Gerhard Schröder: Herr Bartsch, Europa befindet sich im Krisenmodus. Wieder ein EU-Gipfel, wieder lange Nachtsitzungen. Im Mittelpunkt dabei natürlich die Flüchtlingskrise, die wieder einmal vertagt wurde und der drohende Ausstieg Englands aus der Europäischen Union. Hier nun wurde zur Überraschung mancher ein Reformpaket geschnürt, das England eine Reihe von Sonderregelungen zugesteht, die dem Land ein Verbleiben in der Gemeinschaft schmackhaft machen soll. Wie bewerten Sie das Ergebnis? War das ein gutes Ergebnis?
Dietmar Bartsch: Ich glaube, dieser Gipfel hatte in der Frage Großbritannien auch so etwas wie Showcharakter. Ich glaube, dass von vorneherein klar war, dass es eine Regelung geben wird. Niemand der anderen europäischen Staatschefs hätte zugelassen, dass es keine Variante gibt, dass Großbritannien bleiben kann. Ich finde das Ergebnis höchst problematisch, weil Großbritannien hat die anderen Länder de facto erpresst. Es war die Frage: Wo werden die Grenzen für bestimmten Sozialabbau, für Unfreundlichkeit gegenüber Flüchtenden und Ähnliches gezogen? Das hat Cameron ziemlich weit nach unten geschafft. Der Gipfel stand unter dem Zeichen, dass rechtspopulistische Bewegungen Druck gemacht haben. Das war die UKIP aus Großbritannien, die letztlich Cameron gedrängt hat, das ist der Front National, der Hollande drängt und es sind andere Parteien, wo Rechtspopulisten schon das Sagen haben, siehe Polen. Eine ausgesprochen problematische Situation in Europa spiegelt sich wider in diesen Verhandlungsergebnissen.
Schröder: Wäre es also besser gewesen, wenn die übrigen Mitgliedsstaaten hart geblieben wären?
Bartsch: Ich bin ziemlich sicher, dass Cameron auch verpflichtet war, ein Ergebnis zu bringen. Aber das ist relativ unwichtig, was eine – in dem Fall kleine – Opposition dazu sagt, da kann man aus Berlin schlaue Ratschläge geben. Ich gehe davon aus, Cameron wollte das, die anderen wollten das – es hätte auch ein anderes Verhandlungsergebnis geben können. Am Ende bleibt es Showcharakter. Und ob die Briten dann im Juni zustimmen werden, ist noch eine ganz andere Frage, weil Europa ist in einem solchen Krisenmodus, dass das im Moment nicht einmal auszuschließen ist.
Schröder: Entlastungen bei Sozialleistungen bei eingewanderten EU-Bürgern gestattet die EU Großbritannien, außerdem mehr Abstand zur Gemeinschaft, die ja eine Vertiefung anstrebt. Was ist daran so problematisch?
Bartsch: Großbritannien hat ja schon immer Abstand gepflegt: Bei der Währung, bei anderen Dingen – dieser Abstand wird vergrößert. Und der Kern ist doch, dass ein neoliberales Wirtschaftsmodell hier vertieft wird. Standards nach unten werden weiter verschoben, und das ist tief problematisch. Ich glaube, Europa wird nur eine Chance haben, wenn das große Projekt des Friedens, des Sozialausgleichs und der Kultur in den Köpfen auch der Regierungschefs bleibt. Ansonsten, im Gegeneinander – und letztlich ist das Ergebnis nichts anders – wird Europa kaum zusammenzuhalten sein.
Schröder: Sie haben England eine erpresserische Haltung vorgeworfen – 'Sonderregelungen für uns, sonst sind wir draußen'. Kann diese Haltung Schule machen?
Bartsch: Ein Europa der Erpressungen und ein Europa, das nicht auf Ausgleich bedacht ist, wird dauerhaft nicht funktionieren. Deswegen ist aus meiner Sicht dieses Verhandlungsergebnis ein Tiefpunkt, weil es de facto geschrieben wurde unter dem Druck rechtspopulistischer Bewegung.
