" All meine Texte zielen auf ein totales Werk. Dieses Werk wird wie ein Haus sein. Bis jetzt gibt es einzelne Blöcke: Fenster, Stufen, Türen. Manches ist bereits in sich geschlossen. Der Mensch wird wie ein Projekt geboren; der Tod ist das Haus."
So erklärte Andrej Bitow, der sicherlich bedeutendste lebende russische Autor und Präsident des russischen PEN, vor Jahren in einem Interview seine schriftstellerische Arbeit. Das in diesem Herbst bei Suhrkamp erschienene Buch "Geschmack" ist ein Bruchstück, ein Mauerteil dieses Lebenswerks. Bereits 1965 begonnen, wurde die Erzählung 1991 in Russland als Schlusskapitel eines Romans schon veröffentlicht. Es ist jedoch durchaus berechtigt, "Geschmack" als selbständigen Prosatext vorzulegen. Denn Bitows gesamtes Werk besteht nicht aus in sich geschlossenen fiktiven Geschichten mit einer linearen Handlung. In all seinen Büchern wird autobiografisches Material - leicht verfremdet - zum Ausgangspunkt einer essayistischen, assoziativ schweifenden philosophischen Prosa, die das Rätsel des menschlichen Lebens umkreist. Auf die Frage, worüber da geschrieben wird, heißt es im Nachwort Andrej Bitows zur gerade erschienenen Novelle:
" Ach, über ein und dasselbe. Ihr meint, die Zeit vergeht? Ihr Törichten, ihr selbst vergeht!"
Handlungsgerüst ist ein unspektakuläres Stück gelebten Lebens von Monachow, dem Helden und alter Ego des Autors, den der deutsche Leser aus dem Roman "Die Rolle" von 1980 schon kennt: Eine Reise von Leningrad nach Moskau, ein Aufenthalt in der Schriftstellerdatschensiedlung Peredelkino, wo er in Ruhe seine Beziehungskrise zwischen Ehefrau und Geliebter klären will und die vorzeitige Rückkehr in die Stadt wegen des Begräbnisses der Großmutter. Aber nicht das reale Geschehen, die objektiven Fakten werden beschrieben, sondern deren Wahrnehmung und Verarbeitung im Kopf des Helden. Die Lebenswirklichkeit spiegelt sich im Bewusstsein von Monachow, im flüchtigen Strom seines Nachdenkens, in schattenhaften Erinnerungsfetzen, jäh aufbrechenden Gefühlen, vorbeihuschenden Gedankensplittern, wobei häufig Gegenwart und Vergangenheit überblendet werden. Die banalen Alltagsereignisse sind nur der Anstoß für einen diese Bewusstseinsvorgänge modellierenden, furiosen Sprachfluss, in dem es ums Ganze geht: um das "unbegreifliche Leben", um Altern und um Tod.
Was Monachow umtreibt, ist ein Gefühl von Abgestumpftheit, Leere und "Verbrauchtheit", sein Verlust des Geschmacks am Leben, die Wahrnehmung durch vorgefertigte Muster, "ein Schmerz in Gestalt von Schmerzlosigkeit".
" Irgendwo hab ich das schon erlebt, gelesen, gehört...An irgendwas erinnert mich das, mir fällt bloß nicht ein, woran ... Was für ein bekanntes Gesicht! Wir beide sind uns schon irgendwo begegnet ... Ah so, das sagte ich Ihnen schon ... Ich weiß, ich weiß, davon habe ich gehört."
" Menschen, Gedanken, Gefühle, und jetzt also die Gegend - alles schon gewesen. Sollte auch ich - schon gewesen sein?"
Die Realität des Textes ist der Bewusstseinsstrom des Helden, wobei immer wieder die sinnliche Konkretheit und sprachliche Genauigkeit seiner Beobachtungen fasziniert. So etwa wenn er die letzten peinlich verlegenen Minuten auf dem Bahnhof vor Abfahrt des Zuges beim Abschied von der geliebten Frau schildert:
" Wäre er nur bald abgefahren, wäre es nur bald zu Ende, dieses Aneinanderkleben vor allen Leuten, was lässt sich noch herauspressen aus diesem Moment - nach der Nacht, nach dem Tag, nach dem Koffer, nach dem Waschen von Socken und Unterhosen und nach dem Apfel für unterwegs, nach der Überlegung, ob ein letztes Mal, unbequeme Stellung im Flur oder so."
