Lange: Herr von Kirchbach, der kalte Krieg ist vor zehn Jahren zu Ende gegangen. Warum gibt es, was die Zukunft der Bundeswehr angeht, immer noch so viele offene Fragen?
Von Kirchbach: Die sicherheitspolitische Lage hat sich ja fundamental geändert, aber nicht vor zehn Jahren, sondern die Folge der Änderungen von vor zehn Jahren werden in ihren Konsequenzen zu einem guten Teil erst heute sichtbar. Vor zehn Jahren - daran darf ich erinnern - hatten wir etwa 250.000 sowjetische Soldaten in Deutschland. 1994 sind die Russen abgezogen. Das war damals zwischen Kohl und Gorbatschow vereinbart worden. 1994 haben wir erst eine Rechtsgrundlage für internationale Einsätze bekommen durch das Urteil des Verfassungsgerichts. Just um diese Zeit haben wir angefangen, unsere Struktur zu verändern, eine beschränkte Krisenreaktionsfähigkeit herzustellen. So weit sind wir glücklicherweise. Wir haben heute 9.500 Soldaten in internationalen Einsätzen. 63.000 sind es insgesamt, die auf dem Balkan schon eingesetzt waren. Ich denke schon, dass wir schnell und flexibel reagiert haben, aber dieser Prozess ist nicht zu Ende. Durch neue NATO-Strategien, neue Bündnispartner und natürlich auch durch die Ergebnisse unserer Bestandsaufnahme ist jetzt ein nächster Schritt erforderlich.
Lange: Es gibt Klagen über den schlechten Zustand der Ausrüstung und die Belastung der Truppe. Diese Klagen sind laut und unüberhörbar. Was trifft denn nach Ihrer Meinung zu und was ist übertrieben?
Von Kirchbach: Man muss immer zwei Seiten sehen. Die Klagen über die Ausrüstung sind zu einem Teil ganz bestimmt berechtigt. Wir haben einige Waffensysteme, die veraltet sind. Wir haben damit dann auch viel zu viele Ausgaben für Instandsetzung und Instandhaltung. Wir haben andere Bereiche, wo wir mit unserer Ausrüstung, mit unserer Bewaffnung an der Spitze des Fortschritts sind. Es ist also kein einseitiges Bild, sondern beides ist insgesamt richtig. Die Belastung - da haben Sie völlig Recht - die erstreckt sich am Ende in jeden Truppenteil. Das liegt im wesentlichen daran, dass wir in unserer Struktur auf diese Masse der internationalen Einsätze, diese Quantität und Qualität noch nicht hinreichend eingestellt sind.
Lange: Wenn es nach Ihnen geht, muss ja im Grunde alles auf den Prüfstand: Auftrag, Umfang, Strukturen, Ausrüstung, Stationierung und Wehrform. Wie sieht denn die nach Ihrer Auffassung ideale Bundeswehr aus?
Von Kirchbach: Daran arbeiten wir im Moment, und ich kann Eckwerte natürlich noch nicht vorhersagen, das Ergebnis noch nicht vorhersagen, auch die Kommissionsarbeit. Dennoch kann ich Ihnen, denke ich, einiges an Richtungen sagen. Die erste Sache: Wir werden uns Fähigkeiten neu zulegen müssen. Drei habe ich in der Tagung beispielhaft angesprochen. Es gibt noch andere. Das ist das Beispiel der strategischen Aufklärung, der Kommunikation, des strategischen Transports, Land-, Luft- und Seetransport, Präzisionsbewaffnung will ich vielleicht als viertes noch hinzunehmen.
Lange: Ist das jetzt Ihre Idealvorstellung oder ist es das, was auch unter dem Diktat der knappen Kassen unter allen Umständen bleiben muss?
Von Kirchbach: Moment, da kommt jetzt ein zweites Gebiet hinzu. Wer Bundeswehr der Zukunft vernünftig plant muss auch dazu sagen und prüfen, ob es nicht Fähigkeiten gibt, die wir künftig in verminderter Form oder überhaupt nicht mehr brauchen. Wir haben Kräfte, die für die Landesverteidigung optimiert sind. Dort werden wir auch Abstriche machen können, ohne dem neuen strategischen Konzept entgegenzulaufen, sondern im Sinne des neuen strategischen Konzepts an einer Ecke weniger, an einer anderen mehr eine wirklich neue Balance zwischen den Kräften für den Einsatz und zwischen den Kräften für Verstärkung, den Kräften für den Dauerbetrieb der Streitkräfte und natürlich auch eine neue Balance zwischen den Mitteln, die wir aufwenden für die Modernisierung, und den Mitteln, die wir aufwenden für Personal und Betrieb.