"Europa wird es auch ohne die Briten weiter geben"
Schröder: Wie wichtig ist es denn, dass England in der Europäischen Union bleibt? Oder andersherum gefragt: Wie groß wäre der Schaden, wenn England raus geht?
Bartsch: Es wäre zweifelsfrei ein Schaden, den niemand genau überblickt. Deswegen darf man damit auch nicht spielen. Aber wenn die Briten anders entscheiden am 25. Juni, dann ist das so, dann wird es Europa weiter geben. Ich weiß nur nicht, ob mit der derzeitigen Politik, wo man ja sagen muss, dass Angela Merkel eher noch eine positive Rolle spielt – bei allen Kritiken, die ich da zu äußern hätte –, ob dieses Europa in dieser Form eine Zukunft hat. Denn auf Erpressung basierend und mit dem Ziel ein Europa letztlich doch der Konzerne zu werden, wird es nicht funktionieren. Wir brauchen ein soziales Europa, und zwar eines, was von Griechenland bis nach Schottland reicht.
Schröder: Was muss denn jetzt geschehen, um da wieder auf eine positive Spur zu kommen, um Europa voranzubringen in dem Sinne, der ja auch durch die Erfahrungen in der Finanzkrise, in der Verschuldungskrise eingeschlagen worden ist, nämlich dass die Mitgliedsstaaten enger zusammenrücken, ihre Politiken enger verzahnen und nicht auf Abstand gehen?
Bartsch: Ich glaube, dass wir nochmal eine grundsätzliche Diskussion zur Perspektive Europas führen müssen. Es ist offensichtlich so, dass die bisherigen Vertragswerke so nicht funktionieren. Da muss es Veränderungen geben, aber diese Veränderungen – das ist ja die Gefahr – dürfen nicht zu einer Verschlechterung führen. Es muss ein Europa der Menschen werden. Und wenn wir dort nicht Standards schaffen, zum Beispiel über einen europäischen Mindestlohn, über Sozialstandards, dann wird Europa scheitern. Ich glaube, dass die Krise auch eine Chance ist – im Moment wird sie von den führenden Ländern nicht wahrgenommen.
"Merkels Politik ist in Bezug auf Polen, Ungarn und Großbritannien positiv"
Schröder: "Die Krise kann auch eine Chance sein", sagen Sie – wen sehen Sie denn als Motor? Sie haben Angela Merkel in diesem Prozess positiv erwähnt, sehen Sie noch andere, die ihr da zur Seite stehen?
Bartsch: Also, Angela Merkel positiv, mit Bezug auf Polen, auf Ungarn, auch auf Großbritannien. Wir haben, Gott sei Dank, auch eine andere Tendenz: In Spanien wird hoffentlich eine mit der Linksregierung gebildet, in Portugal gibt es eine Regierung mit linken Akzenten, auch in Griechenland könnte das sein. Ich glaube, dass es einen Druck aus Südeuropa geben wird auf eine neue Konstitution Europas. Und letztlich ist das auch eine Aufgabe der politischen Linken. Wenn wir es hier in Deutschland nicht schaffen – und das ist die zentrale Frage –, in der Politik eine Korrektur hinzukriegen, wenn das Finanzdiktat weiterhin der erste Maßstab ist, dann wird Europa scheitern - nach meiner festen Überzeugung. Und das ist im Übrigen die Herausforderung für die politische Linke in Deutschland, ob in der zentralen Industriemacht Europas eine Veränderung möglich wird. Um nicht mehr und nicht weniger geht es auch als Aufgabe für meine Partei.
Schröder: Wenn Großbritannien aus der EU ausscheiden wird, dann hätte das auch wirtschaftliche Folgen. Was befürchten Sie?
