Der Bundestag hat gestern neue Schulden in Höhe von 156 Milliarden Euro mit großer Mehrheit beschlossen. Hinzu kommt ein gigantisches Hilfspaket für die Wirtschaft, für die Bürgerinnen und Bürger und auch für das Gesundheitswesen. Alle Pläne zusammen ergeben die bemerkenswerte Summe von 1,2 Billionen Euro. Regierung und Parlament wollen zeigen, dass alles getan wird, um die Folgen der Coronakrise abzumildern.
Der Handelsverband Deutschland vertritt die Interessen von rund 400.000 Unternehmen des Einzelhandels mit knapp drei Millionen Beschäftigten - eine mittelständisch geprägte Branche, wie der Verband selber angibt. Die meisten Firmen hätten demnach weniger als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Stefan Genth ist dort Hauptgeschäftsführer.
Jasper Barenberg: Wie groß sind die Schwierigkeiten der Unternehmen Ihrer Branche durch die drastischen Einschränkungen der vergangenen Wochen?
Stefan Genth: Die Schwierigkeiten sind sehr groß. Durch die Geschäftsschließungen im gesamten Non-Food-Bereich - alles was nicht Lebensmittel ist, darf ja nicht mehr öffnen – ist uns die Geschäftsgrundlage entzogen worden. Aber alle Kosten, insbesondere die Mieten, die sehr hoch sind, beispielsweise in Innenstädten, laufen weiter. Insofern sind wir eine Branche, die direkt von diesen Anordnungen, von diesen Schließungsverfügungen betroffen ist und damit natürlich zu den Verlierern dieser Coronakrise direkt gehört. Deshalb brauchen wir auch besondere Unterstützung. Das haben wir eingefordert. Insofern begrüße wir das Maßnahmenpaket. Aber wir sehen, dass hier nachgesteuert werden muss, weil das Hauptproblem ist, dass hier Kredite ausgereicht werden. Wir haben viele große, mittelständische Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern, mehr als 50 Mitarbeitern, große Textilhäuser, Modehäuser beispielsweise, die Direkthilfen brauchen, oder aber auch, wenn es um Kredite geht, dann bitte ohne Haftung, insofern eine hundertprozentige Haftungsfreistellung. Das was jetzt ausgereicht wird, wird wahrscheinlich hier nicht ausreichen und vor allen Dingen nicht schnell genug ankommen.
"Es sind über 1,1 Milliarden Euro, die jeden Tag fehlen"
Barenberg: Das heißt, Herr Genth, so sehr Sie das Paket insgesamt begrüßen, für Ihre Branche ist es nicht passgenau?
Genth: Es ist deshalb nicht passgenau, weil wir verlieren natürlich einerseits jeden Tag Umsatz. Gerade in diesem ganzen Mode-Einzelhandel, Kauf- und Warenhäuser und dergleichen, sind es über 1,1 Milliarden Euro, die jeden Tag an Umsatz fehlen, und die Kosten laufen weiter. Für Kleinbetriebe bis zu zehn Mitarbeitern gibt es direkte Hilfen, direkte Unterstützung, aber Betriebe, die darüber hinaus größer sind – und das sind viele Modehäuser beispielsweise -, bekommen keine Direkthilfen, sondern können nur Kredite beantragen. Das ist zeitaufwendig und ein großes Problem ist, dass diese Kredite mit einer Haftungsfreistellung von 80 oder 90 Prozent laufen. Das heißt, zehn Prozent muss die Hausbank, die Sparkasse oder wer auch immer das ist selbst übernehmen, und hier gibt es dann schon Probleme.
Barenberg: Wenn ich da mal einhaken darf? Wenn Sie die Kredite ansprechen, die ja sehr großzügig gedacht sind jedenfalls, und dann heißt es, erster Ansprechpartner soll die Hausbank sein, haben Sie denn da schon erste Erfahrungen gemacht und gespiegelt bekommen von Ihren Mitgliedsunternehmen, wie da die Reaktion in der Hausbank ausfällt?
Genth: Ja in der Tat! Die Hausbanken waren überhaupt nicht vorbereitet, müssen jetzt einen Ansturm bewältigen, und wir haben erste Gespräche schon mitbekommen. Eine Hausbank in Süddeutschland beispielsweise hat einem Modehändler gesagt, dass seine Bonität ja ohnehin nicht so gut sei, und diese Haftungsfreistellung bis zu 90 Prozent wäre theoretisch da, aber man könne ihm allenfalls 40 Prozent Haftungsfreistellung gewähren, und er solle doch bitte erst mal sein Privathaus verkaufen oder das als Sicherheit hinterlegen. Sie können sich das vorstellen, wie in dieser Krise unverschuldet ein Modeunternehmen, was bisher wirklich 20, 30, 40 Beschäftigte hatte, gute Umsätze gemacht hatte, ein vernünftiges Auskommen hatte, typischer Mittelstand, dann dasteht. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht, und deshalb muss hier nachgesteuert werden.
