Mit diesen Worten begann der Klappentext eines Suhrkampbandes aus dem Jahr 1995. Doch auf dem Höhepunkt des Erfolges der so genannten Holocaust-Literatur erwiesen sich die angeblichen Erinnerungen Wilkomirskis, veröffentlicht in dem Buch 'Bruchstücke’ als ein tragischer Betrug. Der Autor hatte sich eine Identität zusammenphantasiert, litt unter der Sehnsucht, ein Opfer sein zu wollen. Das Buch wurde hochgelobt, bekam etliche Preise und verschiedene Kritiker und Historiker mussten sich die Frage stellen, warum sie dem Schwindel so einfach aufgesessen waren, zumal Experten wie Raoul Hilberg von Anfang an Zweifel an dem Buch geäußert hatten. Im vergangenen Jahr veranstaltete das Moses-Mendelssohn-Zentrum eine Tagung, die sich bemühte, die durch diesen Fall aufgeworfenen Fragen zu klären. Die Beiträge sind jetzt in einem Sammelband erschienen.
Der "Fall Wilkomirski", über den vor Jahren sehr viel Tinte vergossen wurde, ist nun auch in forensischer Hinsicht abgeschlossen, da eine DNA-Analyse die Identität des Autors und Musikers Binjamin Wilkomirski mit dem 1941 im schweizerischen Biel geborenen Bruno Grosjean-Dössekker bestätigt hat. Der vor vier Jahren von dem Zürcher Schriftsteller Daniel Ganzfried zum ersten Mal öffentlich ausgesprochene Verdacht, dass Wilkomirskis 1995 in Suhrkamps Jüdischem Verlag veröffentlichtes Buch 'Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948' nicht wie behauptet die Autobiographie eines als Kind durch Ghettos und KZ verschleppten litauischen Juden ist, sondern das fiktionale Produkt eines nichtjüdischen Schweizers, hatte sich bereits vor dem genetischen Test erhärtet. Der Zürcher Historiker Stefan Mächler konnte in einer umfangreichen, amtliche Dokumente und Zeugenbefragungen auswertenden Expertise nachweisen, dass "Bruchstücke" nicht von realen Erlebnissen berichtet, sondern spät sich manifestierende Vergeltungsphantasien eines einmal herumgestoßenen, zweifellos unglücklichen, zur Adoption freigegebenen, unehelich geborenen schweizer Kindes zum Ausdruck bringen.
An dem Befund, dass es sich bei dem vielfach gelobten und mit allerhand Preisen bekränzten Buch "Bruchstücke" um die Fabrikation eines Phantasten handelt, gibt es heute nichts mehr zu deuteln. Doch damit sind zahlreiche Fragen noch nicht beantwortet, die der "Fall Wilkomirski" aufgibt. Antworten auf solche Fragen durchzudeklinieren, hatte sich eine Konferenz vorgenommen, die das Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum im Mai 2001 veranstaltete. Die dort gehaltenen Referate sind nun in einem Band zusammengefasst, den Irene Diekmann und Julius H. Schoeps, der Direktor des Mendelssohn-Zentrums, im Verlag Pendo unter dem Titel "Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein" herausgegeben haben.
