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"Dieses Visionäre und diesen Mut zum Träumen“

Der Direktor der Berliner Schauspielbühne, Jürgen Schitthelm, erinnert sich mit respektvoller Verehrung an die Regiearbeiten Grübers. Niemand habe den Schauspielern in seinem Haus je mehr Raum gegeben. Er verformte die Stücke nicht - er übertrug seine Arbeiten im Sinne des Autors auf die Moderne und war seiner Zeit voraus, resümiert Schitthelm.

Moderation: Stefan Koldehoff |
    Stefan Koldehoff: In der Theaterwelt, in der manchmal mehr Diven hinter als in den Kulissen agieren, geschieht es selten, dass einem Regisseur ausschließlich Anerkennung, Hochachtung, ja sogar Verehrung entgegengebracht wird und das schon zu Lebzeiten. Klaus Michael Grüber ist dieses Glück widerfahren, weil er eine Ausnahmeerscheinung war. In der Nacht zu heute ist er gestorben nach längerer Krankheit in Frankreich im Alter von 67 Jahren. Und die Nachrufe morgen werden sich ähnlich ehrenvoll lesen wie die Kritiken zu seinen Arbeiten, als er noch lebte. Die Inszenierungen von Klaus Michael Grüber waren Ereignisse, die nicht selten Theatergeschichte geschrieben haben, jene der "Winterreise" von Hölderlin 1977 in Hitlers Berliner Olympiastadion zum Beispiel. Oder der "Faust", den er 1982 mit Bernhard Minetti zum letzten Traum eines alten Mannes von Jugend, Glück und Weite zum Drei-Personen-Stück verdichtete. 1941 im Schwäbischen geboren, hatte Grüber zunächst in Stuttgart Dramentheorie studiert, dann bei Giorgio Strehler die Praxis gelernt und an dessen Piccolo Teatro 1967 auch sein Regiedebüt gegeben. 1969 folgte der Wechsel nach Bremen, später dann der nach Berlin. Jürgen Schitthelm, der Direktor der Berliner Schaubühne hat Grüber 1972 an dieses Haus geholt und dort bis 1998 mit ihm zusammengearbeitet. Herr Schitthelm, erinnern Sie sich noch an die allererste Grüber-Inszenierung?

    Jörg Schitthelm: Ja, die erste Inszenierung von Klaus Michael Grüber 1972 waren die "Geschichten aus dem Wiener Wald" von Ödön von Horvath. Und Klaus Michael Grüber ist sehr stark beeinflusst gewesen von der bildenden Kunst. Seine Freundschaft zu vielen Malern hat ihn ja auch dazu gebracht, mit denen zusammen in der Regel die Ausstattung zu machen. Das war eine sehr experimentelle Aufführung. Und, ich sage mal, rückschauend kann man sagen, im Jahr 1972 ist anlässlich der Premiere die gesamte deutsche Presse durchgefallen, weil sie diese Aufführung für völlig misslungen erachtete. Die gleiche Presse hat dann aber acht, neun Jahre später, als es darum ging, einen Rückblick über das Jahrzehnt der 70er-Jahre zu schreiben, diese Aufführung wie auch dann seine späteren Aufführungen zu den ganz wesentlichen Hervorbringungen des deutschsprachigen Theaters seinerzeit gehalten.

    Koldehoff: Es soll ja durchaus auch lernfähige Kritiker geben. Was war denn damals der Grund? War damals einfach anderes Theater angesagt, konfrontativeres?

    Schitthelm: Nein, das will ich nicht sagen. Grüber war seiner Zeit relativ häufig voraus. Es war eine sehr experimentelle Arbeit, die dem Stück wirklich auf die Nieren ging und es eben nicht in dieser Wiener Redseligkeit beließ, Jutta Lampe, Edith Clever, Bruno Ganz, Michael König mit dabei. Eine herausragende Besetzung, aber eine Aufführung, die das Publikum herausgefordert hat. Und das Publikum hat diese Aufführung angenommen, die Presse war wie gesagt distanziert, vernichtend.

    Koldehoff: Gerhard Stadlmaier, der Kritiker der "FAZ", hat mal geschrieben, Klaus Michael Grüber war der Einzige, der in Stücke hineinging, sich in ihnen verlor, sie begriff als fremde, sperrige, unerforschbare Welt, in die hinein man aufbrechen müsse wie in ein tolles Abenteuer. War sein Regiestil demnach mehr so etwas wie eine Forschungstätigkeit?

