Hanjo Kesting war einmal berüchtigt in der Thomas-Mann-Forschung. Der junge Redakteur des NDR, Jahrgang 1943, war geprägt von der Achtundsechziger-Revolte und deshalb nicht gut auf den bürgerlichen Epiker Thomas Mann zu sprechen. Zu dessen Hundertstem verübte er ein literaturkritisches Attentat.
„Für meine Person sei nicht verschwiegen, dass ich zum hundertsten Geburtstag 1975 eine rabiate Kritik an Thomas Mann formulierte. Sie trug die Überschrift „Der Selbsterwählte oder Zehn polemische Thesen über einen Klassiker“ und bildete die Grundlage für eine Radiodiskussion, in der sich Martin Walser und Walter Boehlich in die Front der Thomas Mann-Kritiker einreihten.“
Die zehn Thesen gegen Thomas Mann erzeugten noch mehr Wirbel, als Helmuth Karasek sie im Spiegel abdruckte. Autoren wie Rolf Hochhuth reagierten mit scharfen Erwiderungen, in denen sie Thomas Mann verteidigten. Es war das letzte Mal, das mit solch ätzender Schärfe um den Schriftsteller gestritten wurde. Gerade weil Thomas Mann den Achtundsechzigern verdächtig war, wurde er für die nachfolgende Generation in den neunziger Jahren zum maßgeblichen Klassiker. Auch Hanjo Kesting hat seine Position längst revidiert:
„Das liegt fast fünfzig Jahre zurück, aber noch heute kommt es vor, dass ich auf das aufsässige Produkt angesprochen werde. Es hängt mir, wenn ich so sagen darf, immer noch an, vor allem bei den Verehrern des ‚Zauberers‘. Heute gehöre ich selber zu diesen Verehrern und finde das aus einem ödipalen Reflex entstandene Thesenpapier ziemlich unausgegoren.“
Vom Übervatermörder zum Verehrer
Zeitlebens ist Kesting nicht losgekommen vom Bann Thomas Manns. Nun hat er resümierend seine Arbeiten unter dem Titel „Thomas Mann. Glanz und Qual“ zu einem Buch zusammengefügt. Verehrend, aber nach wie vor nicht unkritisch.
Eine Bilanz zieht auch der 1941 geborene Germanist Dieter Borchmeyer. Vor vier Jahren hat er Thomas Manns Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ in der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe neu ediert. Und jetzt ein 1500 Seiten starkes Buch verfasst, Resultat seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Thomas Mann. Die Behauptung auf dem Umschlag, es handele sich um die „erste umfassende Werkmonographie“, erscheint angesichts der ausufernden Thomas-Mann-Forschung allerdings kurios.
Eine neue, ungewohnte Sichtweise kann Borchmeyer nicht bieten, wie schon der blasse Titel seines Buches – „Thomas Mann. Werk und Zeit“ – deutlich macht. Borchmeyer moderiert den Stand der Forschung und tritt damit in Konkurrenz zu den Thomas Mann-Handbüchern. Es ist zweifellos eine enorme Leistung an Gelehrsamkeit, dass er den Vergleich mit jenen Kompendien, die von großen Wissenschaftlerkollektiven verfasst wurden, nicht zu scheuen braucht.