Leitmotivisch zieht sich das Thema des "Geschmacks" durch die Erzählung. Der widerliche Nachgeschmack der Pirogge aus dem Bahnhofsbüfett, der weniger flüchtig ist als die abgerissenen Gedanken und das Pulsieren der am Zugfenster vorbei fliegenden Landschaft; der Geschmack des Akkuelektrolyts, an dem er leckt, als sein Auto nicht anspringen will; der Geschmack des letzten Kusses auf die Stirn der Verstorbenen bei der Beerdigung, der ihn daran erinnert und mit dem Geschmack der Geliebten aus der Nacht zuvor verschmilzt, den er mit Wodka zu überdecken versucht hatte.
Hinter der scheinbaren Zufälligkeit des Bewusstseinsstroms Monachows verbirgt sich das durchgehende Thema des Todes. In Parallele gesetzt werden zwei Friedhofsbesuche: ein Spaziergang auf dem berühmten idyllischen Friedhof von Peredelkino, wo das Grab Pasternaks zum Wallfahrtsort russischer Intellektueller geworden ist und Monachow von einer plötzlichen Welle der Freude und Lebensbejahung überwältigt wird:
" Für einen Augenblick kam es Monachow vor, als wäre die Welt gekippt, obwohl er gar nicht den Kopf in den Nacken gelegt hatte; als läge er auf dem Rücken, und ewig all das über ihm - das ihm zugewiesene Pfützchen Welt (...) Und mehr brauchte es nicht. Wenn so viel alles ist. Nach dem Tod wird dem Menschen die Welt eines Baumes zuteil, gar nicht so wenig. Endlich ist er verwurzelt. Die Welt kommt zu ihm, damit er sie anschaut."
Dagegengesetzt ist das finstere Finale der phantasmagorischen Beerdigung in der Hölle eines Großstadtfriedhofs, der am Rande einer von rostigen Konservendosen übersäten Müllhalde liegt.
"Der Regen peitschte, der Dunst verzog sich nicht, und hindurch schimmerte sogar als fauliges Dotter die Sonne. Es gab den Himmel nicht. Gott nicht. Den Teufel nicht. Die Erde nicht. Gelber, rotziger Lehm glitschte unter den Füßen. Stark gewinkelt wie Treidler im Gurt, stießen sie den schweren, aus nahezu klosettrohrdicken Rohren zusammengeschweißten Karren mit dem Sarg vorwärts. Die Rädchen des Karrens drehten sich nicht und hinterließen im Lehm eine flache Schlittenspur. "
Die betrunkenen Totengräber werden dirigiert von einem unheimlichen Friedhofsangestellten, der bestochen werden muss, damit er die Grabstelle zuweist, und der als Schrecken erregender Todesgott, als "Herr der Finsternis" erscheint.
Die Erzählung ist überreich gespickt mit Andeutungen und literarischen Zitaten, Redewendungen und Witzen, die dem Text eine eminente Tiefendimension verleihen, und immer neue, vielschichtige Bedeutungsmöglichkeiten eröffnen.
Die Übersetzerin Rosemarie Tietze, die Bitows Werk in Deutschland seit Jahren vorbildlich betreut, bietet im Anhang kommentierende Hinweise "als Hilfsprogramm, um die weiten Horizonte, die zusätzlichen Hallräume von "Geschmack" zumindest anzudeuten", wie sie schreibt.
Auch wenn der Name Pasternaks im Text nicht einmal genannt wird, ist das Bild dieses Schriftstellers, der für jeden Russen den Inbegriff des Dichterlebens verkörpert, ständig präsent. Da genügt eine Verszeile aus dem Schiwago-Zyklus, um das gesamte Gedicht, in dem der Dichter sich im Traum als Toten sieht, zu vergegenwärtigen. Oder ein Lermontow-Zitat evoziert den rauschenden Baum, der sich über das Grab neigt und dadurch mit dem Gedanken an den Tod versöhnt.
Eine schnelle, mühelose Lektüre ist es also nicht, die Bitow seinem Leser zumutet. Wer sich aber einlässt auf dieses ernsthafte, komplex verschlungene und doch leicht fließende erzählende Nachdenken über das menschliche Leben, wird auf jedes neue Bauteil aus Bitows Lebenswerk mit Spannung warten.