Was ist das "Syndrom" im Fall Wilkomirski? Unter einem Syndrom wird gewöhnlich ein Komplex von Krankheitssymptomen verstanden. Eine Reihe schwerer psychischer Krisen hat der nach seinen Zürcher Adoptiveltern mit Nachnamen Dössekker versehene Bruno Grosjean aus Biel im Lauf seines Lebens höchstwahrscheinlich durchlitten. Sie allein machen jedoch noch kein Syndrom aus. Ein Komplex von Symptomen ist erst unter dem Einfluss verantwortungslos agierender Therapeuten entstanden, die ihren Patienten in dessen aufkeimender Wahnvorstellung bestärkten, dass die Lösung seiner Probleme von der fortschreitenden, totalen Umschreibung der eigenen Lebensgeschichte abhinge. Den Leiden des von der wohlhabenden Zürcher Arztfamilie Dössekker adoptierten Sohns einer vom Kindsvater sitzen gelassenen Bieler Arbeiterin war auf einmal ein übergreifender Sinn abzugewinnen, wenn sie sich als Folgen eines systematisch eingefädelten Identitätsraubs deuten ließen. Dieser Raub, sollte er denn in der Außenwelt auf ein Echo stoßen, konnte nicht schlicht den Spross einer x-beliebigen Schweizerin meinen. Die Interessen, die sich in diesem Raubunternehmen bündelten, mussten allgemeiner und mächtiger sein. Ihnen musste daran liegen, ein Wesen zum Verschwinden zu bringen, das nicht nur den Adoptiveltern am Zürichsee, sondern der gesamten schweizer Gesellschaft unbehaglich war. So verwandelte sich Bruno Dössekker allmählich in das ungeliebte jüdische Waisenkind Binjamin Wilkomirski, das nur um den Preis in der schönen Schweiz hatte leben dürfen, dass es auf seine wahre, seine jüdische Herkunft verzichtete. Das Buch "Bruchstücke", eine zusammengeschusterte Fiktion, sollte in der Sicht seines Autors mit der anderen, der Dössekker-Fiktion, Schluss machen.
Gewiss eine pathologische Konstruktion, die dennoch, wie manche Psychosen, nicht einer bestimmten Logik entbehrt und für sich noch kein mehrfach zusammengesetztes Syndrom darstellt. Einige der Autoren des "Das Wilkomirski-Syndrom" überschriebenen Sammelbandes lehnen den Begriff Syndrom in diesem Zusammenhang auch explizit ab. Für Daniel Ganzfried, der, als Kind von Überlebenden des Genozids mit geschärften Sinnen versehen, rasch das Faule an der Geschichte roch, ist Bruno Dössekker schlicht ein Betrüger, dem dringend das Handwerk zu legen war. Andere Autoren des lesenswerten Bandes machen es sich nicht so einfach, weil sie auch einen Blick auf die zahlreichen Mitspieler werfen, die an der Verbreitung und Legitimierung der Fälschung entscheidend mitwirkten.
An erster Stelle ist der Suhrkamp Verlag zu nennen, der trotz der einen oder anderen, etwa von dem gut unterrichteten ehemaligen Feuilletonchef der 'Neuen Zürcher Zeitung', Hanno Helbling, ausgesprochenen Warnung vor dem Autor, Dössekkers Buch als erschütterndes autobiographisches Zeugnis in Umlauf brachte und auch noch dann noch zäh an dieser Version festhielt, als die Echtheit dieser Kindheitserinnerungen längst in Zweifel stand. Die rührende öffentliche Wiederbegegnung Wilkomirskis mit einer angeblich ebenfalls als Kind nach Auschwitz-Birkenau verschleppten Leidensgenossin stellte sich als dilettantisch eingefädelte Medieninszenierung heraus, bei der eine vorher als falsches Satanismusopfer aufgetretene Betrügerin bereitwillig die ihr zugedachte Rolle spielte. Erst als nichts mehr zu retten war, zog Suhrkamp, gefolgt von einigen ausländischen Lizenzverlagen, "Bruchstücke" vom Verkauf zurück.
Blamiert hat sich zweitens die Literaturkritik in der Schweiz, in Deutschland, in Frankreich, vor allem aber in den USA. Kritisches Textlesen hat sie durch die Arbeit an sich überschlagenden, deshalb besonders zitierfähigen Superlativen ersetzt. Von heute aus gesehen, da alle Welt es besser weiß, ist ihr weniger das Hereinfallen auf Dössekkers Fabrikation vorzuwerfen als ihr unglaublich schlampiger Umgang mit nachprüfbaren Fakten. Von einem in fast zwei Dutzend Sprachen übersetzten Weltbestseller schwärmten schweizer und deutsche Zeitungen, die für seriösen Recherchier-Journalismus gerühmte "New York Times" verlor alle Maßstäbe und pries "Bruchstücke" als den "größten Welterfolg für ein Schweizer Buch seit 'Heidi'". Der trocken recherchierende Historiker Stefan Mächler bemerkt dazu in seinem Essay "Aufregung um Wilkomirski - Genese eines Skandals und seine Bedeutung":
Johanna Spyris Kinderbuch hatte eine Auflage von 50 Millionen, es wurde in 50 Sprachen übersetzt und 27 Mal verfilmt. - Zu Wilkomirski gab es in Wirklichkeit zwei größere, ausschließlich ihm gewidmete Filme, sein Buch wurde weltweit 67.000 Mal verkauft und in neun Sprachen übersetzt.