Entschieden grenzt sich Borchmeyer ab vom Biographismus. Auch deshalb „Werk und Zeit“, nicht „Werk und Leben“. Er will den Blick von den notorischen Mannschen Familienaufstellungen zurück auf die Romane, Erzählungen und Essays lenken, lüftet die mythisch-kulturgeschichtlich-philosophischen Schichten der Werke, nennt die Bezüge. Für Borchmeyer sind Romane Ideenmusik. Mit der Ebene der dargestellten Realitäten hält er sich selten länger auf. So seien die im „Tod in Venedig“ beschriebenen Erlebnisse …
„ … ein für sich belangloses Konvolut von Erscheinungen und Ereignissen, das erst durch das dahinter aufgestellte poetische Licht Bedeutung gewann. Der mit naturalistischer Genauigkeit nachgezeichnete Verfall Aschenbachs, seine ‚orgiastische Auflösung‘ in der Musterstadt der Décadence, wird durch ein beim ersten Lesen kaum zu überschauendes symbolisches Assoziationsgewebe gewissermaßen orchestriert, das den realistischen Einzelfall ins Mythisch-Universale entgrenzt.“
Die Mann'sche Mythomanie und ihre Funktion
Viscontis berühmter Verfilmung, die heute in der Tat schwülstig anmutet, wirft Borchmeyer vor, dass sie die Novelle „auf ihre bloße Realschicht“ beziehungsweise auf eine „sentimentale homoerotische Love Story“ reduziere. Als wären nicht auch viele Mythen Geschichten von Liebe, tragischer, lächerlicher – wie die des Gustav von Aschenbach. Borchmeyer wäre entgegenzuhalten, dass subtil „realistisch“ geschilderte Szenen wie jener Moment, als Aschenbach in seiner Liebesglücksverzweiflung die Stirn an Tadzios Zimmertür im Hotel lehnt, in ihrer literarischen Qualität mehr überzeugen als die nach akademischen Vorlagen gepinselten mythischen Traumsequenzen eines dionysischen Bacchanals.
Natürlich besteht der Reiz großer Literatur darin, dass sie mehrschichtig ist, dass sie Subtexte und Obertöne hat. Thomas Manns Mythomanie war aber auch eine Strategie, für das eigene Schreiben den Respekt der Bildungsschichten zu bekommen: mythische Muster als höhere Wiedererkennungseffekte.
Borchmeyer widmet ein Unterkapitel Richard Wagners realem Tod in Venedig, der 1883 Europa respektvoll erschütterte, befasst sich mit dem – in vielen schulmäßigen Interpretationen beinahe schon zu Tode gerittenen – mythischen Gegensatz des Dionysischen und Apollinischen, und gönnt sich einen Exkurs über die Darstellung von Bacchanalen bei Goethe, Heine, Wagner, Nietzsche und Hans Werner Henze. Das alles ist kompetent dargelegt; nur ist die Flughöhe über der Novelle ziemlich hoch. Schließlich kommt aber auch Borchmeyer nicht umhin, das eher bodennahe Motiv der Homoerotik auf der Realienebene anzusprechen.
Asymmetrie der Leidenschaft
Zu Recht weist er darauf hin, dass Thomas Mann keine Coming-Out-Geschichte im Sinn hatte. Als solche – wenn auch zu zaghaft! – wurde „Der Tod in Venedig“ in den siebziger und achtziger Jahren, der Zeit der Enttabuisierung der Homosexualität, bisweilen missverstanden. Vielmehr wollte er die Tragödie einer „Entwürdigung“ schreiben, inspiriert durch die „peinliche“ Liebe des siebzigjährigen Goethe zur siebzehnjährigen Ulrike von Levetzow. Diese Konzeption der „Entwürdigung“ durch eine asymmetrische Leidenschaft leuchtet erst heute wirklich ein. Denn die Liebe zu einem Halbwüchsigen, die Thomas Mann mit Ambivalenz beschrieb, so dass Stefan George sie zu seiner Verärgerung in die „Sphäre des Verfalls“ gerückt sah, lässt sich heute nicht mehr verharmlosen mit klassischen Bildungsreminiszenzen, mit der Knabenliebe bei Platon und Sokrates. Sie gilt schlicht als Missbrauch.
