst 1997 bei der Musik-Biennale in Helsinki uraufgeführt. Einem Musikstück den Titel "Mantra" zu geben – auch mit dieser Idee hatte Foulds wieder einmal die Nase vorn, vor Karlheinz Stockhausen zum Beispiel, der 1970 ein Klavierstück so nannte.
• Musikbeispiel: John Foulds - 'Mantra 1 (Ausschnitt) aus: "Three Mantras"
1939 starb John Foulds in Kalkutta an der Cholera, seine Witwe Maud heiratete später einen Guru und stieg als erste Frau zum vollen Sannyasa-Rang auf. Sie bewahrte Foulds Partituren und Manuskripte so gut es ging durch bewegte Zeiten und nahm alles Ende der 50er Jahre mit nach Europa, wo sie 1967 auf der Isle of Man verstarb.
• Musikbeispiel: John Foulds – 1. Satz aus: "Apotheosis"
Die Neue Platte – heute mit Musik des englischen Komponisten John Foulds, eingespielt bei Warner Classics vom City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung von Sakari Oramo. Solist beim letzten Musikbeispiel war der Geiger Daniel Hope.