Bartsch: Das wäre insbesondere für Großbritannien ein Problem. Denn im Gegensatz zu dem, was hin und wieder geglaubt wird, würde es nicht zu einer Eigenständigkeit führen, die etwa zu einem Produktivitätsschub führen würde. Ich bin der Überzeugung, Europa wird sich dauerhaft nur auch in der Auseinandersetzung mit anderen Wirtschaftszentren, wie den Vereinigten Staaten, wie China, wie auch vielleicht Russland irgendwann wieder, behaupten können, wenn es gemeinsam agiert. Wenn die Briten dagegen entscheiden sollten, dann entscheiden sie sich vor allen Dingen gegen ihre eigenen Interessen.
Bartsch zur Flüchtlingskrise: "Probleme müssen vor Ort gelöst werden"
Schröder: Das Interview der Woche, mit Dietmar Bartsch, dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei. Herr Bartsch, Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator, Peter Altmaier, sieht Europa nach dem Gipfel auch in der Flüchtlingsfrage auf einem guten Weg. Teilen Sie die Auffassung?
Bartsch: Die teile ich im Moment noch nicht. Weil wir werden das Thema Flüchtlinge nur dann in andere Gewässer bekommen, wenn vor Ort Probleme in anderer Konsequenz gelöst werden. Solange in Syrien dieser brutale Krieg herrscht, solange in Afghanistan Menschen in Größenordnungen fliehen wollen, solange die Probleme der Weltwirtschaftsordnung auch sich in Flüchtlingen äußern, werden wir das nicht bewältigen können.
Schröder: So wünschenswert das ist, dass der Krieg in Syrien endet – derzeit werden ja auch Gespräche über eine Waffenpause geführt, ob die zum Erfolg führen, ist noch etwas ganz anderes –, aber wir brauchen kurzfristige Lösungen.
Bartsch: Ja, es gibt viele kurzfristige Maßnahmen, die man treffen kann, zum Beispiel die Ausstattung der Flüchtlingslager. Eines der Dinge, wo viele Länder schlicht nicht zahlen, wo es aber notwendig ist, dass die Menschen nicht weiter ihre Nahrungsmittelrationen gekürzt bekommen – ein ganz wichtiger Punkt. Kurzfristig könnten wir endlich entscheiden, keine Waffen mehr in Krisenregionen zu exportieren. Das alles ist kurzfristig machbar. Und wir könnten kurzfristig dafür sorgen, dass die Menschen, die jetzt in Lagern auch in der Türkei sind, die in anderen Lagern in Jordanien sind, dass die wenigstens die Chance haben, dort eine solche Versorgung hinzubekommen. Und im Übrigen, ganz kurzfristig kann man in Syrien, kann man in anderen Gebieten für Waffenstillstand sorgen und organisieren, dass ein Wiederaufbau geschieht. Denn das, was der ein oder andere Politiker suggeriert, man könne Grenzschließungen wo auch immer vornehmen, wird das Problem in keiner Weise lösen. Wir werden Tote an Grenzen haben, wir werden noch gefährlichere Fluchtrouten haben, das ist das Ergebnis. Denn jeder weiß, dass selbst der Weg über Lampedusa, der Weg über Spanien, auch andere Weg jetzt gegangen werden. Es ist nicht so, dass alle Flüchtlinge etwa über die Balkanroute kommen, das ist nicht der Fall. Und da wird teilweise den Menschen suggeriert, dass man mit einfachen Maßnahmen etwa den Flüchtlingsstrom an der Grenze aufhalten könnte. Eine völlige Illusion, neben der Tatsache, dass es inhuman ist, dass es unchristlich ist und dass es im Übrigen auch unserem Grundgesetz widerspricht.
"Es muss mehr auf dem Gebiet Integration und Teilhabe geleistet werden"
Schröder: Also, alle Grenzen offen und alle dürfen kommen?
