Die frühen Siebzigerjahre gelten gemeinhin als beste Zeit der alten Bundesrepublik. Gut, die RAF verübte damals ihre ersten Terroranschläge. Doch ansonsten brummte die Wirtschaft. War Willy Brandt Bundeskanzler. Wurde Deutschland Fußballweltmeister. Und gab es Disco, Prilblumen, Mini-Röcke und Maxi-Joints. Kurzum: Die frühen Siebziger waren eigentlich eine Zeit, in der man als junger Mensch in Westdeutschland viel ausprobieren und jede Menge Spaß haben konnte. Doch genau damit tut sich Paul Weber, der jugendliche Ich-Erzähler in Dietmar Sous Roman "Roxy", gleich aus mehreren Gründen schwer.
Zwar träumt auch der 18-jährige Paul im Sommer 1973 von Aufbruch und Freiheit. Doch dank einer Leseschwäche kann er dummerweise nicht jene hippen, nach Rebellion klingenden Modetheoretiker wie Adorno oder Marcuse runterbeten, die bei seinen Altersgenossen so angesagt sind. Stattdessen lebt Paul seine Protestsehnsucht notgedrungen mit Popmusik aus. Beziehungsweise: Mit einem Modestil, der von seiner Lieblingsband "Roxy Music" inspiriert ist. Genauso wie deren Sänger Bryan Ferry läuft auch Paul, von seinen Freunden "Roxy" genannt, am liebsten in Jackett, engen Jeans und mit Sonnenbrille herum. Ansonsten aber hat sein Alltag als Sohn einer alleinerziehenden Mutter und Lehrling im Garten- und Straßenbau irgendwo in der rheinischen Provinz nahe Aachen nur höchst wenig Glamouröses an sich. Ganz im Gegenteil:
"Wer hat denn den Spargel bestellt?", fragte Hess, der Chef der Pflasterer-Kolonne. Hess meinte mich. (... ) Meine neue Arbeit war alles andere als kompliziert, aber das Gegenteil von einfach. Berge grauer und rötlicher Steine mussten von mir zu den Pflasterern bewegt werden. Hess warf mir ein Paar Handschuhe zu und zeigte auf eine Schubkarre, die doppelt so viel Ladefläche hatte wie die, die in der Landschaftsgestaltung üblich war. (...)
- "He, träumst du? Was ist denn das für ein Mückenfurz?"
Hess betrachtete mit vernichtendem Blick meine erste Fuhre, die ich für total überladen hielt. (...) "Bist du Student? Schwul? Hast du deine Tage? Oder alles zusammen?" Meine neuen Kollegen lachten sich schief."
- "He, träumst du? Was ist denn das für ein Mückenfurz?"
Hess betrachtete mit vernichtendem Blick meine erste Fuhre, die ich für total überladen hielt. (...) "Bist du Student? Schwul? Hast du deine Tage? Oder alles zusammen?" Meine neuen Kollegen lachten sich schief."
Vom Pech, im falschen Milieu gelandet zu sein
Von Kritikern wurde Dietmar Sous, Jahrgang 1954 und wohnhaft in Stolberg bei Aachen, bereits mehrfach mit dem britischen Popkomödianten Nick Hornby verglichen. Denn auch in seinen Geschichten dienen Pop- und Jazzsongs oft als Referenz für ein generationsspezifisches Lebensgefühl. Dennoch hinkt der Hornby-Vergleich schon deshalb, weil Sous trotz seines heiter-lakonischen Sounds tatsächlich sehr viel bösere Pechvogel-Geschichten erzählt. Das trifft nun auch wieder auf "Roxy" zu. Und wenn man für den neuen Sous-Roman überhaupt einen Schriftstellervergleich bemühen will, wäre der mit Ralf Rothmanns Roman "Stier" sicherlich angebrachter. Erzählte doch auch "Stier" bereits davon, wie brutal und gar nicht locker eine 70er-Jahre-Jugend inmitten hart gesottener Proletarier verlaufen konnte. Und ganz ähnlich wie Rothmanns künstlerisch ambitionierter Maurerlehrling Kai hat nun auch Sous' Träumer Paul aus "Roxy" vor allem das Pech, im falschen Milieu gelandet zu sein.
