"Als Kristallisationskern für kollektive Identität wird die Verfassung nach der Wiedervereinigung weniger benötigt als früher. Der Patriotismus ist nicht mehr auf das Grundgesetz angewiesen. Die Verfassung auch zu einer Sache der ostdeutschen Bevölkerung zu machen, hat man in der Wiedervereinigungsphase ohnehin versäumt. ... Die ostdeutsche Bevölkerung ist infolgedessen weithin verfassungsindifferent geblieben."
Der rote Faden in der Sammlung von Aufsätzen ist das Thema Toleranz. Natürlich hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 keine Vorstellung vom komplizierten Leben in einer multikulturellen Gesellschaft. Und doch geben, so Grimms leidenschaftliche Überzeugung, die damals formulierten Grundrechte auch Antworten für das Zusammenleben höchst unterschiedlicher Gruppen von heute:
"Andersartigkeit muss im Prinzip ertragen werden. Jeder kann seine Lebensform wählen und seine Auffassung vertreten. Jeder kann auch andere Auffassungen und Lebensformen ablehnen, nicht aber ihr Existenzrecht verletzen. Der Staat hat die Freiheit aller zu garantieren und darf für keinen Partei ergreifen."
Das bedeutet nun keineswegs, dass alles möglich ist, dass Minderheiten Mehrheiten dominieren können. Das Grundgesetz ist nicht wertneutral, es ist, so schreibt der Verfassungsjurist, auf die pluralistische Demokratie festgelegt. Und das bedeutet eine eindeutige Absage an jede Form von Fundamentalismus. Als hätte er die Sätze in diesen Wochen geschrieben, heißt es in einem Essay:
"Fundamentalismus ist das Gegenteil von Toleranz. Die Abwehrmechanismen des Grundgesetzes gegen Fundamentalismus, die Möglichkeit des Partei- und Vereinsverbots sowie der Grundrechtsverwirkung, gelten daher auch dann, wenn der Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung unter Berufung auf kulturelle Imperative geführt wird."
Grimm macht es sich nicht leicht. Er wägt sorgfältig ab zwischen berechtigten Sicherheitsbedürfnissen und den Freiheitsrechten, die es auch dann zu schützen gilt, wenn die allgemeine Konjunktur dagegensteht. "Es ist die Freiheit, die Sicherheitsrisiken schafft", schreibt er in seiner Bilanz zu 50 Jahren Grundgesetz und weiter:
"Die größten Freiheitsprobleme entstehen unterdessen durch die steigenden Sicherheitserwartungen in der Gesellschaft, auf die der Staat schon seit längerem mit einer Wende zur Prävention reagiert. Prävention zielt darauf ab, Gefahren bereits an der Quelle aufzuspüren und ihrer Entstehung möglichst zuvorzukommen. Gleichwohl sind die Vorteile der Prävention nicht kostenlos zu haben. Da die Gefahrenherde ungleich zahlreicher und ungleich verborgener sind als die manifesten Gefahren, ist der Übergang zur Prävention mit einer Tendenz zum omnipräsenten und omniinformierten Staat verbunden."
Freiheit und Sicherheit lassen sich nicht gleichermaßen optimieren. Es droht die Gefahr, dass Prävention jene Freiheit, die sie schützen möchte, aufzehren könnte, warnt Dieter Grimm. Manche Kapitel sind für juristische Laien schwer zu lesen, die meisten aber wünschte man sich als Grundlage für den Politikunterricht an den Schulen. Denn stets ist die große Liebe zu diesem Grundgesetz spürbar, unter dessen Dach sich jahrzehntelang die unterschiedlichsten politischen Grundströmungen, Parteien, Meinungen zu Hause fühlen konnten. Dass sich dies ändern könnte - vielleicht schon geändert hat, ist die große Sorge von Dieter Grimm. "Wie man eine Verfassung verderben kann", heißt deshalb ein Kapitel seines Buches. Man spürt die Trauer darüber, dass Juristen und Politiker aus Ländern, die sich in den letzten Jahren auf den schwierigen Weg von der Diktatur zur Demokratie gemacht haben, das deutsche Grundgesetz zum Vorbild genommen haben - das gilt unter anderem für Russland und für Südafrika - im eigenen Lande aber die Wertschätzung schwindet. Fast beschwörend schreibt der radikale Demokrat, der sich mit dieser von ihm diagnostizierten Entwicklung nicht abfinden mag:
"Das Grundgesetz ist eine der erfolgreichsten Verfassungen der Welt, das Bundesverfassungsgericht ein weit über die deutschen Grenzen hinaus bewunderter Garant von Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechten."
Die Aufsatzsammlung von Dieter Grimm: Die Verfassung und die Politik - Einsprüche und Störfälle ist erschienen im Münchner Beck-Verlag, hat 250 Seiten und kostet 38 Mark.