Bartsch: Das ist ja gar nicht der Punkt. Wer sagt, wir können alle Milliarden Menschen, die es auf der Welt gibt, in Deutschland aufnehmen, der redet natürlich Unsinn. Aber das ist nicht die Frage, die Frage ist eine andere. Diejenigen, die auf dem Weg sind und diejenigen, die hier sind, mit denen müssen und sollten wir zu allererst menschlich umgehen, das ist unsere Aufgabe. Da würde ich mir wünschen, dass mehr auf dem Gebiet Integration und Teilhabe geleistet wird. Die sogenannten "Asylpakete" tragen alle die Überschrift "Verschärfung, Verschärfung, Verschärfung", sie gehen grundsätzlich von einem Missbrauch aus und ich sage voraus, sie werden die aufgezeigten Ergebnisse nicht bringen. Wir werden mehr rechtliche Verfahren haben, wir werden die Gerichte noch mehr belasten. Und es wird am Ende des Tages Verlängerung von Verfahren geben und keinesfalls etwa das, was suggeriert wird, dass Menschen schneller gehen würden. Ordnung muss herrschen und dazu gehört im Übrigen im Sinne derjenigen, die hierherkommen, dass es auch nach kurzer Zeit Entscheidungen gibt. Denn je länger die Leute in Turnhallen oder in Lagern oder wie auch immer bleiben müssen, desto schwieriger ist es auch, ihnen menschwürdige Bedingungen zu schaffen.
Schröder: Derzeit ist es so, die meisten Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Angela Merkel will nun eine gemeinsame, eine europäische Lösung finden, das heißt, eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten, weil Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen könne. Das Problem ist nur, die anderen wollen dabei nicht mitmachen. Wie kann Deutschland aus dieser Sackgasse rauskommen?
Bartsch: Europa versagt hier. Und das hat im Übrigen auch mit der Konstitution von Europa zu tun, weil es eben keine europäische Flüchtlingspolitik gibt. Und die Kontingente, die beschlossen worden sind, sind ja bis heute nicht aufgeteilt worden – also ein Versagen auf ganzer Linie.
Schröder: Aber die Frage ist ja: Wie kommt man aus dieser Situation heraus? Bundeskanzlerin Angela Merkel drängt ja darauf, dass die anderen mitmachen. Jetzt haben sogar Staaten, die bislang mitgezogen haben, nämlich Schweden und Österreich, zwei Länder, die viele Flüchtlinge aufgenommen haben, die setzen jetzt auch auf Abschottung, Österreich hat Obergrenzen, tägliche Obergrenzen eingeführt, also Deutschland steht völlig isoliert da.
Bartsch: In Österreich werden diese Obergrenzen weder rechtliche noch politisch halten. Und auch in anderen Ländern wird das nicht der Fall sein. Eines ist völlig klar: Es gibt nur europäische Lösung oder es wird sie nicht geben.
"Abschottung wird das Problem nicht lösen"
Schröder: Aber wie kommt man da hin?
Bartsch: Abschottung wird das Problem nicht lösen. Und da gibt es doch – Gott sei Dank – nicht nur die Diplomatie, alle Möglichkeiten des Ausreizens müssen hier genutzt werden. Und ich sage auch: Angela Merkel muss deutlicher machen, dass sich auch osteuropäische Länder wie Polen oder auch die Slowakei nicht ausklinken können. Da müssen auch die ökonomischen Maßnahmen [...]. All die Länder bedienen sich aus europäischen Fonds – zu Recht –, aber es kann nicht sein, dass sie nur von den positiven Dingen Europas profitieren und nicht bei Dingen, die eine Herausforderung sind, mitziehen. Das trifft im Übrigen auch für Frankreich zu. Ich werde nicht akzeptieren, dass Herr Hollande sagt: 'Bei uns werden keine weiteren Flüchtlinge genommen' oder sie im Zehntausenderbereich definiert. Das kann nicht das Herangehen sein. Es muss dahin kommen, dass sowohl das Thema der Aufteilung von Flüchtlingen wieder angegangen wird und dann wird man auch zu Ergebnissen kommen.
