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Die Zukunft Israels: Ein binationaler Staat

Im Buch "Erfindung des Landes Israel" befasst sich der israelische Historiker Shlomo Sand mit der Legitimation des Staates. Die Okkupation des Landes der Palästinenser führt nach seiner Meinung notwendigerweise zu einem binationalen Staat von Juden und Palästinensern.

Von Helge Buttkereit |
    Beginnen wir mit dem Hauptvorwurf gegen Shlomo Sand, er würde das Existenzrecht Israels negieren. Dieser Vorwurf, erhoben auf Grundlage seines Buches "Die Erfindung des jüdischen Volkes", trifft aber nicht den Kern der Sache. Der israelische Historiker negiert nicht den Staat Israel, sondern er negiert die Mythen, die zur Legitimation der aktuellen israelischen Politik und zur Entstehung des jüdischen Staates herangezogen werden. In seinem neuen Buch über die "Erfindung des Landes Israels" fasst er zusammen:

    "Dieser Studie geht es vor allem darum, den Grundsatz des 'historischen Anrechts' ebenso zu entzaubern wie die mit ihm verbundenen nationalen Narrative, die allein dem Zweck dienen, die Inbesitznahme des Territoriums moralisch zu legitimieren. Der Ansatz dieses Buches besteht darin, die etablierte Historiografie zu kritisieren und dabei auch den revolutionären Paradigmenwechsel zu charakterisieren, den der Zionismus innerhalb eines zusehends geschwächten Judentums auslöste."

    Sand geht davon aus, dass der Zionismus als Grundlage der israelischen Staatswerdung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Religion instrumentalisiert und umfunktioniert hat. Sie wurde zur Legitimationsideologie und entfernte sich vom theologischen Kern des Judentums. Sand schreibt:

    "Der säkulare Zionismus war bereits in der frühesten Phase seines Siedlungswerkes auf religiöse Gewänder angewiesen – sei es in dem Bestreben, die Grenzen der 'Ethnie' zu bewahren und zu stärken, sei es, um die Grenzen des 'Landes der Väter' zu lokalisieren.""

    Shlomo Sand geht es in seinem neuen Buch um die Jahrtausende alte Geschichte des Territoriums und die seiner Bewohner. Der Autor blickt als säkularer Jude historisch in die Zeit der Entstehung der hebräischen Bibel also des Alten Testaments zurück und verfolgt die Geschichte der Region bis heute. Dabei ist sein Erkenntnisinteresse von den heutigen Mythen um das Anrecht der Juden auf das Land geleitet. Sands Kernthese lautet, dass es zu biblischen Zeiten bis in die Neuzeit keine nationalstaatlichen Formen gab und somit auch keine Basis dafür existiert, die Bibel heute für die Legitimation eines Nationalstaats zu nutzen. Gleichzeitig widerspricht er der Aussage, es habe eine Vertreibung der Juden aus dem heiligen Land gegeben.

    "Diese lokale Bevölkerung, die irgendwann begann, den Glauben an einen einzigen Gott anzunehmen, wurde niemals aus ihrem Land entwurzelt, sondern veränderte lediglich die Nuancen ihres Glaubens. Und so wurde auch kein auserwähltes Volk über den Erdball verteilt, sondern eine junge, dynamische Religion, die sich ausbreitete und viele Anhänger gewann. Die in Scharen zum Judentum übergetretenen Menschen und ihre Nachfahren sehnten sich inbrünstig nach dem heiligen Ort, von dem die Erlösung ihren Ausgang nehmen sollte, doch niemals wäre es ihnen ernsthaft in den Sinn gekommen, dorthin auszuwandern, was sie also auch nicht taten."