67.000 gegenüber 50 Millionen, von einem "Weltbestseller" konnte also keine Rede sein; das Lesepublikum, das in einigen Ländern Wilkomirskis "Bruchstücke" sogar ganz links liegen ließ, hat interessanterweise deutlich anders reagiert als der Betrieb von Medien und Organisationen, der Wilkomirski in den Himmel hob, überall auf Kongressen herumreichte und mit Preisen verwöhnte. In Frankreich erhielt der Autor von "Bruchstücke" den "Prix de Mémoire de la Shoah", in deren Jury der Filmregisseur Claude Lanzmann sitzt, in den USA den "Jewish National Book Award". Mit seinen selbstgeschaffenen Superlativen und mit seinen einschüchternden Anne-Frank-Vergleichen erzeugte der Kulturbetrieb den Reizlärm, in dem bedächtige Stimmen, wie etwa die des von Anfang an skeptischen Historikers Raul Hilberg, keine Chance auf Gehör hatten.
Dieser Lärm allein erklärt aber noch nicht, warum die Geschichte, die Dössekker sich mit Hilfe von Therapeuten zusammengereimt und recht und schlecht zu Papier gebracht hatte, derart bereitwillig geschluckt wurde. Etwas daran muss auf Erwartungen getroffen sein, die bereits vor Erscheinen des Buchs existierten oder sich zu der Zeit zur vollen Reife entwickelten. In der Schweiz, wo die Affäre ihren Ausgang nahm, war seit Mitte der neunziger Jahre im Zug der Raubgold- und Bankendebatte auch die antisemitische Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs zum Thema geworden. Am erwachsen gewordenen jüdischen Waisenkind Wilkomirski, das in zahllosen Schulen auftrat und Lesungen aus seinem Buch mit auf der Klarinette gespielten Klezmer-Melodien begleitete, gewann eine eher abstrakte historische Debatte greifbare Konturen. Stefan Mächler schreibt dazu:
Das angebliche KZ-Opfer war der plötzlich aus der Verdrängung aufgetauchte Schuldvorwurf in Person. Die Einfühlung erlaubte dem Publikum zudem, sich auf die moralisch attraktivere Seite der Opfer zu schlagen.
Erwartet waren Opfergeschichten, und eben wenn solche Geschichten dem Erwartungsraster entsprechen, entgehen sie kritischer Überprüfung. Das Opfer, und zwar keineswegs nur das Opfer des nationalsozialistischen Genozids an den Juden, hat sich in jüngerer Zeit, ausgehend von den Vereinigten Staaten, zu einer Identifikations-, ja auch Kultfigur sondergleichen entwickelt. "Everybody is a victim", lautete die Parole - bis hin zur verheirateten Hausfrau, die sich als "Opfer häuslicher Einsperrung" phantasieren durfte. Als Opfer par excellence wurde in den neunziger Jahren das wehrlose Kind ausgemacht. Opfer häuslicher Gewalt, Opfer sexuellen Missbrauchs durch Eltern, Verwandte, Lehrer, Priester, Opfer des Gezerres zwischen geschiedenen Eltern. In ihrem informativen, auch andere Beispiele von Erinnerungsmissbrauch erwähnenden klugen Beitrag schreibt die Potsdamer Literaturwissenschaftlerin und Psychologin Elke Liebs in Bezug auf Wilkomirski:
Er bietet für die Leserschaft mit seinem Text eine geradezu ideale Steigerung: das Kind als Opfer, als Überlebender, als artikulierter Zeitzeuge, als Erinnerungs-"Arbeiter" mit Hilfe eines beziehungsweise zweier Psychotherapeuten, als Traumatisierter. ... Auch ohne dass es explizit erklärt wurde, leben wir - wie vor hundert Jahren (damals freilich erklärtermaßen) im Jahrhundert des Kindes. Fast alle brisanten aktuellen Diskurse kreisen um das Kind: Abtreibungsdebatte, Klonen, Embryonen-Forschung, Kinder-Pornographie, Kindesmissbrauch, Internet-Praxis in Schulen, das Kind als Konsument etc.