Eine kluge Entscheidung also, dass Thomas Mann seiner Neigung Zügel anlegte und es bei der Erotik des Beobachtens beließ. In seinen Werken hat er auch später immer wieder geschickte erzählerische Konstruktionen gefunden, um die jungmännliche Herrlichkeit zu zelebrieren: In „Joseph in Ägypten“ wird auf Hunderten von Seiten die Verliebtheit Mut-em-enets, der Frau des Potiphar, in den anmutigen Joseph geschildert, Felix Krull wird von der selbstbewussten Madame Houpflé zur Brust genommen, und in der Novelle „Die Betrogene“ empfindet Rosalie von Tümmler den sportlichen American Boy Ken Keaton so erotisierend wie Thomas Mann all die Kellnerburschen und Tennisspieler in den Tagebüchern. Als „wirklich homosexuell“ hat sich der glücklich verheiratete Familienvater ungeachtet seiner unstillbaren Sehnsucht nach jugendlichen Hermesbeinen im Übrigen nicht verstanden. Im Tagebuch schreibt er:
„Wirklich homosexuell wäre doch nur die Liebe eines bärtigen Vollmannes zum anderen, während die Knaben- und Jünglingsverehrung des Mannes offenbar doch nur eine leichte Abwandlung des Heterosexuellen ist.“
Welche Geschlechtsidentität Thomas Mann heute im Zeichen eines großzügig erweiterten Angebots für sich reklamiert hätte – darüber spekuliert weder Kesting noch Borchmeyer.
Das Tagebuch als Lebensbuch
Ihre Bücher ergänzen sich gut, weil Kesting die biographischen Bezüge, die Borchmeyer vermeidet, zur Geltung bringt. Ausgiebig widmet er sich jenem Werk, dem Borchmeyer kein eigenes Kapitel einräumt, obwohl es so umfangreich ist wie Thomas Manns vier Großromane zusammen: den Tagebüchern. Von vielen Lesern wird deren Mischung aus Alltagsmalaisen und Weltgeschehen, Frühstücksei und Roosevelt, Verdauungsproblemen und Nöten des Exils faszinierend, ja beinahe süchtig machend empfunden. Die biographische Neugier hat die Wirkung Thomas Manns im Übrigen nicht beschädigt. Im Gegenteil. Indem sie seine Leidensquellen offengelegt hat, hat sie ihn rechtzeitig vom Denkmalssockel des humanistischen Repräsentanten geholt und vom Vorurteil befreit, in seinen Werken bloß Geistesgeschichte und kulturgeschichtliche Maskeraden zu inszenieren. Kesting schreibt:
„In der Tat war es bis zur Veröffentlichung der Tagebücher fast unmöglich, anhand seiner Werke zur Person Thomas Manns vorzudringen und überhaupt bei ihm Legende und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Er selbst war an der Legendenbildung entscheidend beteiligt, da er es zeitlebens meisterhaft verstand, sein Bild in der Öffentlichkeit kunstvoll zu stilisieren, seinen Ruhm und Nachruhm selber zu inszenieren.“
Also: Es ist ganz wunderbar, dass Thomas Mann im Tagebuch von seinen homoerotischen Augenweiden schwärmt und sich viele lakonische Bosheiten über Autorenkollegen erlaubt. Glücklicherweise hat er kein moralisch korrektes Seelenleben geführt. Das Tagebuch hat eine Entlastungsfunktion für negative Affekte; es fängt Missstimmungen ein. Ein großes, authentisches Lebensbuch – aber handelt es sich wirklich um „Notizen ohne jeden literarischen Wert“, wie Mann in seiner Nachlassverfügung behauptete? Hanjo Kesting widerspricht:
„Zumal in den Tagebüchern der Zeit nach 1933 ist fast jedes Wort geschrieben mit Blick auf den künftigen Leser. Der ‚hohe Stil‘ dominiert mit knappen, verblosen Fügungen und resümierenden Wendungen, oft lapidar wie in Goethes späten Tages- und Jahresheften. Dennoch unterscheidet sich der Stil von Thomas Manns Tagebüchern deutlich vom Stil seiner Epik und literarischen Essayistik. Weniger ausgreifend und verschlungen, weniger makellos, fehlt vor allem jener den Text umhüllende und den Leser distanzierende Schleier von Ironie, der Thomas Manns Sprache so unverwechselbar prägt. In den Tagebüchern schreibt er direkter, unverstellter, auch ungeschminkter, wenngleich nicht weniger literarisch.“
Modernität zur rechten Zeit
Eingehend zeichnen Borchmeyer und Kesting die politische Entwicklung Thomas Manns nach. Die Spannweite der Positionen, die er vertreten hat, ist außergewöhnlich. Als Vierzigjähriger nahm er in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Rechtsaußen das Moralbonzentum der Linken aufs Korn, als Siebzigjähriger bewegte er sich auf ein beinahe schulmäßig marxistisches Verständnis des Faschismus zu. Als Ironiker stand er dem politisierenden Meinungsdienst eigentlich reserviert gegenüber. Umso mehr erstaunt die Klarsicht, mit welcher er schon in den frühen zwanziger Jahren das potentielle Verhängnis des Nationalsozialismus erkannte.
