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Die Wolfsschlucht in uns

Wo ist der Freischütz hingekommen – dieser halbe Naturbursch aus den böhmischen Wäldern in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs? Nun, Ruth Berghaus verpflanzte ihn in den Blütetagen des Regie-Theaters in ein Ambiente der Beton-Rinnen. Ohne Wald und Schonung. Das trug sich im betonierwütigen Zürich zu. Und seitdem hat keiner, der am Theater was auf sich hält, den Freischütz mehr in anheimelnde Forsthaus-Architektur und unter Tannenwipfel zurückversetzt – es sei denn ironisch. Einzig Werner Tübke ließ ihm, mit deutlicher Annäherung an den Humus, aus dem der Werk-Stoff stammt, im Bonn der 90er Jahre den fortgeschrittensten Stand der DDR-Historien-Malerei zuwachsen. Und Paul Esterhazy inszenierte unlängst in Aachen bei originalem Kerzenlicht eine präzise psychoanalytische Studie in den Biedermeierstuben eines Berliner Beamtenhaushalts von anno 1821 (damals wurde "Der Freischütz" am Gendarmenmarkt zur Uraufführung gebracht).

Von Frieder Reininghaus |
    Nun aber ging es in Basel mit Claus Guth wieder entschieden in Richtung der Gegenwart. Die allerdings bemächtigt sich auf ihre Weise des Historischen: ordinär popularisierend und grausam zerquatschend.

    Was also geht vor? In einem Stadion – angedeutet durch zehntausend Köpfe auf der Tapete des Rundhorizonts – findet das "Sternschießen" statt, bei dem der Amateur Kilian über den Profi Max triumphiert. Siegerehrung wie bei Schumachers auf dem dreistufigen Podest und mit Schampus-Dusche. Der Opernchor an der Bande als Fan-Club.

    Fernsehgehärtete Bilder. Und da ist er auch schon, der violettbefrackte blonde Moderator. Er erläutert die Versuchsanordnung des Freischießens, die Funktion der Freikugeln und der Wolfsschlucht. Seine Aufgabe ist, das einer aufgeklärten Operngängerschaft absurd Anmutende als gleichsam normal und vernünftig erscheinen zu lassen. Der Dramaturg Matthias Günther erfüllt diese Aufgaben vorzüglich. Er ist, mit Abstand, der beste Sänger des Abends. Er intoniert das Hohelied der avancierten Kulturindustrie: dummdreist und durchschlagend wirksam, boshaft Adorno und genüsslich Heine zitierend. Er zerstört die Dialoge Friedrich Kinds (und manchmal auch den musikalischen Erzählfluss Carl Maria von Webers); er bricht die brüchige Handlungslogik des Stücks auf – und konstituiert eine neue: die des Fernseh-Entertainments. Das hat, bis zum doppelt – als Tragödie und als lächerliche Apotheose angebotenen Schluss – eine gewisse kritische Wirkung. Man lacht ein paar mal unter Niveau. Wobei dies beim Niveau der Musik ziemlich schwierig ist; aber die erscheint weithin an den Rand gedrängt von der aufdringlichen Bildwelt. Gelegentlich macht staunen, wie die Kapelle auf die Schönschreib-Luftübungen von Marko Letonja hin doch akkurat anspricht.

    Das Forthaus ist keines und divisum in partes tres: zersägt zu einem Studio-Podest – für das einer amerikanischen Vorabend-Serie entschlüpfte Ännchen, das so mager singt wie es aussieht, für Witwe Agathe, den Trauerkloß, und für den prüfungsneurotischen Max, der in Gestalt von Robert Künzli wie ein Dauerversager dahertapert. Die Wolfsschlucht, in die er muss, ist die johlende Öffentlichkeit der Sport-Arena.

    Die Betreiber des Regie-Theaters bewegen sich in Ideal-Konkurrenz. Da der Mensch dem Menschen nun einmal der Wolf ist, erklärte Gregor Horres im vergangenen Jahr, als er in Bielefeld einen neuen "Freischütz" zeigte, kurzerhand das Parkett zur Wolfsschlucht. Claus Guths Wettkampfstadion war als Steigerung gedacht, erweist sich aber als das theatralisch schwächere Mittel. In dem muss sich Mäxchen um so stärker gebärden: statt wilder Tiere aus dem Gebüsch fahren Angestellte an Schreibtischen herein. Um die Wunder-Munition zu erlangen, muss sich der Prüfling an ihnen exemplarisch versündigen – in aufsteigender Linie bis zu Vergewaltigung und Mord. So holt auch am zugespitzten Ort der Theater-Natur die neue Medien-Kunst diese Produktion ein. Man kann sich amüsieren im Theater Basel. Wegzappen aber, da man eigens ins Theater kommen musste, lässt sich diese Form von Pay-TV allerdings nicht.