So wie der Fall Wilkomirski in den besten Beiträgen dieses nützlichen Sammelbandes durchleuchtet wird, ergibt sich ein erschreckendes Lehrstück, das weit mehr erhellt als nur das verzwickte Schicksal eines unglücklich adoptierten Schweizerbuben. Es sagt etwas über die verborgene Pathologie unserer Gesellschaften aus, deren geistiges Immunsystem versagt, sobald zuvor bereits angeheizte Erwartungen befriedigt und die davon aktivierten Deutungsmuster massenmedial bedient werden.
Eine durch und durch vor-aufklärerische Bereitschaft zu Leichtgläubigkeit und Aberglauben überlebt offenbar inmitten der sogenannten Informationsgesellschaft und wartet auf Abruf. Dies lehrt der seines puren Skandalcharakters entkleidete Fall Wilkomirski. Viel zu kurz dagegen greift die von Daniel Ganzfried, dem Wilkomirski-Entlarver, von dem New Yorker Politologen Norman Finkelstein bezogene These, dass Wilkomirski als bloßes Produkt der "Holocaust-Industrie" zu betrachten sei. Dass eine solche Industrie existiert und ihre Verheerungen anrichtet, ist schwer zu bestreiten: die Inflation wissenschaftlich wertloser, doch reichlich alimentierter sogenannter "Holocaust Studies", auf deren Leselisten natürlich auch Wilkomirski stand, spricht Bände. Nur käme es einer allzu bequemen Entlastung unserer europäischen Gesellschaften gleich, für deren geistige Immunschwächen verschwörungstheoretisch industriell gesteuerte US-amerikanische Kampagnen verantwortlich zu machen.
Lothar Baier besprach: Das Wilkomorski-Syndrom, herausgegeben von Irene Diekmann und Julius Schoeps. Das Buch ist im Pendo-Verlag erschienen, hat 366 Seiten und kostet 16.90 Euro.
Zu einem anderen Aspekt des Themas Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus ist im Schmetterling Verlag ein Buch erschienen, auf das ich Sie gerne noch aufmerksam machen möchte. Es heißt Assimilation, Verfolgung und Exil und schildert die Erfahrungen und Erlebnisse jüdischer Schüler am Kaiser-Friedrichs-Gymnasium in Frankfurt am Main in Texten und 170 Bildern. Herausgeberin des sorgfältig zusammengetragenen und sehr informativen Bandes ist Petra Bonavita. Das Buch kostet 15 Euro und hat 209 Seiten.
Der "Fall Wilkomirski", über den vor Jahren sehr viel Tinte vergossen wurde, ist nun auch in forensischer Hinsicht abgeschlossen, da eine DNA-Analyse die Identität des Autors und Musikers Binjamin Wilkomirski mit dem 1941 im schweizerischen Biel geborenen Bruno Grosjean-Dössekker bestätigt hat. Der vor vier Jahren von dem Zürcher Schriftsteller Daniel Ganzfried zum ersten Mal öffentlich ausgesprochene Verdacht, dass Wilkomirskis 1995 in Suhrkamps Jüdischem Verlag veröffentlichtes Buch 'Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948' nicht wie behauptet die Autobiographie eines als Kind durch Ghettos und KZ verschleppten litauischen Juden ist, sondern das fiktionale Produkt eines nichtjüdischen Schweizers, hatte sich bereits vor dem genetischen Test erhärtet. Der Zürcher Historiker Stefan Mächler konnte in einer umfangreichen, amtliche Dokumente und Zeugenbefragungen auswertenden Expertise nachweisen, dass "Bruchstücke" nicht von realen Erlebnissen berichtet, sondern spät sich manifestierende Vergeltungsphantasien eines einmal herumgestoßenen, zweifellos unglücklichen, zur Adoption freigegebenen, unehelich geborenen schweizer Kindes zum Ausdruck bringen.