Immer wieder bewies Thomas Mann einen erstaunlichen Instinkt für das Passende. Nach den monarchistisch-reaktionären „Betrachtungen“ drohte er den Anschluss an die krisenhafte Moderne der Weimarer Republik zu verlieren, während sein Bruder und schärfster Widersacher Heinrich Mann mit dem „Untertan“, dem satirischen Abgesang auf das Kaiserreich, einen Bestsellertriumph erlebte. Dann aber bekannte sich Thomas Mann nach der Ermordung Walther Rathenaus im Jahr 1922 überraschend zur Weimarer Republik und schlug jenen politischen Kurs ein, der 1933 ins Exil führte. Mit dem Roman „Der Zauberberg“ war er rechtzeitig als maßgeblicher Repräsentant der literarischen Moderne zur Stelle. Dieter Borchmeyer legt dar, dass diese Modernität damals noch beeindruckender wirken musste als heute:
„Als ‚Der Zauberberg‘ 1924 erschien, waren Kafkas ‚Der Proceß‘ und ‚Das Schloß‘, Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘ und Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ noch nicht publiziert: die deutschen Romane, in deren Namen Thomas Mann seine richtungsweisende Modernität später vielfach streitig gemacht wurde. Joyce und Proust waren für Publikum und Kritik in Deutschland (…) noch unvertraute Namen, ‚Ulysses‘ war zwar schon zwei Jahre zuvor erschienen, die deutsche Übersetzung folgte jedoch erst 1927 (…). ‚Der Zauberberg‘ hatte in Deutschland also gewissermaßen das Alleinstellungsmerkmal eines Durchbruchs: einer die Gattung des Romans aus ihren traditionellen Bahnen rigoros herausführenden Modernität.“
Sechzehn Jahre arbeitete Thomas Mann dann an der Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“. Während Hitler die Juden aus der Geschichte streichen wollte, versenkte sich der renommierteste Schriftsteller Deutschlands in die jüdische Welt des Alten Testaments und verlebendigte sie mit den Mitteln des modernen Romans. Deutlicher, so Borchmeyer, konnte die literarische Solidaritätsbekundung nicht sein.
Die Josephsromane: ein Fest des Erzählens
Eigentlich sind das ja zwei Welten: der schlichte, wortkarge Duktus der Bibel und Thomas Manns die Sachverhalte in komplexen Satzkonstruktionen hin und her wendender Stil. Gerade darin besteht aber die humoristische Spannung und ein großer Anreiz zum Erzählen: Endlich einmal ins Ausführliche gehen, sozusagen in die verschwiegenen Hintergründe und Details der grandiosen Geschichte vom pathetischen Patriarchen Jaakob, seinem Lieblingssohn Joseph und der eifersüchtigen Brüderschar, der Josephs Angeberei und seine unverschämten Träume schwer auf die Nerven geht. Sie verkaufen den selbstgefälligen Bruder nach Ägypten, wo er in sich gehen und später seine erstaunliche Karriere als Verwalter, Traumdeuter und Ernährungsminister an der Seite des Pharao absolvieren kann. Die Josephsromane sind ein „Fest“ des Erzählens archetypisch menschlicher Situationen und Konflikte. Borchmeyer und Kesting sind sich einig, dass es das Hauptwerk Thomas Manns ist.
