Archiv

Dieter Thomä: Puer Robustus
Die Figur des Störenfrieds

Der Philosoph Dieter Thomä beschreibt verschiedene Typen des Störenfrieds, vom politischen über den globalen bis zum egozentrischen. Trotz des 700 Seiten langen Werks übergeht er immer noch viele Formen des Quertreibers.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä
    Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä (picture alliance/dpa/Karlheinz Schindler)
    Dass Barack Obama ein politischer Störenfried ist, eine solche These erwartet man vielleicht aus dem Mund von Donald Trump. Dieter Thomä stellt Obama jedoch in eine Reihe mit Occupy Wall Street und Edward Snowden. Während letzterer ein globaler Störenfried ist, Occupy die lokale Ebene mit der globalen verbinden möchte, beschränkt sich Obama als Störenfried indes nur auf die lokale Ebene US-amerikanischer Wahlkämpfe, die er mal aufmischte, und zwar nach Thomä: "mit einem einzigen Satz (. . .) Dieser Satz fällt am 5. Februar 2008 in Chicago und lautet: 'We are the ones we’ve been waiting for.' – 'Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben.' Was für ein seltsamer Satz!"
    Nach Thomä proklamiert dieser Satz, dass mit der Wahl Obamas die farbigen Bürger, die bisher im politischen System der USA eher eine Nebenrolle spielten, auf der demokratischen Bühne angekommen sind, fühlen sich rechtskonservative Kreise durch Obama ja auch immer noch gestört. Damit verkörpert Obama für Thomä einen exzentrischen Typus von Störenfried, der politische Innovation durch kreative Ideen befördert und den Thomä denn auch zumeist schätzt, was er über die drei anderen Typen des Störenfrieds nicht unbedingt äußert:
    "Da gibt es zunächst den egozentrischen Störenfriede, der – bildlich gesprochen – an der Schwelle auf den Boden stampft, sich gegen die staatliche Ordnung sträubt und seinen Eigenwillen auslebt. (. . .) Sodann gibt es noch den nomozentrischen Störenfried, der seinen Kampf gegen die Ordnung im Vorgriff auf Regeln führt, die dereinst an deren Stelle treten sollen. (. . .) Marx wird versuchen, ihn (. . .) in die Wirklichkeit des Klassenkampfes hinüberzuziehen."
    Entdeckt hat den Störenfried Thomas Hobbes
    Das Proletariat kämpft nach Thomä ähnlich wie Schillers Wilhelm Tell für eine zukünftige gerechte Ordnung. Kennt Marx auch rein böse Störenfriede – das Lumpenproletariat oder das imperialistische Kapital –, so gesellt sich seit der Epoche des Faschismus und in den Zeiten eines religiösen Fanatismus ein vierter Typus zu den dreien:
    "Für seine Hetze und Härte braucht er etwas, was dem Selbstbild des Störenfrieds eigentlich zuwiderläuft: den Schutz der Masse, in der er verschwindet und in deren Namen er agiert. Er hat deshalb keinen besseren Namen verdient als den des massiven Störenfrieds."
    Entdeckt hat den Störenfried der Begründer der modernen politischen Philosophie Thomas Hobbes, der ihm 1642 auch einen Namen gibt, nämlich lateinisch Puer robustus – also 'kräftiger Junge' – den Hobbes für gefährlich hält, weil er sich der staatlichen Ordnung nicht unterordnet, wie es Hobbes dem Bürger doch empfiehlt. Seither taucht der Puer robustus mal namentlich, mal sinngemäß in der politischen Philosophie immer wieder als Störenfried auf, der dabei nicht nur negative Rollen spielt, die Thomä recht ausladend und manchmal zu weitschweifig in seinem Buch durchgeht. Wie Hobbes präsentiert sich Thomä dabei selbst als Verfechter der Ordnung, die indes durch den exzentrischen Störenfried gelegentlich einen positiven Impuls erhält. So erläutert Thomä:
    "Es geht in diesem Buch (. . .) um das Verhältnis zwischen Ordnung und Störung. Aus Gründen, die ganz unterschiedlicher Art sein können, rutscht der Puer robustus an den Rand, schießt quer, grätscht dazwischen. Wie auch immer der Störenfried sich verhält, er befindet sich am Rand, an einer Grenze oder eben, wie es besser heißen sollte, an einer Schwelle."
    Als böser egozentrischer Störenfried geht ein nur auf seinen ökonomischen Vorteil bedachtes Individuum mit dem Staat heute beispielsweise so um, als müsse dieser im Sinn des Neoliberalismus dem Kapitalismus dienen und nicht umgekehrt: Die Chefs von Hedgefonds wie deren Anleger als Störenfriede. Dagegen hat nach Thomä der Staat ein Primat gegenüber dem Individuum, das eine stabile innere Identität nur durch Bezug auf den Staat und nicht auf sein angehäuftes Kapital gewinnen kann. Die Figur des Störenfrieds wird daher immer auf den Staat bzw. die Ordnung bezogen, gesteht ihm Thomä auch kein eigenes Recht jenseits des Staates zu.
    Thomä will kein Denker unüberbrückbarer Differenzen sein
    So will Thomä kein Denker unüberbrückbarer Differenzen sein. Stattdessen bedient er sich des Begriffs der Schwelle, den Giorgio Agamben in die politische Philosophie eingeführt hat, den Thomä aber nicht poststruktural differenzierend, sondern traditionell vermittelnd benutzt. Etwas befremdend beruft er sich dabei gegen Agamben auf Foucault:
    "Das Wort Schwelle ziehe ich der Grenze vor, (. . .). Eine Schwelle ist typischerweise niedrig. Man kann sie überschreiten, über sie stolpern oder an ihr innehalten."
    Mit dem Typus des Störenfrieds führt Thomä einerseits das außerhalb der staatlichen Institutionen politisch aktive Individuum in die politische Philosophie ein und weist ihm sogar eine wichtige Rolle zu:
    Dem Puer robustus "ist zuzutrauen, den Lauf der Welt zum Guten oder zum Bösen zu beeinflussen."
    Andererseits betrachtet Thomä den Störenfried aus der Perspektive der politischen Ordnung, die der Puer Robustus zumeist gefährdet oder gelegentlich bereichert. So setzt sich Thomä in seinem Buch primär mit dem Verhältnis zwischen Ordnung und Störung auseinander, weniger mit dem Störenfried. Das gilt besonders für das herausragende Kapitel über die konservativen Denker Carl Schmitt, Leo Strauss, Helmut Schelsky einerseits und den Neomarxisten Max Horkeimer andererseits. Um "Anarchisten, Abenteurer, Halbstarke und kleine Wilde", die der Haupttitel dieses Kapitels ankündigt, geht es nur am Rande.
    Erfolgreiche Störenfriede wie die um sexuelle Liberalisierung bemühten Protestbewegungen der 60er-Jahre, Frauen als Störenfriede der Familienordnung in den 70ern oder seither die Umweltbewegungen kommen im Buch kaum vor. Haben sie für Thomä die staatliche Ordnung eher gestört als belebt? Trotz 700 Seiten übergeht er viele Formen des Störenfrieds. Das ist schade.