Schröder: Wie kann Deutschland Frankreich zwingen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen? Regierungschef Manuel Valls hat das ja erst vor einer Woche in München deutlich gemacht: 'Über die 30.000 vereinbarten werden wir keine Flüchtlinge aufnehmen, wir sind auch gegen einen neuen Verteilungsmechanismus.' Da ist die Bundeskanzlerin doch machtlos.
Bartsch: Schauen Sie, es gibt viele Länder, die sagen, was sie alles nicht tun und wir können das fortsetzen. Dann müssen wir konstatieren, dass Europa gescheitert ist, dann ist im Kern, im Übrigen, auch die gemeinsame Währung gescheitert. Weil das kann nicht funktionieren, dass man Lasten einseitig verteilt. Und genauso ist das eben auch beim Thema der Zu-Uns-Kommenden: Entweder wir kriegen das hin, das europäisch zu lösen oder Europa wird scheitern. An dieser Stelle, nicht, wie vor Monaten noch behauptet: 'Scheitert der Euro, dann scheitert Europa'. Nein, die Währungsfrage wird nicht die sein, an der Europa scheitern kann, sondern es kann die Flüchtlingsfrage sein. Ich hoffe das nicht.
"Man muss mit der Türkei reden"
Schröder: Die Bundeskanzlerin setzt nun auf einen erneuten Gipfel Anfang März, ein Gipfel, bei dem die Türkei eine zentrale Rolle spielen soll. Die Idee ist: Drei Milliarden Euro sollen dem Land bereitgestellt werden, im Gegenzug sorgt die Türkei dafür, dass weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen – so der Plan in verkürzter Form. Ist das eine gute Idee?
Bartsch: Die Türkei ist mit Sicherheit ein Schlüsselland. Fakt ist, dass die Türkei auch Ursachen für neue Flüchtlingsströme legt, indem sie zum Beispiel Kurden in Syrien beschießt, indem sie einen barbarischen Krieg gegen Kurdinnen und Kurden im Land und auch außerhalb des Landes führt. Aber klar ist auch, die Türkei hat zweieinhalb Millionen Flüchtlinge aufgenommen und hat dort eine große Verantwortung. Ja, man muss mit der Türkei reden, ohne – wie etwa in Großbritannien – jetzt etwa Herrn Erdoğan alle Zugeständnisse zu machen. Wenn man drei Milliarden für Flüchtlingslager aufwendet, finde ich das richtig. Ob der richtige Verteiler Herr Erdoğan ist, das wage ich zu bezweifeln. Das sollte über die entsprechenden Organisationen laufen, über das UNHCR und andere, die dafür sorgen sollten, dass die Menschen in den Lagern halbwegs erträgliche Bedingungen haben, damit sie zumindest dort bleiben können und das eine Hoffnung bleibt, dass sie vielleicht in ihr Land zurückkehren können. Das ist und bleibt der Kernpunkt. Wenn es nicht eine mittelfristige Lösung für Syrien, für die Kurdinnen und Kurden, für den Irak gibt, dann werden wir weitere Flüchtlingsströme erleben. Es ist doch absurd, wenn aus Deutschland gefordert wird, die Türkei möge die Flüchtlinge aus Syrien alle über die Grenze lassen – was im Übrigen richtig ist – und gleichzeitig keine und keinen von diesen Flüchtlingen dann weiter in Richtung Bulgarien, Griechenland und andere Länder lassen. Das kann doch nicht unser Ernst sein.
Schröder: Herr Bartsch, im vergangen Jahr über eine Millionen, die nach Deutschland gekommen sind, in diesem Jahr werden es vielleicht wieder so viele sein. Wie lange ist das noch tragbar? Die Kommunen klagen jetzt schon, dass sie überfordert sind mit der Unterbringung, mit der Versorgung der Flüchtlinge – über Integration haben wir da noch gar nicht geredet. Also, wie lange kann das gut gehen?