An dem Befund, dass es sich bei dem vielfach gelobten und mit allerhand Preisen bekränzten Buch "Bruchstücke" um die Fabrikation eines Phantasten handelt, gibt es heute nichts mehr zu deuteln. Doch damit sind zahlreiche Fragen noch nicht beantwortet, die der "Fall Wilkomirski" aufgibt. Antworten auf solche Fragen durchzudeklinieren, hatte sich eine Konferenz vorgenommen, die das Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum im Mai 2001 veranstaltete. Die dort gehaltenen Referate sind nun in einem Band zusammengefasst, den Irene Diekmann und Julius H. Schoeps, der Direktor des Mendelssohn-Zentrums, im Verlag Pendo unter dem Titel "Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein" herausgegeben haben.
Was ist das "Syndrom" im Fall Wilkomirski? Unter einem Syndrom wird gewöhnlich ein Komplex von Krankheitssymptomen verstanden. Eine Reihe schwerer psychischer Krisen hat der nach seinen Zürcher Adoptiveltern mit Nachnamen Dössekker versehene Bruno Grosjean aus Biel im Lauf seines Lebens höchstwahrscheinlich durchlitten. Sie allein machen jedoch noch kein Syndrom aus. Ein Komplex von Symptomen ist erst unter dem Einfluss verantwortungslos agierender Therapeuten entstanden, die ihren Patienten in dessen aufkeimender Wahnvorstellung bestärkten, dass die Lösung seiner Probleme von der fortschreitenden, totalen Umschreibung der eigenen Lebensgeschichte abhinge. Den Leiden des von der wohlhabenden Zürcher Arztfamilie Dössekker adoptierten Sohns einer vom Kindsvater sitzen gelassenen Bieler Arbeiterin war auf einmal ein übergreifender Sinn abzugewinnen, wenn sie sich als Folgen eines systematisch eingefädelten Identitätsraubs deuten ließen. Dieser Raub, sollte er denn in der Außenwelt auf ein Echo stoßen, konnte nicht schlicht den Spross einer x-beliebigen Schweizerin meinen. Die Interessen, die sich in diesem Raubunternehmen bündelten, mussten allgemeiner und mächtiger sein. Ihnen musste daran liegen, ein Wesen zum Verschwinden zu bringen, das nicht nur den Adoptiveltern am Zürichsee, sondern der gesamten schweizer Gesellschaft unbehaglich war. So verwandelte sich Bruno Dössekker allmählich in das ungeliebte jüdische Waisenkind Binjamin Wilkomirski, das nur um den Preis in der schönen Schweiz hatte leben dürfen, dass es auf seine wahre, seine jüdische Herkunft verzichtete. Das Buch "Bruchstücke", eine zusammengeschusterte Fiktion, sollte in der Sicht seines Autors mit der anderen, der Dössekker-Fiktion, Schluss machen.
Gewiss eine pathologische Konstruktion, die dennoch, wie manche Psychosen, nicht einer bestimmten Logik entbehrt und für sich noch kein mehrfach zusammengesetztes Syndrom darstellt. Einige der Autoren des "Das Wilkomirski-Syndrom" überschriebenen Sammelbandes lehnen den Begriff Syndrom in diesem Zusammenhang auch explizit ab. Für Daniel Ganzfried, der, als Kind von Überlebenden des Genozids mit geschärften Sinnen versehen, rasch das Faule an der Geschichte roch, ist Bruno Dössekker schlicht ein Betrüger, dem dringend das Handwerk zu legen war. Andere Autoren des lesenswerten Bandes machen es sich nicht so einfach, weil sie auch einen Blick auf die zahlreichen Mitspieler werfen, die an der Verbreitung und Legitimierung der Fälschung entscheidend mitwirkten.
An erster Stelle ist der Suhrkamp Verlag zu nennen, der trotz der einen oder anderen, etwa von dem gut unterrichteten ehemaligen Feuilletonchef der 'Neuen Zürcher Zeitung', Hanno Helbling, ausgesprochenen Warnung vor dem Autor, Dössekkers Buch als erschütterndes autobiographisches Zeugnis in Umlauf brachte und auch noch dann noch zäh an dieser Version festhielt, als die Echtheit dieser Kindheitserinnerungen längst in Zweifel stand. Die rührende öffentliche Wiederbegegnung Wilkomirskis mit einer angeblich ebenfalls als Kind nach Auschwitz-Birkenau verschleppten Leidensgenossin stellte sich als dilettantisch eingefädelte Medieninszenierung heraus, bei der eine vorher als falsches Satanismusopfer aufgetretene Betrügerin bereitwillig die ihr zugedachte Rolle spielte. Erst als nichts mehr zu retten war, zog Suhrkamp, gefolgt von einigen ausländischen Lizenzverlagen, "Bruchstücke" vom Verkauf zurück.