Neben der Arbeit an seinen unverdrossen vorangetriebenen Werken erfüllte Thomas Mann während des Zweiten Weltkriegs zahllose politische Verpflichtungen im Kampf gegen Hitlerdeutschland. Und bewies dabei erstaunlichen Biss. Kesting schreibt:
„Auf Vortragsreisen, die jeweils mehrere Wochen dauern, spricht er fast Abend für Abend vor überfüllten Auditorien, gibt Interviews und nimmt zu politischen Fragen Stellung. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: die geistige Präsenz oder die körperliche Widerstandskraft, mit welcher der fast Siebzigjährige sein gewaltiges Pensum absolviert. Zuweilen gewinnt man den Eindruck, als habe der früher oft kränkelnde Schriftsteller sich niemals gesünder und positiver gefühlt als in dieser Zeit der Erschütterung der Weltzustände. Manchmal wirkt er jetzt sogar ein wenig zu gesund, zu kampfentschlossen. Etwa wenn er das schwere Bombardement Münchens, der Stadt, in der er länger als dreißig Jahre gelebt hatte, mit der Bemerkung abtut, der ‚alberne Platz‘ habe es ‚geschichtlich verdient‘.“
Sowohl Kesting wie Borchmeyer schreiben eindringliche Kapitel über die eminente Rolle der Musik in Thomas Manns Leben und Werk. Mit heiteren Klängen konnte er nichts anfangen. Geht es denn in der Welt zu wie in einer hübschen Melodie? Eben nicht, und deshalb war sein musikalischer Abgott Richard Wagner, dessen Musikdramatik er lebenslang süchtig lauschte, immer aufs Neue beglückt von den Stimmungsnuancen und modulatorischen Schattierungen. Er attestierte dieser Musik aber auch – und das machte den Genuss noch abgründiger – etwas Verhängnisvolles, eine Tendenz zu Auflösung und schwelgerischem Untergang.
Musikalische Dämonologie
„Doktor Faustus“ ist der Roman mit den größten Musikbeschreibungen der deutschen Literatur – dämonische Klanggebilde, wie das Höllengebräu von Adrian Leverkühns apokalyptischem Oratorium. Musik als dunkle Seelenlandschaft. Der argumentative Clou des „Faustus“ besteht darin, dass Deutschland nicht im Widerspruch zu seiner hohen Kultur den Weg in die nationalsozialistische Barbarei gegangen sei, sondern gerade wegen ihr. Die deutsche Musik, die deutsche Romantik – sie erscheinen als „Seelenzauber“ mit finsteren Konsequenzen. Kesting schreibt:
„Was ist das Dämonische? Thomas Mann nennt es die ‚Musikalität der deutschen Seele‘, von der er meint, dass sie sich ‚in anderer Sphäre teuer bezahlt, – in der politischen, der Sphäre des menschlichen Zusammenlebens‘. So etwa verläuft der Gedanken- oder besser Assoziationsweg. Der zentrale Mythos der Deutschen, die Faust-Sage, muss ‚korrigiert‘, muss ins Musikalische umgedeutet werden: Faust wird Musiker, wird Komponist. ‚Musikalisch‘, ‚dämonisch‘ und ‚deutsch‘ sind für Thomas Mann im ‚Doktor Faustus‘ fast identische, gleichsam enharmonisch auswechselbare Begriffe.“
Allerdings wirkt diese eigenwillige Theorie mit wachsendem Abstand immer weniger überzeugend. Manchen erschien sie schon 1947 nicht plausibel. Der „Doktor Faustus“ entgehe nicht ganz der Gefahr, „das Dritte Reich nachträglich mit einem Leverkühn zu beschenken“, meinte der Schriftsteller Ludwig Marcuse. Adrian Leverkühn schillere „ein wenig faschistisch“, Hitlers Reich erscheine im Gegenzug „ein wenig genialisch“.
