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"Dieser Schritt ist überfällig"

Der Trägerverein der Odenwaldschule habe den Eindruck erweckt, dass man, wenn man den Tätern auf den Leib rückt, riskiert, die Schule zu beschädigen, sagt Missbrauchsopfer Gerhard Roese. Der Rücktritt des Vorstandes sei richtig, weil durch die Gleichsetzung von Tätern und Schule wissentlich eine Aufarbeitung verhindert worden sei.

Gerhard Roese im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Dirk-Oliver Heckmann: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Einrichtungen und in Internaten – manch einer hätte sich wohl kaum vorstellen können, dass es den Tätern möglich ist, ihrer kriminellen Neigung über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg nachzugehen, ohne dass jemand etwas dagegen unternehmen würde. Wie zum Beispiel im Reforminternat Odenwaldschule, deren Vorstand für heute seinen zumindest mehrheitlichen Rücktritt angekündigt hat. Ihm wird vorgeworfen, sich bis in die jüngste Zeit hinein an einer Politik der Vertuschung beteiligt zu haben. Vor dieser Sendung hatte ich die Gelegenheit, mit dem Darmstädter Bildhauer Gerhard Roese zu sprechen, auch über seine Erwartungen an den Runden Tisch der Bundesregierung. Er war von 1975 bis 1982 als Schüler an der Odenwaldschule und wurde dort sexuell missbraucht, als er 14 Jahre alt war. Vor der Sendung habe ich ihn zunächst gefragt, wie lange dieses Martyrium gegangen ist.
    Herr Roese, Sie waren 14 Jahre, wenn ich das richtig gelesen habe, als der Missbrauch begann. Wie lange ging dieses Martyrium?

    Gerhard Roese: Also, es war nur ein halbes Jahr, ich habe mich dann ja beschwert beim Schulleiter, der hat dann mit dem betreffenden Lehrer gesprochen, hat ihn nicht der Schule verwiesen, also da passierte gar nichts, außer dass ich dann halt in Ruhe gelassen wurde.

    Heckmann: Haben Sie sich anfangs gewehrt gegen den sexuellen Missbrauch oder haben Sie da gar keine Möglichkeiten gesehen?

    Roese: Also das war eine ganz andere Atmosphäre, das hatte nichts Aggressives. Also es war gar nicht die Frage, sich da zu wehren oder nicht, das geschah alles psychisch ganz geschickt eingefädelt.

    Heckmann: Auf welche Weise wurde das eingefädelt?

    Roese: Also es wurde erst mal meine schlimme Lage ausgenutzt. Ich wurde auf der Schule gemobbt und ich kam aus einem völlig zerrütteten Elternhaus, hatte also überhaupt keine Rückbindung an mein Elternhaus, und war auf die Beziehung zu diesem Lehrer angewiesen, also zumindest habe ich mir das eingebildet. Und der wusste, dass ich das glaube, hat mich auch in diesem Glauben gehalten und hat dann auf dieser Basis da seine Spielchen gemacht.

    Heckmann: Und haben Sie auf irgendeine Art und Weise versucht, direkt am Anfang auch schon Hilfe zu bekommen, Ihre Eltern einzuschalten beispielsweise?

    Roese: Also meine Eltern konnte ich nicht einschalten, die hatte ich in dieser Mobbingsache schon mal eingeschaltet, und die haben sich dann vom Schulleiter belehren lassen, ich würde halt lügen und Kinder in meinem Alter, die würden halt solche Geschichten erzählen und da sei aber nichts dran. Also meine Eltern hätten mir kein Wort geglaubt, im Gegenteil, das konnte ich also komplett vergessen.

    Heckmann: Sie waren ja ganz offensichtlich kein Einzelfall, Herr Roese, wie sich jetzt in den letzten Tagen und Wochen herausgestellt hat. Man muss ja davon reden, dass da ein regelrechtes System offenbar des sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule etabliert worden ist, wenn man es so ausdrücken mag. Wie war das möglich, ein solches System über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten?

    Roese: Na ja, das ist eine ganz normale Korruption. Das Geschäft zwischen dem Schulleiter und dem Kollegium, das bestand darin, dass niemand dem Schulleiter an den Karren gefahren ist, und dafür der Schulleiter – also eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Der Schulleiter hat eben auch alles geduldet. Und da konnte jeder machen, was er wollte, das war ein ganz klarer Deal.

    Heckmann: Und davon, dass solche Dinge passierten, davon wusste im Prinzip jeder Bescheid?