Hätte es der empfindsame Junge aufs Gymnasium geschafft - oder würde er nur ein paar Kilometer weiter weg in einer Großstadt wohnen, wäre seine Lage längst nicht so vertrackt. Doch als Lehrling in der Provinz ist Paul von derart vielen gehässigen Kleinbürgern umgeben, denen oft genug noch der Nazi-Gehorsam in den Knochen steckt, dass der Möchtegern-Bohemien notwendig anecken muss. Und zum schikanierten Außenseiter wird. Als Paul dann auch noch seinen schriftlichen Einberufungsbefehl nicht entziffern kann, nimmt das Unglück endgültig seinen Lauf. Ungewollt gerät der Wehrdienstverweigerer ins Visier von Polizei und Justiz:
- "Am besten verschwindest du, bevor die Soldaten zurückkommen und dich holen", sagte meine Mutter.
- "Soldaten? Was für Soldaten?"
- "Militärpolizei", antwortete mir ihr neuer Freund Rico. "Dreimal waren die schon hier. Bewaffnet! Zweimal Sonntagmorgens kurz vor sechs, einmal mitten in der Nacht. (...) Weil du ein Fahnenflüchtiger bist, ein Deserteur. (...) Weißt du eigentlich, was du deiner Mutter damit antust?"
So viel Mitgefühl war zu viel für meine Mutter. Sie fing an zu weinen und rief:
- "Ja, weißt du eigentlich, was du mir antust?"
Beeinflusst vom lapidaren Stil der US-amerikanischen Short Story
"Roxy" ist ein autobiografisch grundierter, schwarzhumoriger Schelmenroman, der ziemlich gründlich mit dem vorherrschenden 70er-Jahre-Bild von einer lässigen Prilblumen-Zeit aufräumt. Denn nicht genug damit, dass sich sogar Pauls Mutter von ihrem Sohn als sogenannten "Fahnenflüchtigem" abwendet, nachdem sie sich auch vorher schon deutlich mehr für ihren Mercedes und wechselnden Liebhaber interessiert hat als für ihren Sprössling. Der polizeilich gesuchte Wehrdienstverweigerer verliebt sich zu allem Überfluss auch noch in Sonja, eine Zicke aus der Oberschicht, die schon bald ihre launischen Spielchen mit ihm treibt. Alles Handkantenschläge des Schicksals, dessentwegen ein junger Mann durchaus verzweifeln könnte. Doch Dietmar Sous versteht es als bewährter Humorist auch in "Roxy" einmal mehr, das Tragische ins Komisch-Groteske zu wenden.
Deutlich beeinflusst vom lapidaren Stil der US-amerikanischen Short Story, schildert Dietmar Sous Pauls Werdegang von Mai 1973 bis Januar 1975 als Abfolge hart aneinandergeschnittener, mitunter a-chronologisch montierter Episoden, in kurzen Sätzen und mit Pointen-trächtigen Dialogen. Bloß nicht abschweifen oder sentimental werden: Für dieses Schreibmotto ist Sous, der sich bislang vor allem als Kurzgeschichtenautor profiliert hat, bekannt. In "Roxy" hätte es stellenweise zwar ruhig ein bisschen mehr Mut zum melancholischen Gefühl sein dürfen. Doch wahrscheinlich hielt der Autor hier auch deshalb an seinem humorigen Understatement-Credo fest, weil die Ähnlichkeit zwischen ihm, dem ehemaligen Glasfabrikarbeiter und Wehrdienst-Verweigerer, und seinem Helden Paul unübersehbar ist.
Man ahnt: Dietmar Sous weiß aus eigener Erfahrung nur allzu gut, wie hart es ist, als Flausenkopf unter engstirnigen Provinzlern aufwachsen zu müssen. Und so schwingt im Galgenhumor seines Ich-Erzählers glücklicherweise oft genug jener Rotz-Ton einer echten Lebensverzweiflung mit, der tragische Jugendrebell-Geschichten so herzzerreißend und unwiderstehlich macht.
Dietmar Sous: Roxy. Roman.
Transit Verlag, 144 Seiten, 16,80 Euro.
Transit Verlag, 144 Seiten, 16,80 Euro.