Das Buch erschien 1947 im ostdeutschen Aufbau Verlag, später auch im Westen, bei Rowohlt. Es verkaufte sich über die Jahre ordentlich, ging aber nie so gut wie andre Titel Falladas, etwa "Kleiner Mann was nun" oder "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst"; der Roman galt als Nebenwerk und war zuletzt nicht mehr lieferbar. Diesen Februar wurde er neu aufgelegt und steht bereits auf der Spiegel-Bestsellerliste – allerdings erst, nachdem er im Ausland immensen Erfolg hatte.
Aufbau-Verleger René Strien erzählt, dass das Buch vor acht Jahren zunächst in Frankreich neu herauskam:
"Dort hat der Verleger Olivier Rubinstein von Denoel das Buch gekannt, das Mitte der 50er in einer alten Übersetzung herauskam, und das hatte ihn damals schon sehr beeindruckt. Er hat es dann wieder hervorgeholt, neu übersetzen lassen und noch einmal veröffentlicht. Es ist schon eine beachtenswerte Geschichte, denn dort hat es sich, wenn auch über den Zeitraum etlicher Jahre, annähernd 100.000 mal verkauft – was wenig Parallelen hat bei anderen Büchern, zumal bei Büchern von Autoren, die schon so lange gestorben sind. Über diesen Weg ist es nach Amerika gelangt, über eine merkwürdige Empfehlung einer Modeschöpferin, die zufällig einen engagierten Verleger in den USA kannte, Dennis Johnson von Melville House. Der hat dann dieses Buch unbedingt machen wollen."
In den US-Feuilletons wurde der Roman bejubelt, seine Spannung mit Büchern von John Le Carré verglichen – prompt verkauften sich über 200.000 Exemplare. Doch damit nicht genug. Zur gleichen Zeit entdeckte in England der Verleger von Penguin Books das Buch ebenfalls:
"Die Geschichte dort ist noch verblüffender, dort wurden innerhalb von nicht mal zwei Jahren über 300.000 Exemplare verkauft! Und das hat sich fortgesetzt: Wir haben inzwischen in über 20 Länder Lizenzen verkauft, in Israel ist es Nummer 1 der Bestsellerliste geworden, in den Niederlanden."
Was ist das für ein Buch, das über 60 Jahre brauchte, um ein internationaler Bestseller zu werden? In einer Vorbemerkung notiert Fallada so lakonisch wie ironisch:
"Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 42 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. Etwa ein gutes Drittel dieses Buches spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen war das Sterben sehr im Schwange. Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet."
Was sicher richtig ist. Seltsam nur, dass Fallada in diesem Vorwort eine ganze Reihe Romanfiguren nicht erwähnt: überzeugte Nazis, berechnende, aber auch verängstigte Mitläufer, und natürlich Denunzianten gibt es in dem Buch genug. Im Zentrum freilich steht ein Ehepaar, das gegen Hitler kämpft. - Doch der Reihe nach. Ostberlin, nach dem Zweiten Weltkrieg. Hans Fallada ist 53 und schwer herzkrank, seine Gesundheit durch Alkohol und Morphium zerstört. Da erhält er vom kommunistischen "Kulturbund" einen Stapel Gestapo-Akten. Darin steht die Geschichte des Berliner Ehepaars Hampel, das ab 1940 mit Postkarten und Briefen zum Widerstand gegen Hitler aufrief, und erst zwei Jahre später gefasst und zum Tod verurteilt wurde. Fallada soll über das "vorbildliche" Paar schreiben, im Zug der "demokratischen Erneuerung" Deutschlands.
Er lehnt ab; als innerer Emigrant, der sich mit Unterhaltungsromanen durch die Nazizeit rettete, habe er nicht das Recht, vom Widerstand zu erzählen. Obwohl: Die sogenannten "kleinen Leute" waren immer sein Thema ... Langsam schlägt ihn die Geschichte in Bann. Wie im Rausch schreibt er in vier Wochen fast 900 Manuskriptseiten über das Paar, das er Quangel statt Hampel nennt. Falladas Sohn Uli Ditzen, heute 81, erinnert sich:
"Er stand immer unter dem Diktat des Buches, das er grade schrieb. Das machte sich so bemerkbar, dass er an keinem Tag weniger schreiben durfte als am vorigen. Er musste jeden Tag – ob´s eine Zeile oder ein Absatz war – mehr schreiben als zuvor. Das ist natürlich bei so einem Wälzer wie "Jeder stirbt für sich allein" eine Knute, der man schlecht entgeht. Mein Vater stand morgens um drei oder vier auf, machte sich Kaffee und ging dann an die Arbeit. Um zehn war er meistens mit dem Tagespensum fertig."