    Roese: Also diese Frage wird sehr, sehr strittig diskutiert. Also meine persönliche Meinung ist, dass jeder Bescheid wusste. Das ist wie in einer Diktatur: Es wird nichts direkt explizit ausgesprochen, aber zwischen den Zeilen und in den Witzen werden diese ganzen Sachen kommuniziert, und da ist es für mich also schlechterdings nicht vorstellbar, dass sich da jemand raushalten konnte und also wirklich nichts wissen konnte, glaube ich einfach nicht.

    Heckmann: Herr Roese, haben Sie den Täter, das war Ihr Musiklehrer damals, haben Sie den jemals mit Ihren Vorwürfen konfrontiert, im Nachhinein?

    Roese: Auch nur zwischen den Zeilen. Also die ganze Kommunikation lief so indirekt, bis auf das eine Mal, als ich mir einen Termin beim Schulleiter habe geben lassen bei seiner Sekretärin und dann in sein Büro gegangen bin und ganz offiziell ihm alles im Klartext vorgetragen habe. Das ist eigentlich das einzige Mal, dass ich mich daran erinnere, dass da also richtig Tacheles geredet wurde.

    Heckmann: Welche Rolle hatte der Schulleiter, der damalige Schulleiter Gerold Becker in der ganzen Angelegenheit gespielt?

    Roese: Ja, Gerold Becker hat dieses System ja etabliert, er war ja der Spiritus rector dieses Missbrauchs, vor allem auch des Missbrauchs der Schule. Er hat den zu Recht guten Ruf der Schule missbraucht als Schutzschild für seine Triebbefriedigung.

    Heckmann: Jetzt hat er sich in einem Brief offiziell entschuldigt bei den Betroffenen von sexuellem Missbrauch, halten Sie diese Entschuldigung für aufrichtig?

    Roese: Also erstens kann ja von einer Entschuldigung überhaupt keine Rede sein. Er nennt es ja Erklärung und setzt das auch noch in Parenthese, also distanziert sich noch mal von diesem Begriff Erklärung. Also im Grunde genommen geht er nicht über das hinaus, was er schon 1999 gesagt hat, und er sagt im Grunde genommen nichts. Also das, was er da zugibt, also Belästigungen nennt er das, das straft ja all die Lügen, die ihm handfestes Vergehen, also bis hin zur Vergewaltigung vorwerfen. Das kommt ja in diesem Begriff Belästigung überhaupt nicht vor. Also es ist ja eigentlich weniger ein Schuldeingeständnis als weiter eine Schuldverleugnung.

    Heckmann: Für heute hat der Vorstand der Odenwaldschule seinen mehrheitlichen Rücktritt angekündigt zumindest, ein für Sie wahrscheinlich überfälliger Schritt?

    Roese: Ja, dieser Schritt ist überfällig, und zwar der Trägerverein und sein Vorstand haben nicht gemerkt, dass die Schule seit Langem ein massives Problem mit dem Vertrauensverlust hat, an dem sie leidet. Und da hilft wohl nur der geschlossene oder beinahe geschlossene Rücktritt des Vorstandes und Neuwahlen.

    Heckmann: Was ist dem derzeitigen Vorstand denn vorzuwerfen?

    Roese: Der derzeitige Vorstand hat sozusagen die Schule in die Geiselhaft der Täter begeben, indem er – das kann man ja in dem Presseecho und aus der Zeit um 2000 kann man das ja ganz wunderbar nachlesen – indem er den Eindruck erweckt hat, auch öffentlich, dass man also in dem Moment, wo man den Tätern auf den Leib rückt, dass man da sozusagen riskiert, die Schule zu beschädigen. Also die Gleichsetzung von Tätern mit Schule, das ist eine in Geiselhaftnahme der Schule und das ist maßgeblich wohl mit dafür verantwortlich, dass es zu keiner Aufarbeitung gekommen ist, eben immer mit der falschen Idee im Hinterkopf, die Schule nicht beschädigen zu wollen. Man hätte aber die Täter beschädigen sollen, das hätte man machen sollen, und dadurch hätte man die Schule geschützt. Und der Trägerverein hat das eben falsch gemacht.

    Heckmann: Und das heißt, Sie werfen dem Trägerverein und dem Vorstand vor, sich an einer Vertuschungsaktion weiterhin beteiligt zu haben?

    Roese: Ja, das ist sehr deutlich gesagt, aber das ist es, genau das, ja.

    Heckmann: Herr Roese, die Bundesregierung hat in dieser Woche ja eine Missbrauchsbeauftragte berufen, Christine Bergmann, die ehemalige Familienministerin von der SPD, und auch einen Runden Tisch eingerichtet. Glauben Sie, dass diese beiden Einrichtungen dazu beitragen könnten, Missbrauch in Zukunft zu verhindern, und was müsste dazu geschehen?