    Schitthelm: Ja. Grüber hat sich hier auch immer wieder Stücken gewidmet oder Stoffen gewidmet, die wenig Beachtung gefunden hatten oder die eigentlich erst überhaupt nicht fürs Theater geschrieben war. Er hat, als Peter Stein seine berühmte "Drei-Schwestern-Inszenierung" von Tschechow herausgebracht hat, hat Klaus Michael Grüber kurz danach eine kurze Novelle "An der großen Straße" von Tschechow bei uns in einer Probebühne in Kreuzberg damals noch herausgebracht. Es waren immer wieder Forschungsarbeiten, auch dann, wenn er sich durchgesetzten Stücken näherte wie eine seine ganz großen Arbeiten bei uns, "Amphitryon", seinerzeit mit Jutta Lampe. Er hat immer den Versuch unternommen, den Stücken wirklich auf den Grund zu gehen, ohne die Stücke zu verformen, sondern sie im Sinne des Autors auf eine andere Zeit übertragen, zu interpretieren.

    Koldehoff: Peter Stein ist Stücke damals ganz anders angegangen, er ist nicht hineingegangen, er ist sie eigentlich angegangen. Er hat mal gesagt, Grüber war die Diva, die umworben werden musste. Ich war der Köter, der mit den Großen pinkeln gehen wollte. Ich war immer der kleinliche Bastler, und er hatte so etwas wie eine Vision, ein schreckliches Wort, so Stein. Was war denn die Vision von Klaus Michael Grüber?

    Schitthelm: Klaus Michael Grüber kam kurzfristig dazu, er lebte nicht in Berlin. Er war immer nur während seiner Arbeiten hier anwesend. Er hat von den Schauspielern eine absolute Spontanität verlangt. Man ging auf die Proben kaum mit Leseproben, nicht mit langen Vorbereitungen, ran an die Arbeit. Damals war es in Deutschland üblich und bei uns üblich, zwei, zweieinhalb und wenn es sein musste, auch drei Monate zu probieren. Grübers längste Probenzeit war, glaube ich, sechs Wochen. Er ist in der Regel mit vier bis fünf Wochen, manchmal sogar mit drei Wochen ausgekommen und hat dennoch hervorragend gearbeitet. Es war ein Antipode, das hat natürlich auch die Qualität der Arbeit ausgemacht, dass man mit Stein und Grüber zwei so gegensätzliche Regisseure am Haus hat. Und Stein hat ihn wirklich in seiner preußischen Gründlichkeit der Erarbeitung von Theater immer beneidet, weil diese Spontanität und dieses Visionäre und diesen Mut zum Träumen, und zwar auch mit dem ganzen Apparat zu träumen, das hat den Grüber nicht nur in seinen Arbeiten bei uns, sondern auch an anderen Häusern ausgezeichnet.
    Der Direktor der Berliner Schauspielbühne, Jürgen Schitthelm, erinnert sich mit respektvoller Verehrung an die Regiearbeiten Grübers. Niemand habe den Schauspielern in seinem Haus je mehr Raum gegeben. Er verformte die Stücke nicht – er übertrug seine Arbeiten im Sinne des Autors auf die Moderne und war seiner Zeit voraus, resümiert Schitthelm.

    Koldehoff: Im Frühsommer 2001 gab es in Wien eine beinahe rührende Szene. Da hatte Grüber am Akademietheater den "Roberto Zucco" von Koltes inszeniert und wurde, als der tosende Applaus nicht enden wollte, von seinen Schauspielern genötigt, sich wenigstens für einige wenige Sekunden auch an der Bühnenrampe zu zeigen. Gemocht hat er das offenbar, das war ihm deutlich anzusehen, nicht. Warum nicht? Was war er für ein Mensch?

    Schitthelm: Klaus Michael Grüber war einer der großen Schweiger des internationalen Theaters. Grübers Regietätigkeit müssen Sie sich so vorstellen, dass er den Schauspielern einen ungeheuer breiten Raum gegeben hat, zugucken konnte, nicht unterbrochen hat. Wenn er unterbrochen hat, oft nur über Gesten korrigierend. So viel Freiräume, wie Grüber den Schauspielern eingeräumt hat, habe ich bei keinem anderen Regisseur hier bei uns am Haus oder in anderen Häusern jemals erlebt.

    Koldehoff: Jürgen Schitthelm war das, vielen Dank, Direktor der Berliner Schaubühne zum Tod des Regisseurs Klaus Michael Grüber.