Da alle Bücher Falladas so entstanden, wusste die Familie, was nach der Manuskript-Abgabe geschah: Der Autor bekam einen Nervenzusammenbruch.
"Dann fiel er – platsch – in sich zusammen und konnte überhaupt nichts mehr, war irritabel wie ein schlafender Teufel. Man musste furchtbar Rücksicht nehmen auf ihn, dass er wenigstens tagsüber noch etwas zur Ruhe kam ... Was er aber gemacht hat die ganze Zeit: Das Schönste für uns Kinder war, dass er mit uns spazieren gegangen ist."
Wer 30 und mehr Seiten am Tag schreibt, kann nicht an jedem Wort feilen.
"Hat er auch nicht getan. Das ist nicht weithin bekannt, aber ich kann´s Ihnen ja erzählen. Er hat mit der Hand geschrieben, mit dem Füllfederhalter, mit seiner vom Schreibkrampf etwas zittrigen Hand. Und wenn es abgeschlossen war, ließ er eine Sekretärin aus Berlin kommen, die das aufschrieb, nach Diktat. Bei diesem Diktat hat er dann noch Änderungen vorgenommen."
So entstand das Typoskript, das der Erstausgabe des Romans zugrunde liegt – freilich nach entscheidenden Änderungen des Lektors Paul Wiegler.
"Der Text ist ja nicht nur für das Aufbau-Buch entstanden, sondern gleichzeitig für einen Vorabdruck in der 'Berliner Neuen Illustrierten'. Dafür hatte es bereits Gutachten gegeben, die sehr kritisch mit dem Text umgingen. Was dann an Eingriffen während des Lektoratsprozesses geschehen ist, scheint diesen Kritiken Rechnung zu tragen. Nun muss man wissen, bevor man Zensur! schreit, dass man Fallada das angekündigt hat. Man hat von diesen Kritiken berichtet und gesagt, da müsse sicher das eine oder andere bearbeitet werden, was sachlich nicht ganz stimmig war, aber auch was tendenziös nicht passte."
Zum Beispiel Falladas differenzierte Figuren. Bei ihm gibt es nicht nur tumbe, brutale Nazis hier und arme Opfer oder schiere Gutmenschen da, im Gegenteil. Auch die unpolitischen Quangels arrangieren sich zunächst mit Hitler, Hauptsache, man kommt durch. Doch dann fällt ihr Sohn an der Front - und sie beginnen ihren kleinen, aber gefährlichen Widerstand. Otto Quangel überlegt:
"Am Galgen hängen ist auch nicht schlimmer, als von einer Granate zerrissen zu werden oder am Bauchschuss krepieren! Das alles ist nicht wichtig. Was allein wichtig ist, das ist: Ich muss rauskriegen, was das mit dem Hitler ist. Erst schien doch alles gut zu sein, und nun plötzlich ist alles schlimm. Plötzlich sehe ich nur Unterdrückung und Hass und Zwang und Leid, so viel Leid. Wenn nur ein einziger Mensch ungerecht leidet, und ich kann es ändern, und ich tue es nicht, bloß weil ich feige bin und meine Ruhe zu sehr liebe, dann ..."
Und ausgerechnet der Gestapo-treue Kommissar, der sie verfolgt, ändert später seine Einstellung und nimmt sich das Leben. Doch derlei Brüche und Zwischentöne störten die Redakteure und Lektoren wohl. Sie wollten den Text als politisches Lehrstück zur "Volksbildung", mit klarem Gut oder Böse – und die Kommunisten, die darin vorkamen, mussten natürlich Lichtgestalten sein ...
"Er schuf keine Stereotypen, das war nichts für ihn. Das hängt wahrscheinlich auch mit seiner inneren Arbeitsweise zusammen, dass er immer an der Wirklichkeit entlang schrieb. Die meisten Figuren in seinen Büchern, das hat die Forschung inzwischen festgestellt, haben irgendein Vorbild, und sei es auch noch so entfernt. Dieses Vorbild hat er gedanklich so ausgefeilt, dass es einen lebendigen Menschen ergab. Wenn man da die Charaktere verschärfte und Eigenschaftswörter strich, es eben "deutlicher" machte, wie es ja das Bestreben der Kommunisten immer war, die "Frontstellung" klar zu schaffen – dann ist das geschehen, aber ..."
Heute wissen wir, dass Fallada Korrekturfahnen mit den Änderungen des Lektors erhielt – er hätte also protestieren können. Nur war er durch seine Krankheit so schwach, dass es nicht mehr dazu kam. Kurz darauf starb er, noch vor Erscheinen des Buchs.