Bartsch: Wir sollten zunächst feststellen, dass in vielen Kommunen eine hervorragende Arbeit geleistet wird und es ist einfach auch nicht wahr, dass alle klagen, sondern viele erkennen auch die Chance. Und wir sollten mit dem Handeln auf der Bundesebene diejenigen unterstützen, die tagtäglich ihre Arbeitskraft, teilweise auch materielle und finanzielle Mittel einsetzen. Das ist, glaube ich, die Haltung, die wir benötigen und nicht über das Klagen und über diejenigen, die teilweise gar keine Flüchtlinge sehen, aber besonders laut agieren.
"Die AfD verspricht schnelle Lösungen"
Schröder: Das Interview der Woche mit Dietmar Bartsch, dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im deutschen Bundestag. Herr Bartsch, gleichwohl, in der Bevölkerung wachsen die Zweifel, dass die Bundesregierung die Lage noch im Griff hat. Davon profitiert allerdings nicht die Linkspartei, die diese Bundesregierung ja immer wieder kritisiert, sondern vor allem, die rechtspopulistische AfD, die Alternative für Deutschland. Warum ist das so?
Bartsch: Das hat damit zu tun, dass es einen großen Stau an Problemen im Land gibt und dass diese Partei schnelle Lösungen verspricht. Es ist leider so, dass zu wenig hinterfragt wird: Was sind dann konkrete Dinge, die die AfD tut? Ich kann nur feststellen: In den Landtagen, wo die AfD jetzt vertreten ist, sind sie nicht durch Kompetenz und etwa durch Lösungen aufgefallen, sondern mehr durch das Gegenteil, durch Inkompetenz und ohne konkrete Vorschläge.
"Wir haben real eine Verschiebung nach rechts"
Schröder: Gleichwohl können wir davon ausgehen, dass die AfD in drei Wochen in weitere Landesparlamente einziehen wird, nämlich in Rheinland-Pfalz, in Baden-Württemberg, in Sachsen-Anhalt – in einigen Parlamenten, so sagen die Meinungsforscher, mit zweistelligen Ergebnissen. Kann man diesen Trend noch umkehren? Mit welchen Argumenten?
Bartsch: Ich bin der festen Überzeugung, dass der Trend umkehrbar ist. Sicherlich nicht zu den Wahlen am 13. März, aber ich sehe es noch nicht so, dass die AfD zwingend im nächsten Deutschen Bundestag ist. Mit Sicherheit wird Eines nicht funktionieren: Wenn Politik Forderungen der AfD aufnimmt und damit glaubt, ihnen das Wasser abzugraben – das ist im Übrigen seit Monaten passiert. Im Asylpaket l, im Asylpaket ll, bei dem Ruf nach Verschärfung von Gesetzen sind ja Forderungen der AfD partiell aufgenommen worden. Und manches, was heute in der Politik in Ruhe ausgesprochen wird, wäre vor zwei Jahren noch unter Donnerhagel zurückgewiesen worden. Das ist ein Problem. Wir haben real eine Verschiebung nach rechts, das muss man schlicht konstatieren, und zwar insbesondere bei der Union, aber ähnlich auch bei der SPD. Das führt, wie wir sehen, nicht dazu, dass die AfD schwächer wird. Deswegen klare Auseinandersetzung in der Sache mit der Partei, deutlich machen, dass gerade diejenigen, die heute erwägen sie zu wählen, von der AfD nichts zu erwarten haben. Es ist eine Partei, die zum Beispiel gegen den Mindestlohn ist. Das ist eine Partei, die das Kirchhof'sche Steuermodell durchsetzen will. Das würde nur den Superreichen in diesem Lande wirklich nutzen und nicht denjenigen, die jetzt schon diverse Probleme insbesondere auf finanziellem Gebiet haben.
