Eneas Mc Nulty, ein verträumter, nicht eben schlauer Junge, wird im Jahr 1900 geboren und verbringt eine glückliche Kindheit im pastoralen westirischen Sligo. Weshalb der Junge den bedeutungsvollen Namen des vergilschen Helden trägt, wird nie aufgeklärt, doch über zwei andere Legenden weiß Eneas bald genau Bescheid. Die Familie, so erzählt der Vater, sei früher eine Dynastie wohlhabender Butterhändler gewesen, und darüberhinaus liege unter dem Herd Gold von einem jener spanischen Schiffe vergraben, die 1588 vor der Küste von Sligo Schiffbruch erlitten. Heute allerdings näht sein Vater Anzüge für die Insassen des nahegelegenen Irrenhauses und ist außerdem Musiker. Als der erste Weltkrieg beginnt, folgt Eneas einer alten irischen Sympathie und beschließt für Frankreich zu kämpfen. Auf Krieg folgen Unabhängigkeitskampf und Bürgerkrieg, nun auch in Sligo. Nicht wer man ist zählt jetzt, sondern auf welcher Seite man steht. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und Eneas schließt sich, nichts böses ahnend oder gar beabsichtigend, der Royal Irish Constabulary an. Dies ist keine kluge Entscheidung, denn die britisch kontrollierte Polizeitruppe ist im Unabhängigkeitskampf der Hauptgegner der IRA. Eneas wird Zeuge übelster Gewalttaten und verläßt die Truppe bald wieder. Doch zu spät: er ist bereits auf der Schwarzen Liste der IRA vermerkt. Und die IRA vergißt nicht, nie. Der Jugendfreund Jonno Lynch, der Eneas einst zeigte, wie man sich Zugang zu den Äpfeln im Nachbargarten und dann auch zu Mädchen verschafft, ist inzwischen zum IRA-Killer aufgestiegen und überbringt am Tag, als die Unabhängigkeit der 26 südirischen Provinzen offiziell wird, persönlich den Befehl, das nun freie Land bei Todesstrafe bis zum nächsten Morgen für immer zu verlassen.
Eneas Mc Nulty ist, den alten Definitionen zufolge, der perfekte Ire: kleinstädtischer Herkunft, katholisch und arm. Gerade ihm, so muß man annehmen, sollte die Unabhängigkeit vom Britischen Empire zum Vorteil gereichen. Doch in der Realität beraubt ihn eben diese Unabhängigkeit seiner gesamten Existenz und macht ihn zu einem der vielen Flüchtlinge, Migranten, Vertriebenen, die dieses Jahrhundert in so müheloser Routine millionenfach produziert hat. Dazu Barry:
"Ich glaube, dass das größte Problem die Frage der Macht ist. Sobald die Freiheitskämpfer an der Macht sind, beginnen sie damit, andere zu unterdrücken. Das scheint eine grauenhafte menschliche Gleichung zu sein. Und dies ist eine Kritik an der Gattung Mensch, nicht an unseren Nationen. Während des Großen Hungers flohen viele Iren, z.B. nach Boston, South Boston. Einige Generationen später finden sie dort ein sehr spürbares, systematisches Vorurteil gegen die schwarze Bevölkerung von Boston. Sehen Sie, man würde erwarten, dass die irische Erfahrung eine inspirierende Philosophie von Toleranz und Offenheit sei, aber tragischerweise muß ich Ihnen sagen: Das stimmt nicht!"
Obwohl Die Zeitläufte des Eneas McNulty neues Licht auf eine Reihe von zentralen Fragen der irischen Geschichte werfen, handelt es sich doch keineswegs um einen konventionellen historischen Roman. Die gegebene knappe Inhaltsangabe für den ersten Teils des Romans erklärt nur zum kleineren Teil, was Barrys Roman so einzigartig macht, weshalb er ebenso verzaubert, wie er befremdet. Barry ist als Autor am Ende des 20. Jahrhunderts mit den gebrochenen, fragmentierten Erzählformen der literarischen Moderne ganz offenkundig ebenso vertraut wie mit den verbreiteten Zweifeln an der Erzählbarkeit von Geschichte. Er kommt nahezu durchgängig ohne die Nennung historischer Fakten und Jahreszahlen aus und konzentriert sich voll auf die Erfahrungen des Helden, der der Geschichte ausgesetzt ist, ohne viel von weltpolitischen Zusammenhängen zu wissen oder zu verstehen. Seinen stärksten Ausdruck findet dieser idiosynkratische Blick zurück durch das Jahrhundert in Barrys extrem lyrischer, metaphernüberladener Sprache. Es ist diese Sprache, die den Roman in der englischsprachigen Welt zu einer Sensation machte.
"Für mich war es eine Art von Musik. Beim Schreiben mußte ich mich dieser Musik vollkommen ergeben. Heute weiß ich, dass es eine quasi-biblische Sprache ist, die von irischer Umgangssprache zusammengehalten wird. Ich kann sehen, dass es so konstruiert ist. Wenn man bedenkt, was für ein Leben Eneas geführt hat, voll von Suppenküchen, stets irgendetwas aufschnappend, immer weit von zu Hause weg, in fremden Ländern, in denen sein eigenes irisches Englisch auseinander gefallen ist - ich glaube, das macht seine Sprache aus. Es ist die besondere Sprache von Eneas McNulty, es ist McNulty Sprech – seine ganz persönliche Sprache."
Leider verlieren sich in der deutschen Übersetzung die im Original klar erkennbaren Übergänge zwischen den einzelnen Sprachschichten und die grobe Schönheit irischer Vulgärsprache in einem durchgehend recht artifiziell wirkenden, homogenen Sprachfluss. Nicht eine kompetente Übersetzung, sondern eine inspirierte Nachdichtung wäre hier nötig gewesen. Doch ist der Zauber von Sebastian Barrys Sprache stark genug, die Verluste zu überstrahlen.
Obwohl die Reisen des irischen Eneas quer durch die Welt bis hin zum Showdown im London der 70er Jahre nichts ganz so gelungen scheinen, wie der Bericht von den Ereignissen in Sligo, und ungeachtet der Tatsache, dass Barrys Sprachorgie im zweiten und dritten Teil des Romans gelegentlich etwas überambitioniert wirkt, bleibt "Die Zeitläufte des Eneas McNulty" doch ein überzeugender historischer Roman von einer fabelhaften sprachlichen Intensität und Erfindungsgabe.