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"Die Wildente"

Regisseur Armin Petras hat seine Erfahrungen mit dem Lieblingsthema von Ibsen: Lebenslüge auf der einen Seite und verbissener Wahrheitsglaube auf der anderen Seite. Bei Ibsen geht es nicht mehr um naturalistische Milieuschilderung, sondern um Lebensprinzipien. Nun hat Armin Petras den Klassiker am Kölner Schauspiel aufgeführt.

Von Karin Fischer | 12.06.2005
    Das überragende Kennzeichen des Regisseurs Armin Petras ist, dass er sowohl spielerisch als auch politisch auf die Welt guckt. Ein Merkmal seiner Handschrift sind phantasievolle Zeichen, die aus einer anderen Welt in ein Stück hinein ragen. Mal ersetzen Kinderzeichnungen große Teile des Bühnenbilds, wie in "We are camera / jasonmaterial" von Fritz Kater, in "3 von 5 Millionen" vom selben Autor machte Petras einen sozialen Schocker mit Puppen und Knetfilmanimationen zur Märchenstunde für Erwachsene.

    In Ibsens "Wildente" ist es ein überlebensgroßer, aus grünem Plastik-Gestänge gebauter Dinosaurier, der als die "große Erfindung" Hjalmar Ekdals durch die packpapierdünne Wand der trostlosen Hütte geschoben wird. Es setzt den farbigen Kontrapunkt zu einem blutverschmierten Hasen, den der alte Ekdal angeschleppt hat und der als Menetekel an die Wand genagelt oder von Gregers Werle heftig umklammert wird, jenem Aktivisten der Wahrheitssuche, dessen Lebensaufgabe es ist, Hjalmar Ekdal die Augen über die Lüge seiner Existenz zu öffnen, was bekanntlich tödlich ausgeht.

    Die Wildente dagegen - der angeschossene Vogel, den Hjalmars Tochter Hedvig auf dem Dachboden aufopferungsvoll pflegt, bei Ibsen Symbol für das angeschlagene und abhängige Leben der Ekdals vom alten Werle - ist bei Petras zu einer marginalisierten Spezies mutiert. Die zentrale Rolle in seinem Stück spielt der Krieg. Schon die erste Szene - der junge Werle trifft den jungen Ekdal auf einer Partygesellschaft wieder - wird flankiert von Filmausschnitten, die, so oft hat man sie inzwischen gesehen - fast Ikonen vom schaurigen Ende des zweiten Weltkriegs geworden sind: gefangene Soldaten, durch Brandbomben skelettierte Häuser, Explosionen in Nahsicht, der Bombenteppich, aus Flugzeugen gefilmt.

    Später dienen die beiden Leinwände als Projektionsfläche für Hjalmars Fotogeschäft; der Mann retouschiert bevorzugt schwarz-weiss-Fotos aus der Nachkriegszeit. Rolf Dieter Brinkmanns biographische Protokolle liefern als kurze Erinnerungsschnipsel eine zusätzliche Erzählebene. Dass aus all dem keine platte Politparabel wird, hat wieder mit Petras' erfindungsreicher Zeichenwelt zu tun - und mit seiner Liebe zu den Figuren. Die Aussage ist eindeutig, wenn Mutter und Tochter Ekdal KZ-Überlebende mit Anzügen und ein Foto vom Nürnberger Prozess mit Comicfiguren überkleben oder den Atompilz als Hintergrund für eine Urlaubsbild-Collage nehmen.

    Doch mit diesem Bild werden weder die Opfer genötigt noch die Täter denunziert, es ist einfach eine Feststellung: Der Mensch will vergessen, und er hat und hatte es nötig. Bilder von James Dean oder Romy Schneider vervollständigen den Caprisonnendurst und Vergessenshunger der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Männer - Peter Moltzen als Gregers Werle und Janning Kahnert als Hjalmar Ekdal - stehen dabei für konträre Prinzipien, die verzweifelte, fast hysterische Aufklärung gegen das fröhliche, am Ende ebenso trostlose "Weiter so", während die Frauen - allen voran Oda Pretzschner als Ehefrau Ekdal und frühere Haushälterin und Geliebte des alten Werle - wieder einmal das praktische Prinzip verkörpern. Sie haben keine Wahl, aber ein großes Plus: Wer überleben muss und dabei freundlich bleibt, hat schon gewonnen....

    So lässt sich mit Ibsen ein intelligenter Kommentar zu 60 Jahren Kriegsende abgeben, und das auch noch mit Kölner Lokalkolorit. Petras hat dem Stück nämlich eine Erzählung von Heinrich Böll, "Kumpel mit dem langen Haar" aus dem Jahr 1965 als Epilog hinzugefügt. Ein Mann entgeht auf dem Kölner Schwarzmarkt knapp einer Razzia, flüchtet aus der Stadt und lernt auf dem Bahnsteig ein Mädchen kennen, dem er folgt und das am nächsten Morgen seine Frau sein wird. Jetzt öffnet sich die Bühne für eine Großprojektion der zerstörten Stadt Köln auf die gesamte Rückwand; symbolisch wie Ruinen ragen braune Stämme in die Luft. Die dramaturgische Funktion mehrerer Tänzerinnen - Köln hat ja wieder eine Tanzcompagnie - erschließt sich für diesen Teil der Geschichte kaum, wie überhaupt auch diese Petras-Inszenierung mit ein paar überflüssigen Mätzchen aufwartet.

    Wichtiger aber ist die überraschende Verschränkung der Böll-Geschichte mit dem Drama, dessen Schluss, der Selbstmord von Hedwig durch eine Explosion noch einmal mit dem Kriegsende und der Nachkriegszeit überblendet wird. Der Abend endet im immer lauter werdenden Lärm einer nächtlichen Autobahn. Die Opfer sind gezählt, die Geschichte geht brüllend weiter, vielleicht auch unter in Fortschrittslärm und Geschichtsvergessenheit.

    Mit dieser spezifisch Kölner "Wildente" hat Armin Petras seinem immer wieder durchschlagenden Hang zur totalen Schnoddrigkeit im Umgang mit den Klassikern widerstanden und eine Klassiker-Ergänzung vorgelegt, die zu den Aufregenderen der derzeit ohnehin seltenen Kölner Bühnenereignisse gehört. Kein Wunder, dass ein paar heftige Buhs zu hören waren.