Schröder: Aber der Höhenflug der AfD wird auch die Linkspartei nicht unberührt lassen. Zumindest schwinden die Aussichten, dass mit Wulf Gallert, der Spitzenkandidat der Linkspartei in Sachsen-Anhalt auch nächster Ministerpräsident sein wird. Oder haben Sie da noch Hoffnungen?
Bartsch: Ich habe da nicht nur noch Hoffnungen, sondern ich bin der Überzeugung, dass es diese Chance, dass wir in Sachsen-Anhalt den zweiten Ministerpräsidenten der Linken stellen können, dass diese Chance weiter da ist, wenn man sich die Umfragen ansieht. Wir müssen der CDU drei Prozent abnehmen und wenn diese bei uns anlanden, dann ist es schon so, dass es eine Mehrheit gibt. Es kommt darauf an in Sachsen-Anhalt eines deutlich zu machen: Die zentrale Frage in diesem Land ist: Heißt der nächste Ministerpräsident Haselhoff, wie in den letzten zehn Jahren, oder heißt er Gallert? In den letzten zehn Jahren hat es Sachsen-Anhalt geschafft, in den zentralen Indikatoren auf den letzten Platz, auf den Abstiegsplatz zu rutschen. Das kann man fortsetzen oder man sagt: Wir brauchen einen neuen Aufbruch – und diesen Aufbruch wird es nur mit Mitte-Links geben.
Schröder: Da müsste dann aber auch die SPD mitmachen – das scheint nicht so sicher.
Bartsch: Das war auch in Thüringen nicht sicher. Das erwarte ich auch gar nicht, dass die SPD das etwa im Vorhinein sagt, mit wem sie in Verhandlung geht. Da wird man am Wahlabend, wenn es rechnerisch Möglichkeiten gibt, wird man miteinander reden und austarieren, was das Beste für das Land ist. Ich bin da zuversichtlich und wir werden in den nächsten Tagen entschlossen kämpfen, dass wir das auch hinbekommen.
Schröder: Welche Bedeutung hätte ein rot-rot-grünes Bündnis in Magdeburg? Geht davon ein Signal auch über Sachsen-Anhalt hinaus aus?
Bartsch: Ich wünsche mir in Deutschland mitte-links Regierungen auf Landesebene, auch auf kommunaler Ebene, weil ich wirklich glaube, in Korrespondenz zum Beginn unseres Interviews, die zentrale Frage für die Entwicklung in Europa ist: Gibt es wirklich in Deutschland ein mitte-links Projekt für Europa oder wird es das nicht geben?
Schröder: In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sehen wir das Kontrastprogramm zu Sachsen-Anhalt, dort kämpft die Linkspartei um den Einzug in den Landtag. Ob sie das schaffen wird, ist mehr als ungewiss. Woran liegt das, dass die Linkspartei im Westen nach wie vor nicht Fuß gefasst hat?
Bartsch: Das ist ja im Westen differenziert. Wir haben Regionen, wo wir gut dastehen und wo wir mehrfach in die Landtage eingezogen sind. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wäre es jeweils der erste Einzug. Und die Voraussetzungen dafür sind häufig starke, kommunale Vertretungen, die uns gerade in den Ländern noch nicht so gelungen sind und deshalb ist das ein Kampf. Aber auch dort sagen alle Umfragen, sie sehen uns zwischen vier und fünf Prozent. Dass das möglich ist, das wird in den letzten Tagen entschieden werden. Im Übrigen finde ich ganz wichtig, dass man in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg das Signal gibt: Es zieht nicht nur eine rechtspopulistische Partei in den Landtag ein, sondern auch eine, die für soziale Gerechtigkeit in Konsequenz steht, nämlich die Linkspartei, ansonsten wäre auch international das ein sehr, sehr bedenkliche Zeichen.
Schröder: Herr Bartsch, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Bartsch: Bitteschön, gern.