"All das spielte sich in sehr kurzer Zeit ab, deswegen gab es im Verlag auch kein Gedächtnis, kein Bewusstsein dafür, dass an dem Text etwas verändert wurde. Erst als wir uns durch das aktuelle Interesse im Ausland noch einmal sehr intensiv mit dem Text beschäftigt haben, hat sich herausgestellt: Es ist fast ein ganzes Kapitel entfallen und es ist durch den Text hindurch in klarer Richtung eingegriffen worden."
Dadurch ist aber kein neues, "anderes" Buch entstanden. Darum wäre es auch falsch, die rekonstruierte Urfassung eine "Sensation" zu nennen, was im Literaturbetrieb ja gern und schnell geschieht ... Im Ganzen dürften kaum mehr als 20 Seiten verändert worden sein. Dennoch wirkt der Text nun härter, in manchen Details regelrecht drastisch, auch widersprüchlich – und ist so der Lebenswirklichkeit um 1940 näher als die alte Ausgabe.
Am Ende wird Otto Quangel hingerichtet, seine Frau stirbt im Gefängnis bei einem Bombenangriff. War ihr Handeln vergeblich? Nur dann, wenn man auf das offenkundige Ergebnis schaut: Hitler blieb an der Macht. Fallada aber zeigt sie trotz dieses Scheiterns auch als Sieger: Weil sie nach eigener, freier Entscheidung ihrem Gewissen folgen und die Konsequenzen klaglos tragen. Darum endet das Buch auch mit einem, bei aller Vorsicht, positiven Ausblick.
"Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von neuem über Schmach und Tränen, über Elend und Tod triumphierenden Leben."
Das letzte Kapitel gehört einer der vielen Nebenfiguren des Romans. Der 16-jährige Kuno hat seine schwierige Kindheit und den Krieg überstanden. Gebeutelt ist er allemal, und doch: Er beginnt nun, auf dem Land bei Adoptiveltern, ein neues Leben.
"Kuno sieht auf die Felder rechts und links, prüfend, fachmännisch beurteilt er den Saatenstand. Er hat viel gelernt hier auf dem Lande, und er hat – gottlob! – fast ebenso viel vergessen. Der Hinterhof, nein, an den denkt er fast nie mehr, und auch nicht mehr an einen dreizehnjährigen Kuno-Dieter, der eine Art Räuber war, nein, das alles gibt es nicht mehr. Aber auch die Träume von der Motorenschlosserei sind aufgeschoben, vorläufig genügt es dem Jungen, den Trecker im Dorf bei der Pflügerei trotz seiner Jugend führen zu dürfen. Ja, sie sind schön vorangekommen, der Vater, die Mutter und er. Sie sind nicht mehr von den Verwandten abhängig, sie haben im vorigen Jahr Land bekommen, sie sind selbstständige Leute mit dem Pferd Toni, einer Kuh, einem Schwein, zwei Hammeln und sieben Hühnern. Das Leben macht ihm Spaß, er wird den Hof schon in die Höhe bringen, das tut er!"
Bleibt die Frage nach dem späten Erfolg des Buchs. Ganz lassen sich Bestseller nie erklären, sonst wären sie von Verlagen planbar. Doch so viel ist sicher: Vor der deutsch-deutschen Wende, zumal zur Hochzeit des "Kalten Kriegs", waren Gut und Böse klar verteilt. Die Deutschen vor 1945 waren, wenn sie nicht gerade zur "Weißen Rose" oder zum Stauffenberg-Kreis gehörten, Nazis oder Mitläufer. Jede andere Einschätzung galt als politisch unkorrekt; dass es auch einen Widerstand im Kleinen gab, oft auch von "kleinen" Leuten, wurde nicht gesehen oder wollte nicht gesehen werden. Seit der Wende wird offener diskutiert. Sogenannte "innere Emigranten" gelten nicht mehr von vornherein als feig und auch das Schicksal der Vertriebenen wird neu reflektiert. Da kommen die Neuausgaben von Falladas Roman mit ihren Zwischentönen und gebrochenen Charakteren genau recht. Der Erfolg im Ausland, gerade auch in Israel zeigt, dass die Zeit endlich reif ist für differenzierte Darstellungen, jenseits der Klischees.
Aufbau-Verleger René Strien erzählt, dass das Buch vor acht Jahren zunächst in Frankreich neu herauskam:
"Dort hat der Verleger Olivier Rubinstein von Denoel das Buch gekannt, das Mitte der 50er in einer alten Übersetzung herauskam, und das hatte ihn damals schon sehr beeindruckt. Er hat es dann wieder hervorgeholt, neu übersetzen lassen und noch einmal veröffentlicht. Es ist schon eine beachtenswerte Geschichte, denn dort hat es sich, wenn auch über den Zeitraum etlicher Jahre, annähernd 100.000 mal verkauft – was wenig Parallelen hat bei anderen Büchern, zumal bei Büchern von Autoren, die schon so lange gestorben sind. Über diesen Weg ist es nach Amerika gelangt, über eine merkwürdige Empfehlung einer Modeschöpferin, die zufällig einen engagierten Verleger in den USA kannte, Dennis Johnson von Melville House. Der hat dann dieses Buch unbedingt machen wollen."