Lange: Jetzt gibt es Stimmen, die befürchten auf lange Sicht eine Zweiteilung der Bundeswehr: einerseits die Krisenreaktionskräfte, gewissermaßen die Profis mit modernster Ausrüstung, andererseits die nunmehr etwas weniger wichtige Landesverteidigung, getragen hauptsächlich von Wehrpflichtigen mit vielleicht dann auch veraltetem Material. Sind diese Befürchtungen berechtigt?
Von Kirchbach: Es ist klar, wenn sie Modernisierung insgesamt nicht leisten können - in dieser Situation befinden wir uns jetzt seit einigen Jahren -, dass sie bei Modernisierung zunächst immer dort ansetzen, wo der Einsatz der Kräfte am wahrscheinlichsten ist. Das heißt, wenn sie nicht rundum modernisieren können, geben sie wenigstens den Kräften, die in den Einsatz gehen, das, was sie für den Einsatz brauchen. In dieser Situation leben wir seit einigen Jahren. Das ist auch Teil des Bestrebens, zu einer Änderung zu kommen in der Bundeswehrstruktur, dort einen Fortschritt zu erzielen. Ich mache aber darauf aufmerksam: Das schafft auch keine Armee, rundum alles was sie hat immer auf dem allerneuesten, allermodernsten Stand zu halten. Das ist immer ein Prozess, der mehrere Jahre in Anspruch nimmt, auch bei unseren Bündnispartnern.
Lange: Sie fordern eine klare und sichere Finanzlinie für die Streitkräfte. Hat Bundeskanzler Schröder gestern zu dieser Klarheit beigetragen?
Von Kirchbach: Der Bundeskanzler hat über Finanzen auch gesprochen. Er hat festgestellt, dass es einen Investitionsbedarf in der Bundeswehr gibt. Er hat festgestellt, dass es in der Bundeswehr auch einen Nachholbedarf gibt, was Investitionen angeht. Er hat auf die Untersuchung der Kommission und des Ministeriums verwiesen, also den Auftrag, der an mich gegangen ist. Er hat uns aufgefordert, sparsam mit dem Geld umzugehen und alle Möglichkeiten zu suchen, effektiv die künftige Bundeswehr zu gestalten, und hat gesagt, dass über den Finanzbedarf entschieden wird im Lichte der Ergebnisse der Kommission.
Lange: Aber neben Schröders Wort steht ja wohl immer noch die Finanzplanung von Hans Eichel, und danach soll der Etat der Streitkräfte in den kommenden Jahren weiter gekürzt werden. Wird das so kommen?
Von Kirchbach: Ich gehe davon aus - so habe ich auch den Kanzler verstanden -, dass das Jahr 2000 natürlich gelaufen ist. Darüber habe ich auch bei der Kommandeurtagung gesprochen. Ich gehe davon aus, dass genau wie wir in der Bundeswehr alles auf den Prüfstand stellen für die Folgejahre natürlich auch die Finanzen noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden.
Lange: Eine Lösung könnte ja in der Rationalisierung liegen: weniger Leute, dafür mehr Hightech. Hätte dann die Wehrpflicht noch eine Zukunft?
Von Kirchbach: Weniger Leute, mehr Hightech. Das ist natürlich immer eine Feststellung, die problematisch ist. Die Wehrpflicht begründet sich am Ende aus der Sicherheitspolitik, nämlich aus der Notwendigkeit zur Mobilmachung und Aufwuchs. Von daher denke ich wird sie eine Zukunft haben. Auch in einer Hightech-Armee fährt man mit Wehrpflichtigen sehr gut, weil aus den Wehrpflichtigen auch die Längerdiener hervorgehen, die alle eine vernünftige und gute Berufsausbildung mitbringen.
Lange: Herr von Kirchbach, können Sie angesichts der Perspektiven der Bundeswehr heute einem jungen Mann guten Gewissens empfehlen, eine Laufbahn bei den Streitkräften anzustreben?
Von Kirchbach: Das kann ich jedem jungen Mann empfehlen. Dazu will ich Ihnen folgendes sagen: Bundeswehr wird gebraucht werden, heute und in Zukunft. Sie wird für unseren Staat ungemein wichtig sein, heute und in Zukunft. Wissen Sie, ein junger Mann oder auch eine junge Frau sollte die berufliche Karriere danach ausrichten. Ich denke, zu einer Firma geht man ja auch dann, die gebraucht wird, wenn sie herangeht, einige un-rentable Filialen zu schließen.
Lange: General Hans-Peter von Kirchbach war das, der Generalinspekteur der Bundeswehr. - Ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch und auf Wiederhören
Link: (Rudolf Scharping: "Die Bundeswehr trägt den Sparkurs mit" (22.7.99)==>/cgi-bin/es/neu-interview/337.html)