Hauptkostenblock neben Personalkosten sind Mietkosten
Barenberg: Wenn das – bleiben wir bei diesem Beispiel – so ist bei diesem Unternehmen, dass der Kredit zunächst einmal nicht gleich kommen kann, dass auf der anderen Seite ja auch die direkte Soforthilfe nicht in Frage kommt, was bedeutet das dann für dieses Unternehmen für die nächste Zeit?
Genth: Das ist genau das riesen Problem, dass insbesondere die Mietzahlungen weiterlaufen. Hier haben wir Mietkostenbelastungen, die auf bis zu 20 Prozent des Umsatzes hochgehen. Ladenlokale in guten Lagen sind teuer. Man kann als Händler natürlich versuchen, die Steuer gestundet zu bekommen, Sozialversicherungsbeiträge auch zu schieben. Das sind aber alles, sage ich mal, Forderungen, die natürlich bestehen bleiben, und letztendlich ist der Hauptkostenblock neben den Personalkosten und der Ware die Mietkosten, und hier brauchen wir dringend eine Entlastung. Im Grunde fordern wir hier ein Nachsteuern, weil ich glaube sogar, dass dieser Finanzrahmen, der jetzt ausgereicht wurde, in der Höhe gar nicht abgerufen werden kann, weil über die Hausbanken diese Kredite an den Mittelstand gar nicht gewährt werden. Hier muss man umdenken.
"Der Mittelstand muss die Gelder auch bekommen"
Barenberg: Nun werden Sie, Herr Genth, diese Vorstellung und diese Forderung nicht im Deutschlandfunk hier zum ersten Mal geäußert haben. Was für Signale bekommen Sie von den Verantwortlichen in der Politik? Gibt es die Bereitschaft, da noch mal feinzujustieren? Alles wurde ja doch in relativ kurzer Zeit zusammengeschrieben.
Genth: In der Tat sind wir im intensiven Dialog mit der Bundesregierung. Das muss man positiv sehen. Es gab etliche persönliche Gespräche auch mit dem Bundeswirtschaftsminister, Herrn Altmaier, auch der direkte Kontakt zur Kanzlerin hat stattgefunden. Wir waren sehr früh unterwegs und sind auch wahrgenommen worden. Man hat natürlich versucht, hier auch beihilferechtlich - das muss auch EU-rechtskonform sein - ein Paket zu schnüren für die gesamte Wirtschaft, das natürlich alle betrifft. Insofern haben wir deutlich auch vom Finanzminister, von Herrn Scholz, aber auch von Herrn Altmaier, dem Wirtschaftsminister gehört, dass dann, wenn es nicht ausreicht, wenn es nicht funktioniert, nachgesteuert werden muss. Ich glaube, es liegt noch nicht mal an der Höhe der Gelder, die bereitgestellt sind. Das ist beachtlich, was die Bundesregierung gemacht hat. Die Wege, wie die Gelder gerade in die mittelständischen Unternehmen kommen, müssen aber hier noch mal überprüft werden, und da sind wir in Gesprächen. In der Tat in diesem Paket, was jetzt verabschiedet wurde, sind Gelder drin, aber der Mittelstand muss es auch bekommen.
"Bayern ist da sehr vorangegangen"
Barenberg: Und das heißt auch, Herr Genth, der Weg, wie Ihre Mitgliedsunternehmen jetzt an Hilfen kommen können, an Kredite, an Steuerstundungen und was da sonst noch alles in dem Paket inbegriffen ist, das ist auch noch nicht ganz klar, wie das jetzt laufen soll? Oder haben Sie Ihre Ansprechpartner und wissen, welche Hilfsmöglichkeiten jetzt da sind?
Genth: Man muss das differenzieren. Was die Steuerstundung anbetrifft, das ist völlig klar über die Finanzämter auch schon gesagt worden. Hier geht es um Körperschaftssteuer, Einkommenssteuer, Gewerbesteuervorauszahlung, insbesondere aber auch um die Umsatzsteuervorauszahlung. Wenn ich keinen Umsatz mache, dann kann ich auch keine Vorauszahlung leisten. Das kann man sehr schnell mit den Finanzverwaltungen klären, genauso wie die Sozialversicherungsbeiträge, die eigentlich morgen von den Konten der Arbeitgeber abgebucht werden. Hier kann man - und hier gibt es ein entsprechend einfaches Formular - sofort handeln. Das ist nicht die alleinige Frage.