Blamiert hat sich zweitens die Literaturkritik in der Schweiz, in Deutschland, in Frankreich, vor allem aber in den USA. Kritisches Textlesen hat sie durch die Arbeit an sich überschlagenden, deshalb besonders zitierfähigen Superlativen ersetzt. Von heute aus gesehen, da alle Welt es besser weiß, ist ihr weniger das Hereinfallen auf Dössekkers Fabrikation vorzuwerfen als ihr unglaublich schlampiger Umgang mit nachprüfbaren Fakten. Von einem in fast zwei Dutzend Sprachen übersetzten Weltbestseller schwärmten schweizer und deutsche Zeitungen, die für seriösen Recherchier-Journalismus gerühmte "New York Times" verlor alle Maßstäbe und pries "Bruchstücke" als den "größten Welterfolg für ein Schweizer Buch seit 'Heidi'". Der trocken recherchierende Historiker Stefan Mächler bemerkt dazu in seinem Essay "Aufregung um Wilkomirski - Genese eines Skandals und seine Bedeutung":
Johanna Spyris Kinderbuch hatte eine Auflage von 50 Millionen, es wurde in 50 Sprachen übersetzt und 27 Mal verfilmt. - Zu Wilkomirski gab es in Wirklichkeit zwei größere, ausschließlich ihm gewidmete Filme, sein Buch wurde weltweit 67.000 Mal verkauft und in neun Sprachen übersetzt.
67.000 gegenüber 50 Millionen, von einem "Weltbestseller" konnte also keine Rede sein; das Lesepublikum, das in einigen Ländern Wilkomirskis "Bruchstücke" sogar ganz links liegen ließ, hat interessanterweise deutlich anders reagiert als der Betrieb von Medien und Organisationen, der Wilkomirski in den Himmel hob, überall auf Kongressen herumreichte und mit Preisen verwöhnte. In Frankreich erhielt der Autor von "Bruchstücke" den "Prix de Mémoire de la Shoah", in deren Jury der Filmregisseur Claude Lanzmann sitzt, in den USA den "Jewish National Book Award". Mit seinen selbstgeschaffenen Superlativen und mit seinen einschüchternden Anne-Frank-Vergleichen erzeugte der Kulturbetrieb den Reizlärm, in dem bedächtige Stimmen, wie etwa die des von Anfang an skeptischen Historikers Raul Hilberg, keine Chance auf Gehör hatten.
Dieser Lärm allein erklärt aber noch nicht, warum die Geschichte, die Dössekker sich mit Hilfe von Therapeuten zusammengereimt und recht und schlecht zu Papier gebracht hatte, derart bereitwillig geschluckt wurde. Etwas daran muss auf Erwartungen getroffen sein, die bereits vor Erscheinen des Buchs existierten oder sich zu der Zeit zur vollen Reife entwickelten. In der Schweiz, wo die Affäre ihren Ausgang nahm, war seit Mitte der neunziger Jahre im Zug der Raubgold- und Bankendebatte auch die antisemitische Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs zum Thema geworden. Am erwachsen gewordenen jüdischen Waisenkind Wilkomirski, das in zahllosen Schulen auftrat und Lesungen aus seinem Buch mit auf der Klarinette gespielten Klezmer-Melodien begleitete, gewann eine eher abstrakte historische Debatte greifbare Konturen. Stefan Mächler schreibt dazu:
Das angebliche KZ-Opfer war der plötzlich aus der Verdrängung aufgetauchte Schuldvorwurf in Person. Die Einfühlung erlaubte dem Publikum zudem, sich auf die moralisch attraktivere Seite der Opfer zu schlagen.