Natürlich war das von Thomas Mann, dem entschiedenen Faschismusgegner, nicht so gemeint. Es ist aber ein unvermeidlicher Nebeneffekt, wenn die Entstehung des Nationalsozialismus nicht durch die Generationserfahrung des verlorenen Ersten Weltkriegs, den demütigenden Versailler Vertrag, die Hyperinflation, die Weltwirtschaftskrise und andere handfeste Katastrophen der Weimarer Republik erklärt, sondern kulturgeschichtlich hergeleitet und musikästhetisch gespiegelt wird. Der Schmerzensmann Leverkühn ist zudem eine wandelnde Allegorie, die sich vor Tiefsinn kaum bewegen kann. Die erzählerisch und psychologisch gelungensten Kapitel des Romans, etwa jene, in denen Thomas Mann die Lebensmiseren seiner Schwestern verarbeitete, sind Dieter Borchmeyer allerdings keiner Bemerkung wert. Keine der Frauenfiguren des Romans wird in seinem Faustus-Kapitel auch nur erwähnt. Ausführlich widmet er sich dafür der Melancholie in der abendländischen Musiktradition und dem womöglich überschätzten Einfluss des musikphilosophischen Beraters Theodor W. Adorno.
Ein virtuoser Humorist
Nach dem Großwerk der Deutschland-Wehklage hat Thomas mit dem 1951 erschienenen Roman „Der Erwählte“ ein humoristisches Kontrastwerk geschaffen, dem Borchmeyer und Kesting ausführliche Kapitel widmen. Letzterer schreibt:
„‚Der Erwählte‘ ist bis heute der unbekannteste unter den Romanen Thomas Manns. Und doch lässt sich die Behauptung wagen, dass er nichts Großartigeres, nichts Vollkommeneres geschrieben hat als diese erheiternde Etüde über ein ernstes, nämlich allerchristlichstes Thema.“
Thomas Mann erzählt eine drastische Büßer-Legende aus dem Mittelalter, um am Ende, nach sehr viel Inzest, Minnekrieg und anderen Sünden auch sehr viel Gnade walten zu lassen. Es ist eine zugleich hochpathetische und aberwitzige Geschichte, erzählt in einem Crossover-Idiom, in dem sich Mittelhochdeutsches, französische und lateinische Phrasen sowie ein plattdeutsch verballhorntes Englisch mischen.
In der frühen Bundesrepublik stieß solch humoristische Virtuosität auf wenig Verständnis. Borchmeyer beschreibt die Feindseligkeit der Gruppe 47 gegenüber Thomas Mann. Die meisten ihrer Vertreter plädierten für Kahlschlag-Ästhetik, mit ironischer Komplexität konnten sie wenig anfangen, empfanden den Stil Thomas Manns als nicht mehr zeitgemäß. Ihre Aversion teilten sie mit den Vertretern der Inneren Emigration, die im „Dritten Reich“ geblieben waren, dort ihr prekäres Arrangement mit den Verhältnissen gefunden hatten und sich vom Verfasser des „Doktor Faustus“ nicht belehren lassen wollten. Dass da jemand von seiner kalifornischen Villen-Warte aus das Leben im Bombenhagel des untergehenden Dritten Reichs geschildert hatte, empfanden sie als krassen Fall von Unzuständigkeit. Borchmeyer zieht die Linie von der Gruppe 47 aber auch bis ins Jahr 1975, zu den polemischen Thesen Hanjo Kestings:
„Hier wird eben der Ton der Thomas-Mann-Lästerung angestimmt, in den noch 1975 die deutschen Edelbitterintellektuellen aus Anlass seines 100. Geburtstags einstimmten. Aggressivster Wortführer der Polemik gegen Thomas Mann in dieser Zeit ist der Kritiker Hanjo Kesting.“
Angst um die Demokratie