    Roese: Also es gibt ja auch Drogenbeauftragte, ohne dass die Drogenproblematik sich verbessert hat, also ich will jetzt nicht von vornherein denen sozusagen gleich allen Wind aus den Segeln nehmen, alle Hoffnung nehmen, aber also ich verspreche mir davon nichts. Ich glaube, das Einzige, was helfen würde, wäre, wenn der Gesetzgeber die Verjährungsfrist auf 40 Jahre raufsetzen würde, und zwar 40 Jahre deshalb, weil nach zehn Jahren, wo die Verjährung heute einsetzt, die damals 13-, 14-jährigen Missbrauchsopfer eben 23, 24 sind, Familie gründen, sich im Beruf etablieren, also ganz andere Sorgen im Kopf haben als diese Geschichten aus ihrer Kindheit. Und die melden sich statistisch gesehen erst nach 30 Jahren, und zwar ist das das Alter, in dem sie ihre eigenen Kinder in dem Alter erleben, in dem sie selbst Missbrauchsopfer wurden. Dann melden sie sich. Und ich finde, der Zeitpunkt der Verjährung sollte nach eben diesen 30 Jahren Abstand zur Tat erst beginnen und dann ruhig zehn Jahre sein, so wie das heute auch ist, also die zehn Jahre sind okay. Nur das wäre dann eben 30 plus 10 Jahre, das wären dann 40 Jahre. Und ich würde das koppeln mit einer Verminderung des Strafmaßes für den Täter, je weiter dieser Tatzeitpunkt zurückliegt. Denn das Interesse an Strafe und Rache nimmt ja ab, aber das Interesse an Aufklärung, das bleibt erhalten. Und es ist ja gerade der Täter – das sieht man jetzt ja auch an den Vorgängen an der Odenwaldschule – es ist ja gerade der Täter, der Maßgebliches zur Aufklärung beitragen kann, denn die Opfer sind ja in der Regel nur eins von ganz vielen, die Täter sind ja Serientäter, die können also wirklich was aussagen. Und genau das hat ja Gerold Becker nicht gemacht. Also ein Schuldeingeständnis von Becker wäre für mich etwas gewesen, was über das hinausgeht, was wir bereits alle wissen. Das hätte ich akzeptiert.

    Heckmann: Welche Rolle spielt die Frage der Entschädigung für Sie?

    Roese: Also ich würde eigentlich alles aus der Debatte rausnehmen, was es dem Täter erschwert, sich zu öffnen und über seine Vergehen zu sprechen. Also ich würde mit wachsendem Abstand zum Tatzeitpunkt das Strafmaß reduzieren, eben um es dem Täter zu erleichtern zu sprechen, und ich würde auch die Frage einer Entschädigung rausnehmen wollen, um es dem Täter zu erleichtern zu sprechen, denn das Geld, das hilft ja nicht, das macht nichts wieder ungeschehen, das könnte aber wirklich ein Hindernis sein für den Täter zu sprechen, weil er befürchten muss, da eben Geld zahlen zu müssen.

    Heckmann: Was raten Sie jenen, die wie Sie von sexuellem Missbrauch betroffen gewesen sind?

    Roese: Zu sprechen, das ist das Einzige, was hilft. Das hilft wirklich, also das ist ganz enorm. Das ist wie die Geschichte von dem Bergsteiger, der in der Felswand abstürzt und sich an einem Bäumchen festhält, und als ihn die Kräfte verlassen, fängt er an zu beten: Herrgott, rette mich! Und dann geschieht ein Wunder, Gott antwortet und sagt: Wieso soll ich dich retten, du glaubst doch noch nicht mal an mich. Doch, doch, sagt der Bergsteiger, jetzt glaube ich an dich, nur bitte rette mich. Und da sagt Gott: Ist in Ordnung, lass los. Und so ist das. Man klammert sich an diesem Schweigen und Vertuschen fest aus Angst, in den Abgrund zu stürzen, aber in dem Moment, wo man also diesen Notanker des Schweigens und Verdrängens loslässt und den Sturz in die Tiefe riskiert, wird man feststellen, dass dieser Sturz ausbleibt. Man wird also regelrecht aufgefangen und ja, also es fällt richtiggehend von einem ab.

    Heckmann: Glauben Sie, Herr Roese, dass Sie jemals das Kapitel abschließen können für sich persönlich?

    Roese: Ja, auf jeden Fall. Mit diesem Prozess – das Gespräch mit Ihnen ist ein weiterer Teil dieses Prozesses – mit diesem Prozess wird das Kapitel für mich abgeschlossen.

    Heckmann: Was kann der Runde Tisch gegen sexuellen Missbrauch bringen? Die Meinung des Bildhauers und ehemaligen Odenwaldschülers Gerhard Roese.