Wir sehen aber, dass bei anderen Themen, insbesondere wie komme ich in den Bundesländern an Unterstützung, noch Bedarf besteht. Es gibt Landesprogramme. Bayern beispielsweise ist da sehr vorangegangen, hat noch mal das Bundesprogramm übrigens aufgestockt, auch nicht nur für Betriebe bis zu zehn Mitarbeitern, sondern ist teilweise bis zu 20 Mitarbeitern gegangen. Da sind die Soforthilfen über die Länder auch möglich.
Aber die Frage ist in der Tat noch nicht für alle 100 Prozent entschieden, an wen kann ich mich konkret wenden, wenn ich eine Unterstützung brauche, auch für die kleinen Unternehmen beispielsweise mit bis zu zehn oder 20 Mitarbeitern in den Ländern, an wen wende ich mich direkt, an die Bezirksregierung beispielsweise, und kann solche Direkthilfen beantragen. Da fordern wir nach. Wir sind ja föderal aufgebaut. Als Handelsverband Deutschland gibt es uns von Bayern bis zur Nordsee. Die Kollegen in den Ländern sind da sehr intensiv auch mit den Wirtschaftsministerien der Länder unterwegs.
"Wir leben vom Umsatz, von dem Kundengeschäft"
Barenberg: Sie haben es angesprochen: Der Bund hat das Rettungspaket verabschiedet, aber es gibt auch Hilfsprogramme in den Ländern. Wieviel Zeit, können Sie uns heute sagen, bleibt, bis alles so organisiert ist, dass es Ihrer Branche so hilft, wie das jetzt nötig ist?
Genth: Zeit haben wir im Grunde genommen gar nicht. Wir setzen sehr darauf, dass die Vermieter auch bereit sind, von den Mietkosten herunterzugehen, weil natürlich diese außerordentliche Situation dazu führt, dass wir die Ladenlokale, die wir angemietet haben, ja gar nicht nutzen können. Wir können natürlich als Handel auch keine Zeit von zwei Monaten ohne Umsatz, ohne Geschäft überstehen. Da ist die Liquidität von vielen Mittelständlern gar nicht gegeben. Anders als im Automobilbereich beispielsweise haben wir ja keine Anlageinvestitionen, sondern wir leben natürlich von dem Umsatz, von dem Kundengeschäft. Und ein Hauptproblem ist, dass die Frühjahrsware in den Modehäusern schon angekommen ist. Die brauchen wir ja auch. Sie ist größtenteils bezahlt und kann nicht abverkauft werden. Da ist der Druck natürlich riesig, weil die Liquidität auf den Konten vieler Mittelständler nicht da ist. Insofern brauchen wir jetzt Unterstützung, das heißt nicht erst in vier Wochen, sondern die Gelder müssen jetzt in den nächsten Tagen fließen.
Barenberg: Wenn die Zeit ein so wichtiger Faktor ist – und das ist ja nachvollziehbar aus Ihrer Sicht -, was ist dann mit der Debatte, die jetzt ja schon beginnt, über ein Ende der massiven Einschränkungen im Alltag? Die ersten Forderungen liegen auf dem Tisch, ganz konkret zu sagen, ab Ostern – so sagt es der CDU-Politiker Carsten Linnemann beispielsweise – muss die Wirtschaft wieder schrittweise hochgefahren werden. Was ist Ihre Haltung bei diesem Thema?
Genth: Wir müssen daran denken, dass wir die Wirtschaft auch wieder hochfahren. Den Zeitpunkt bestimmen natürlich nicht wir, sondern Ärzte und Virologen. Das muss man ernst nehmen. Da sind wir natürlich abhängig von diesen Vorgaben. Aber wir müssen auch hier daran denken, wie die Wirtschaft wieder in einen normalen Tritt kommen kann. Und nochmals: Der Einzelhandel ist von dem Kundengeschäft abhängig. Insofern sind diese Öffnungsbeschränkungen, die Schließungen und auch die Kontaktsperren natürlich für uns absolut tödlich.
"Das ist ein Fiasko"
Barenberg: Aber, Herr Genth, wenn diese Maßnahmen noch Monate weiter nötig sind, weil es um den Schutz von Leben und die Gesundheit der Menschen geht, was dann?
Genth: In der Tat ist das eine riesen Herausforderung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir ein viertel Jahr ohne Kunden, ohne Umsatz im Einzelhandel überleben können. Das ist ein Fiasko. Hier würden Tausende von mittelständischen Händlern dann insolvent werden und die Innenstädte, das Bild unserer Städte würde völlig anders aussehen. Wir würden hier gerade den gesunden Mittelbau verlieren, was fatal wäre.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.