Für Thomas Mann war die Gruppe 47 im Gegenzug nichts als eine „unverschämte Bande“, ein charakteristisches Produkt der Bundesrepublik mit dem ihm regelrecht verhassten Kanzler Adenauer. Er lästerte über die „lächerliche Wirtschaftsblüte der amerikanischen Lieblingskolonie Westdeutschland“, wo man sich – nach Auffassung des Nobelpreisträgers – einem frechen Wohlsein im Wirtschaftswunder hingab, nach „Schandtaten, die mit der Höllenfahrt von 1945 schlossen“. Um 1950 entwickelte Thomas Mann eine geradezu paranoide Angst davor, dass die westlichen Demokratien im Zeichen des Kalten Krieges selbst faschistisch werden könnten. In einem Zeitschriftenbeitrag meinte er 1953:
„Es ist eine beklagenswerte Funktion des Kommunismus, dass er die Demokratie in den Faschismus drängt.“
Eindringlich stellt Borchmeyer Thomas Manns Versuche dar, die heikle Balance zwischen West und Ost zu wahren, was ihm in den Vereinigten Staaten der McCarthy-Ära den Vorwurf des Fellow-Travellers eintrug. Um die Lage nicht weiter zu verschlimmern, lehnte er in den letzten Jahren seines Lebens eine Reihe hochdotierter Literaturpreise wie den „Stalin-Friedenspreis“ ab, mit denen ihn die kommunistische Welt umwarb. Verdrossen schrieb er in einem Brief:
„Nächstens werde ich eine halbe Million Franken aus dem Fenster geworfen haben aus lauter Angstliebe zur ‚freien Welt‘, die doch ein rechter Schwindel ist. Ich muss wohl sehr reich sein, dass ich mir das leisten kann. Also beglückwünschen Sie mich.“
Thomas Mann als Bildungsbürger und Ironiker
Erfreulich, dass diese beiden ungemein kenntnisreichen Bücher die Gelegenheit bieten, sich ausgiebig mit den Texten und Kontexten Thomas Manns zu beschäftigen. Das lohnt immer. Dieter Borchmeyers Opus Magnum ist allen zu empfehlen, die noch kein Thomas Mann-Handbuch besitzen und sich für seine literarische Ideenverarbeitungsfabrik interessieren, für die Netze der mythisch-musikalischen Motive. Hier wird Thomas Mann in jener Rolle präsentiert, in der er sich selbst gern dem gehobenen Publikum präsentierte: als Bildungsbürger sondergleichen, der für jeden seiner Romane vorab ein Selbststudium absolvierte, mal Medizin, mal Ägyptologie und Religionswissenschaft, mal Musiktheorie.
Das Spielerische, augenzwinkernd Hochstaplerische der großspurigen Wissensaneignung kommt bei Borchmeyers gravitätischer Germanistik zu kurz. Im Kontrast dazu hat Hanjo Kesting mehr die Ironie Thomas Manns als angekränkelte, brüchige, unterminierte Bürgerlichkeit im Blick. Sein schlankeres, pointierteres Buch ist etwas für Leser, die es „realistischer“ mögen und sich für die Bezüge zwischen Leben und Werk interessieren. Es erscheint Anfang Januar. Genug Zeit, um bis dahin noch einen Roman Thomas Manns zu lesen, etwa den „Erwählten“, und sich an der Sprachmagie zu erfreuen, an der Komik und der reichlich gespendeten Gnade.
Dieter Borchmeyer: „Thomas Mann – Werk und Zeit“
Insel Verlag, Berlin. 1551 Seiten, 58 Euro
Hanjo Kesting: „Thomas Mann – Glanz und Qual“
Wallstein Verlag, Göttingen. 400 Seiten, 28 Euro.
Insel Verlag, Berlin. 1551 Seiten, 58 Euro
Hanjo Kesting: „Thomas Mann – Glanz und Qual“
Wallstein Verlag, Göttingen. 400 Seiten, 28 Euro.