So erklärte Andrej Bitow, der sicherlich bedeutendste lebende russische Autor und Präsident des russischen PEN, vor Jahren in einem Interview seine schriftstellerische Arbeit. Das in diesem Herbst bei Suhrkamp erschienene Buch "Geschmack" ist ein Bruchstück, ein Mauerteil dieses Lebenswerks. Bereits 1965 begonnen, wurde die Erzählung 1991 in Russland als Schlusskapitel eines Romans schon veröffentlicht. Es ist jedoch durchaus berechtigt, "Geschmack" als selbständigen Prosatext vorzulegen. Denn Bitows gesamtes Werk besteht nicht aus in sich geschlossenen fiktiven Geschichten mit einer linearen Handlung. In all seinen Büchern wird autobiografisches Material - leicht verfremdet - zum Ausgangspunkt einer essayistischen, assoziativ schweifenden philosophischen Prosa, die das Rätsel des menschlichen Lebens umkreist. Auf die Frage, worüber da geschrieben wird, heißt es im Nachwort Andrej Bitows zur gerade erschienenen Novelle:
" Ach, über ein und dasselbe. Ihr meint, die Zeit vergeht? Ihr Törichten, ihr selbst vergeht!"
Handlungsgerüst ist ein unspektakuläres Stück gelebten Lebens von Monachow, dem Helden und alter Ego des Autors, den der deutsche Leser aus dem Roman "Die Rolle" von 1980 schon kennt: Eine Reise von Leningrad nach Moskau, ein Aufenthalt in der Schriftstellerdatschensiedlung Peredelkino, wo er in Ruhe seine Beziehungskrise zwischen Ehefrau und Geliebter klären will und die vorzeitige Rückkehr in die Stadt wegen des Begräbnisses der Großmutter. Aber nicht das reale Geschehen, die objektiven Fakten werden beschrieben, sondern deren Wahrnehmung und Verarbeitung im Kopf des Helden. Die Lebenswirklichkeit spiegelt sich im Bewusstsein von Monachow, im flüchtigen Strom seines Nachdenkens, in schattenhaften Erinnerungsfetzen, jäh aufbrechenden Gefühlen, vorbeihuschenden Gedankensplittern, wobei häufig Gegenwart und Vergangenheit überblendet werden. Die banalen Alltagsereignisse sind nur der Anstoß für einen diese Bewusstseinsvorgänge modellierenden, furiosen Sprachfluss, in dem es ums Ganze geht: um das "unbegreifliche Leben", um Altern und um Tod.
Was Monachow umtreibt, ist ein Gefühl von Abgestumpftheit, Leere und "Verbrauchtheit", sein Verlust des Geschmacks am Leben, die Wahrnehmung durch vorgefertigte Muster, "ein Schmerz in Gestalt von Schmerzlosigkeit".
" Irgendwo hab ich das schon erlebt, gelesen, gehört...An irgendwas erinnert mich das, mir fällt bloß nicht ein, woran ... Was für ein bekanntes Gesicht! Wir beide sind uns schon irgendwo begegnet ... Ah so, das sagte ich Ihnen schon ... Ich weiß, ich weiß, davon habe ich gehört."
" Menschen, Gedanken, Gefühle, und jetzt also die Gegend - alles schon gewesen. Sollte auch ich - schon gewesen sein?"
Die Realität des Textes ist der Bewusstseinsstrom des Helden, wobei immer wieder die sinnliche Konkretheit und sprachliche Genauigkeit seiner Beobachtungen fasziniert. So etwa wenn er die letzten peinlich verlegenen Minuten auf dem Bahnhof vor Abfahrt des Zuges beim Abschied von der geliebten Frau schildert:
" Wäre er nur bald abgefahren, wäre es nur bald zu Ende, dieses Aneinanderkleben vor allen Leuten, was lässt sich noch herauspressen aus diesem Moment - nach der Nacht, nach dem Tag, nach dem Koffer, nach dem Waschen von Socken und Unterhosen und nach dem Apfel für unterwegs, nach der Überlegung, ob ein letztes Mal, unbequeme Stellung im Flur oder so."
