Martin Zagatta: Schneller als jede andere Partei hat die SPD auf die Bundestagswahl reagiert: der Gang in die Opposition. Andrea Nahles ist auf Vorschlag von Martin Schulz schon zur neuen Fraktionsvorsitzenden gewählt worden und der SPD-Chef selbst will trotz des Wahldesasters im Amt bleiben. Doch an all dem regt sich jetzt deutliche Kritik, vor allem auch von Altvorderen aus den eigenen Reihen.
Am Telefon ist jetzt Dieter Wiefelspütz, der lange Jahre als Innenpolitiker für die SPD im Bundestag war. Guten Tag, Herr Wiefelspütz!
Dieter Wiefelspütz: Guten Tag, Herr Zagatta.
"Wir machen jetzt Opposition"
Zagatta: Herr Wiefelspütz, Andrea Nahles, die ist ja auch schon ewig dabei. Das haben wir gerade gehört. Die soll jetzt das neue Gesicht der SPD werden. Sieht so ein glaubhafter Neuanfang aus?
Wiefelspütz: Ich denke, dass Andrea die richtige ist. Im Ruhrgebiet, wo ich herkomme, sagt man, die ist jetzt einfach dran. Das ist die beste für dieses Amt, temperamentvoll, leidenschaftlich, sehr erfahren und trotzdem noch relativ jung. Ich weiß nicht, wie alt Sie sind; die Frau Nahles ist noch keine 50. Für das Amt des Fraktionsvorsitzenden der SPD muss man sicherlich auch eine Menge Erfahrung haben. Wir machen jetzt Opposition und dafür ist die Frau genau die richtige.
Zagatta: Wieso ist denn Martin Schulz nicht der richtige Mann für das Amt? Der will ja weitermachen.
Wiefelspütz: Nun, der ist Parteivorsitzender, und ich hoffe sehr, dass wir mit unserem Spitzenpersonal pfleglich umgehen. Das ist ja in der Vergangenheit nicht immer so geschehen. Das ist ein anständiger Mensch. Der ist mit ganz breiter Zustimmung Parteivorsitzender geworden. Und nach meinem persönlichen Dafürhalten sollte er das auch noch für einige Jahre bleiben.
Zagatta: Kann denn ein SPD-Chef auf den Fraktionsvorsitz verzichten, jetzt normaler Abgeordneter werden? Das ist doch irgendwo auch ein Zeichen von Schwäche.
Wiefelspütz: Das kann ich nicht erkennen. Es gibt sicherlich sehr unterschiedliche Modelle. Es gibt auch den einen oder anderen, der das vielleicht so sehen mag, wie Sie das andeuten. Ich persönlich bin da anderer Auffassung. Politik ist doch letztlich eine Teamleistung und nicht eine Sache von ein, zwei Selbstdarstellern oder so etwas. Warum sollen die beiden, die sicherlich sehr unterschiedliche Menschen sind, warum sollen die beiden nicht diese Führungsverantwortung in unterschiedlichen Aufgaben gemeinsam gut koordiniert miteinander wahrnehmen.
"Die große Idee sozialer Demokratie ist doch nicht zu Ende"
Zagatta: Sie sagen jetzt Führungsverantwortung. Was ist denn Mitverantwortung? Martin Schulz hat das schlechteste Wahlergebnis der SPD in der Nachkriegszeit eingefahren. Ist das keine Katastrophe und übernimmt man da nicht Verantwortung?
Wiefelspütz: Ich finde, dass Sie da recht haben, dass das eine Katastrophe ist mit großen Auswirkungen. Es betrifft ja im Übrigen nicht nur die SPD. Aber wir wollen jetzt ja vornehmlich über die SPD sprechen. Ich will ja auch gar nicht ausweichen.
Aber die große Idee, Herr Zagatta, sozialer Demokratie ist doch nicht zu Ende. Wir haben eine schwere Niederlage erlitten und ich bin der Auffassung, dass da wirklich jeder Stein umgedreht werden muss bei uns. Ich finde es richtig, dass man da nicht einfach sagen kann, weiter so. Aber mit Köpfen abschneiden lösen Sie keine Probleme, wie denn auch, sondern wir müssen eine ganz tiefgreifende innere Diskussion in der SPD führen. Die Zeit ist ja auch da. Wir haben im Dezember den nächsten Bundesparteitag und ich hoffe, dass wir eine leidenschaftliche intensive Debatte innerhalb der SPD haben, um zu gucken, was wir besser machen können und besser machen müssen.
Diese Partei SPD hat noch vor wenigen Jahren große Erfolge erreicht, auch für unser Land, und jetzt ist das anders. Da muss bei uns jeder Stein umgedreht werden. Ich habe den Eindruck, dass sich in unserem Land viel verändert hat in den letzten Jahren, aber möglicherweise haben wir uns nicht ebenso verändert, und darüber muss geredet werden, sehr intensiv. Patentrezepte gibt es nicht, und Spitzenpersonal abservieren oder so etwas ist auch kein Patentrezept. Dass wir eine gewisse personelle Erneuerung brauchen, ist ja völlig normal, und deswegen gibt es jetzt einen sehr, wenn Sie so wollen, sogar harmonischen Übergang von Thomas Oppermann auf Andrea Nahles. Das ist richtig und notwendig.