    Es habe eben keine Rückkehrbewegung der Juden gegeben, so lautet die zweite Kernthese des Autors. Dies müsse man auch nach den Erkenntnissen der israelischen Historiografie konstatieren. Berichte über christliche Pilgerreisen sind laut Sand viel zahlreicher als solche über jüdische Reisen nach Jerusalem. Erst im Zuge des europäischen Nationalismus entstand quasi als Negativ zu den sich herausbildenden Staatsnationen das jüdische Volk. Dieses existiert zweifellos, kann man Sand entgegenhalten. Allerdings, da hat er recht, nicht als einheitliche Ethnie, sondern auf Grundlage einer Diaspora-Religion, deren Gläubige davon ausgehen, zu einem ausgewählten Volk zu gehören.

    In genau diesem Bewusstsein wurden sie immer wieder auch durch Christen bestätigt und laut Shlomo Sand waren es insbesondere puritanische und evangelikale Christen, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert den Juden die Rückkehr ins Heilige Land ermöglichen wollten. Ihre Bibellektüre brachte sie zu dem Glauben, dass ein neues Großisrael für die Erlösung der Welt unerlässlich ist. Britische Staatsmänner unterstützten so die Juden in der Emigration nach Palästina – auch um sie von der Einwanderung nach Großbritannien fernzuhalten, schreibt Sand. Zunächst erfolglos. Als Palästina 1917 unter britische Herrschaft gefallen war,

    "... strömten … Hunderttausende jüdischer Flüchtlinge aus Osteuropa in die Vereinigten Staaten. Sie weigerten sich hartnäckig, ihr Leben an das nahöstliche Territorium zu binden, das ihnen Palmerston, Shaftesbury, Balfour und andere christliche Lords seit Mitte des 19. Jahrhunderts zugedacht hatten."

    Erst die Katastrophe der Juden im Nationalsozialismus vermochte es, breitere Wanderungsbewegungen im Sinne der Zionisten in Gang zu setzen. Mit der Religion hatte dies nicht viel zu tun. Religiöse Juden sprachen sich über viele Jahre in der Mehrzahl gegen die Emigration aus. Auch dies stützt Sands These, dass es keine tief im Judentum verankerte Sehnsucht nach dem konkreten Land Israel gegeben hat, sondern dass es vor allem die Not war, die sie zur Emigration zwang. Durch die Not konnte die Vision der Zionisten von einem Nationalstaat der Juden Wirklichkeit werden. Dass dieser nur entstehen konnte, indem die ursprünglichen Bewohner des Landes vertrieben oder zumindest in ihren Rechten massiv eingeschränkt wurden, ist in Sands Augen das Unglück Israels.

    Die Okkupation des Landes der Palästinenser, die bis heute durch die Siedlungen im Westjordanland immer weiter verfestigt wird, führt nach seiner Meinung notwendigerweise zu einem binationalen Staat von Juden und Palästinensern. Da er aber gleichzeitig konstatiert, dass die Mythen um das Land und die einheitliche jüdische Ethnie wirksam sind, ist dieser als Staat gleichberechtigter Bürger sehr weit von seiner Realisierung entfernt. Denn die Mythen, die Sand zu dekonstruieren versucht, sind eben ein Teil der Realität. Dies kommt über weite Strecken des Buches zu kurz, bis der Autor am Ende feststellt,

    "... dass im Falle der Nationalgeschichte die Vergangenheit weniger die Gegenwart erzeugt. Es ist vielmehr die nationale Gegenwart, die, in überaus freier Form, sich ihre Vergangenheit zurechtknetet, eine Vergangenheit, die immer riesige schwarze Löcher des Vergessens enthält."

    Vor diesem Hintergrund ist Sands Arbeit ein sachlicher Beitrag zum Verständnis des Nahostkonflikts. Gleichsam sind die Mythen so stark, dass eine bloße Dekonstruktion nicht ausreicht. "Die Erfindung des Landes Israel" ist aber auch wegen seiner einfachen und klaren Sprache für alle zu empfehlen, die sich tiefer in die Geschichte Israels beziehungsweise Palästinas einarbeiten wollen.


    Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit. Propyläen Verlag, 396 Seiten, 22,99 Euro, ISBN: 978-3-549-07434-3