Leitmotivisch zieht sich das Thema des "Geschmacks" durch die Erzählung. Der widerliche Nachgeschmack der Pirogge aus dem Bahnhofsbüfett, der weniger flüchtig ist als die abgerissenen Gedanken und das Pulsieren der am Zugfenster vorbei fliegenden Landschaft; der Geschmack des Akkuelektrolyts, an dem er leckt, als sein Auto nicht anspringen will; der Geschmack des letzten Kusses auf die Stirn der Verstorbenen bei der Beerdigung, der ihn daran erinnert und mit dem Geschmack der Geliebten aus der Nacht zuvor verschmilzt, den er mit Wodka zu überdecken versucht hatte.
Hinter der scheinbaren Zufälligkeit des Bewusstseinsstroms Monachows verbirgt sich das durchgehende Thema des Todes. In Parallele gesetzt werden zwei Friedhofsbesuche: ein Spaziergang auf dem berühmten idyllischen Friedhof von Peredelkino, wo das Grab Pasternaks zum Wallfahrtsort russischer Intellektueller geworden ist und Monachow von einer plötzlichen Welle der Freude und Lebensbejahung überwältigt wird:
" Für einen Augenblick kam es Monachow vor, als wäre die Welt gekippt, obwohl er gar nicht den Kopf in den Nacken gelegt hatte; als läge er auf dem Rücken, und ewig all das über ihm - das ihm zugewiesene Pfützchen Welt (...) Und mehr brauchte es nicht. Wenn so viel alles ist. Nach dem Tod wird dem Menschen die Welt eines Baumes zuteil, gar nicht so wenig. Endlich ist er verwurzelt. Die Welt kommt zu ihm, damit er sie anschaut."
Dagegengesetzt ist das finstere Finale der phantasmagorischen Beerdigung in der Hölle eines Großstadtfriedhofs, der am Rande einer von rostigen Konservendosen übersäten Müllhalde liegt.
"Der Regen peitschte, der Dunst verzog sich nicht, und hindurch schimmerte sogar als fauliges Dotter die Sonne. Es gab den Himmel nicht. Gott nicht. Den Teufel nicht. Die Erde nicht. Gelber, rotziger Lehm glitschte unter den Füßen. Stark gewinkelt wie Treidler im Gurt, stießen sie den schweren, aus nahezu klosettrohrdicken Rohren zusammengeschweißten Karren mit dem Sarg vorwärts. Die Rädchen des Karrens drehten sich nicht und hinterließen im Lehm eine flache Schlittenspur. "
Die betrunkenen Totengräber werden dirigiert von einem unheimlichen Friedhofsangestellten, der bestochen werden muss, damit er die Grabstelle zuweist, und der als Schrecken erregender Todesgott, als "Herr der Finsternis" erscheint.
Die Erzählung ist überreich gespickt mit Andeutungen und literarischen Zitaten, Redewendungen und Witzen, die dem Text eine eminente Tiefendimension verleihen, und immer neue, vielschichtige Bedeutungsmöglichkeiten eröffnen.
Die Übersetzerin Rosemarie Tietze, die Bitows Werk in Deutschland seit Jahren vorbildlich betreut, bietet im Anhang kommentierende Hinweise "als Hilfsprogramm, um die weiten Horizonte, die zusätzlichen Hallräume von "Geschmack" zumindest anzudeuten", wie sie schreibt.
Auch wenn der Name Pasternaks im Text nicht einmal genannt wird, ist das Bild dieses Schriftstellers, der für jeden Russen den Inbegriff des Dichterlebens verkörpert, ständig präsent. Da genügt eine Verszeile aus dem Schiwago-Zyklus, um das gesamte Gedicht, in dem der Dichter sich im Traum als Toten sieht, zu vergegenwärtigen. Oder ein Lermontow-Zitat evoziert den rauschenden Baum, der sich über das Grab neigt und dadurch mit dem Gedanken an den Tod versöhnt.
Eine schnelle, mühelose Lektüre ist es also nicht, die Bitow seinem Leser zumutet. Wer sich aber einlässt auf dieses ernsthafte, komplex verschlungene und doch leicht fließende erzählende Nachdenken über das menschliche Leben, wird auf jedes neue Bauteil aus Bitows Lebenswerk mit Spannung warten.