"Alle Parteien haben Probleme"
Zagatta: Aber wenn Sie sagen, da muss jeder Stein umgedreht werden, wie haben Sie denn diesen Wahlabend erlebt? Da wird das schlechteste Wahlergebnis der SPD in der gesamten Nachkriegszeit verkündet und dann gibt es Riesenbeifall für Martin Schulz. Was stimmt denn da nicht mit der SPD?
Wiefelspütz: Ich habe schlecht geschlafen. Aber dass man, ich sage noch einmal, eine Katastrophe, möglicherweise eine tiefgreifende Veränderung der politischen Kultur insgesamt in Deutschland hat - das wissen wir alle noch nicht genau, das wird man sehen in den kommenden Jahren. Wir stehen vor einer ganz schwierigen Regierungsbildung. Mal sehen: Alle Parteien haben Probleme, wir besondere, besonders starke. Das will ich überhaupt nicht wegreden. Aber dass man in der Niederlage zusammenrückt, sich unterhakt, finden Sie das so ganz falsch?
Zagatta: Also es soll Mut machen. - Noch eine ganz andere Sache, Herr Wiefelspütz. Sie finden das gut, dass Frau Nahles das macht. Sie sagen, wenn ich Sie recht verstanden habe, die bringt da einen anderen Ton rein.
Wiefelspütz: Ich halte das nicht nur für gut, ich halte das für zwingend richtig!
Zagatta: Dann die Frage. Die hat ja gestern nach ihrer Wahl angekündigt, ab morgen, also ab heute kriegt die Union in die Fresse. Das soll ein Scherz gewesen sein. Bin ich da zu päpstlich, wenn ich das unmöglich finde?
Wiefelspütz: Na ja, habe ich mir auch heute Morgen die Frage gestellt, darf eigentlich in der Schule so was gesagt werden, darf das zu Kindern gesagt werden, oder so etwas. Ich kenne Andrea Nahles über viele Jahre hinweg. Sie hat, sagt sie selber, ein lockeres Mundwerk. Im persönlichen Umgang ist sie ausgesprochen manierlich und zivilisiert. Das war ein drastischer Scherz. Legen Sie das bitte nicht auf die Goldwaage.
"Ich halte es nicht für richtig, Menschen zu beschimpfen"
Zagatta: Will ich auch gar nicht tun. Aber ist das vielleicht ein bisschen der neue Stil, den Eindruck kann man ja gewinnen, wenn der SPD-Politiker Johannes Kahrs die Mitglieder der AfD - ich zitiere das auch mal - jetzt gerade als "rechtsradikale Arschlöcher" bezeichnet? Ist das ein bisschen der neue Stil der SPD, weil Martin Schulz so einen Schmusekurs gefahren hat, dass man jetzt die Auseinandersetzung sucht?
Wiefelspütz: Ich halte es nicht für richtig, Menschen zu beschimpfen. Ich kenne Johannes Kahrs auch ein bisschen näher. Der hat eine etwas drastische Wortwahl.
Zagatta: Das lieben wir ja auch sonst so.
Wiefelspütz: das will ich mir nicht zu eigen machen. Ich würde Wähler nicht beschimpfen wollen und auch andere Parteimitglieder nicht so ohne Weiteres. Mit der AfD sich auseinanderzusetzen, wird ja auch noch mal ein riesen Thema sein in der deutschen Politik. Das betrifft nicht nur die SPD, sondern auch alle anderen, auch die Presse beispielsweise. Das wird man sehen. Das kann man jetzt alles nicht heute in diesem Interview aufeinanderbringen. Aber gehen Sie bitte davon aus, dass Andrea Nahles eine kämpferische, eine leidenschaftliche Oppositionsführerin sein wird. Das erwarten wir auch von ihr, das wird sie auch leisten. Und sie wird mit der politischen Konkurrenz - ich spreche gar nicht mal von Gegnern - angemessen umgehen, und zwar in aller Regel auch respektvoll.
Zagatta: Aber wenn man solche Töne hört, ist da vielleicht jetzt auch Wolfgang Schäuble als neuer, als wahrscheinlich neuer Bundestagspräsident genau der richtige Mann, um die AfD und die SPD im Zaum zu halten?
Wiefelspütz: Uns muss niemand im Zaum halten. Wir sind wirklich eine demokratische Partei seit was weiß ich, seit weit mehr als 100 Jahren, und da haben wir nicht unbedingt Belehrungsbedarf. Allerdings soll man kritisch auf uns schauen. Und wenn Sie schon nach dem Bundestagspräsidenten fragen - mir wäre der liebste eigentlich der Herr Lammert, aber der ist nicht mehr im Bundestag.
Zagatta: Der ist nicht mehr dabei.
Wiefelspütz: Ansonsten werden wir uns selbstverständlich benehmen. Aber es darf in der Politik auch schon mal ein kräftigerer Ton herrschen. Seien Sie bitte jetzt nicht überpingelig.
Zagatta: Sind wir auch nicht! Lassen wir auch so stehen! - Ich bedanke mich für das Gespräch bei Dieter Wiefelspütz, dem langjährigen Innenpolitiker der SPD. Herr Wiefelspütz, schönen Tag!
Wiefelspütz: Alles Gute für Sie.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.