Erwartet waren Opfergeschichten, und eben wenn solche Geschichten dem Erwartungsraster entsprechen, entgehen sie kritischer Überprüfung. Das Opfer, und zwar keineswegs nur das Opfer des nationalsozialistischen Genozids an den Juden, hat sich in jüngerer Zeit, ausgehend von den Vereinigten Staaten, zu einer Identifikations-, ja auch Kultfigur sondergleichen entwickelt. "Everybody is a victim", lautete die Parole - bis hin zur verheirateten Hausfrau, die sich als "Opfer häuslicher Einsperrung" phantasieren durfte. Als Opfer par excellence wurde in den neunziger Jahren das wehrlose Kind ausgemacht. Opfer häuslicher Gewalt, Opfer sexuellen Missbrauchs durch Eltern, Verwandte, Lehrer, Priester, Opfer des Gezerres zwischen geschiedenen Eltern. In ihrem informativen, auch andere Beispiele von Erinnerungsmissbrauch erwähnenden klugen Beitrag schreibt die Potsdamer Literaturwissenschaftlerin und Psychologin Elke Liebs in Bezug auf Wilkomirski:
Er bietet für die Leserschaft mit seinem Text eine geradezu ideale Steigerung: das Kind als Opfer, als Überlebender, als artikulierter Zeitzeuge, als Erinnerungs-"Arbeiter" mit Hilfe eines beziehungsweise zweier Psychotherapeuten, als Traumatisierter. ... Auch ohne dass es explizit erklärt wurde, leben wir - wie vor hundert Jahren (damals freilich erklärtermaßen) im Jahrhundert des Kindes. Fast alle brisanten aktuellen Diskurse kreisen um das Kind: Abtreibungsdebatte, Klonen, Embryonen-Forschung, Kinder-Pornographie, Kindesmissbrauch, Internet-Praxis in Schulen, das Kind als Konsument etc.
So wie der Fall Wilkomirski in den besten Beiträgen dieses nützlichen Sammelbandes durchleuchtet wird, ergibt sich ein erschreckendes Lehrstück, das weit mehr erhellt als nur das verzwickte Schicksal eines unglücklich adoptierten Schweizerbuben. Es sagt etwas über die verborgene Pathologie unserer Gesellschaften aus, deren geistiges Immunsystem versagt, sobald zuvor bereits angeheizte Erwartungen befriedigt und die davon aktivierten Deutungsmuster massenmedial bedient werden.
Eine durch und durch vor-aufklärerische Bereitschaft zu Leichtgläubigkeit und Aberglauben überlebt offenbar inmitten der sogenannten Informationsgesellschaft und wartet auf Abruf. Dies lehrt der seines puren Skandalcharakters entkleidete Fall Wilkomirski. Viel zu kurz dagegen greift die von Daniel Ganzfried, dem Wilkomirski-Entlarver, von dem New Yorker Politologen Norman Finkelstein bezogene These, dass Wilkomirski als bloßes Produkt der "Holocaust-Industrie" zu betrachten sei. Dass eine solche Industrie existiert und ihre Verheerungen anrichtet, ist schwer zu bestreiten: die Inflation wissenschaftlich wertloser, doch reichlich alimentierter sogenannter "Holocaust Studies", auf deren Leselisten natürlich auch Wilkomirski stand, spricht Bände. Nur käme es einer allzu bequemen Entlastung unserer europäischen Gesellschaften gleich, für deren geistige Immunschwächen verschwörungstheoretisch industriell gesteuerte US-amerikanische Kampagnen verantwortlich zu machen.
Lothar Baier besprach: Das Wilkomorski-Syndrom, herausgegeben von Irene Diekmann und Julius Schoeps. Das Buch ist im Pendo-Verlag erschienen, hat 366 Seiten und kostet 16.90 Euro.
Zu einem anderen Aspekt des Themas Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus ist im Schmetterling Verlag ein Buch erschienen, auf das ich Sie gerne noch aufmerksam machen möchte. Es heißt Assimilation, Verfolgung und Exil und schildert die Erfahrungen und Erlebnisse jüdischer Schüler am Kaiser-Friedrichs-Gymnasium in Frankfurt am Main in Texten und 170 Bildern. Herausgeberin des sorgfältig zusammengetragenen und sehr informativen Bandes ist Petra Bonavita. Das Buch kostet 15 Euro und hat 209 Seiten.