In den US-Feuilletons wurde der Roman bejubelt, seine Spannung mit Büchern von John Le Carré verglichen – prompt verkauften sich über 200.000 Exemplare. Doch damit nicht genug. Zur gleichen Zeit entdeckte in England der Verleger von Penguin Books das Buch ebenfalls:
"Die Geschichte dort ist noch verblüffender, dort wurden innerhalb von nicht mal zwei Jahren über 300.000 Exemplare verkauft! Und das hat sich fortgesetzt: Wir haben inzwischen in über 20 Länder Lizenzen verkauft, in Israel ist es Nummer 1 der Bestsellerliste geworden, in den Niederlanden."
Was ist das für ein Buch, das über 60 Jahre brauchte, um ein internationaler Bestseller zu werden? In einer Vorbemerkung notiert Fallada so lakonisch wie ironisch:
"Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 42 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. Etwa ein gutes Drittel dieses Buches spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen war das Sterben sehr im Schwange. Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet."
Was sicher richtig ist. Seltsam nur, dass Fallada in diesem Vorwort eine ganze Reihe Romanfiguren nicht erwähnt: überzeugte Nazis, berechnende, aber auch verängstigte Mitläufer, und natürlich Denunzianten gibt es in dem Buch genug. Im Zentrum freilich steht ein Ehepaar, das gegen Hitler kämpft. - Doch der Reihe nach. Ostberlin, nach dem Zweiten Weltkrieg. Hans Fallada ist 53 und schwer herzkrank, seine Gesundheit durch Alkohol und Morphium zerstört. Da erhält er vom kommunistischen "Kulturbund" einen Stapel Gestapo-Akten. Darin steht die Geschichte des Berliner Ehepaars Hampel, das ab 1940 mit Postkarten und Briefen zum Widerstand gegen Hitler aufrief, und erst zwei Jahre später gefasst und zum Tod verurteilt wurde. Fallada soll über das "vorbildliche" Paar schreiben, im Zug der "demokratischen Erneuerung" Deutschlands.
Er lehnt ab; als innerer Emigrant, der sich mit Unterhaltungsromanen durch die Nazizeit rettete, habe er nicht das Recht, vom Widerstand zu erzählen. Obwohl: Die sogenannten "kleinen Leute" waren immer sein Thema ... Langsam schlägt ihn die Geschichte in Bann. Wie im Rausch schreibt er in vier Wochen fast 900 Manuskriptseiten über das Paar, das er Quangel statt Hampel nennt. Falladas Sohn Uli Ditzen, heute 81, erinnert sich:
"Er stand immer unter dem Diktat des Buches, das er grade schrieb. Das machte sich so bemerkbar, dass er an keinem Tag weniger schreiben durfte als am vorigen. Er musste jeden Tag – ob´s eine Zeile oder ein Absatz war – mehr schreiben als zuvor. Das ist natürlich bei so einem Wälzer wie "Jeder stirbt für sich allein" eine Knute, der man schlecht entgeht. Mein Vater stand morgens um drei oder vier auf, machte sich Kaffee und ging dann an die Arbeit. Um zehn war er meistens mit dem Tagespensum fertig."
Da alle Bücher Falladas so entstanden, wusste die Familie, was nach der Manuskript-Abgabe geschah: Der Autor bekam einen Nervenzusammenbruch.
"Dann fiel er – platsch – in sich zusammen und konnte überhaupt nichts mehr, war irritabel wie ein schlafender Teufel. Man musste furchtbar Rücksicht nehmen auf ihn, dass er wenigstens tagsüber noch etwas zur Ruhe kam ... Was er aber gemacht hat die ganze Zeit: Das Schönste für uns Kinder war, dass er mit uns spazieren gegangen ist."
Wer 30 und mehr Seiten am Tag schreibt, kann nicht an jedem Wort feilen.
"Hat er auch nicht getan. Das ist nicht weithin bekannt, aber ich kann´s Ihnen ja erzählen. Er hat mit der Hand geschrieben, mit dem Füllfederhalter, mit seiner vom Schreibkrampf etwas zittrigen Hand. Und wenn es abgeschlossen war, ließ er eine Sekretärin aus Berlin kommen, die das aufschrieb, nach Diktat. Bei diesem Diktat hat er dann noch Änderungen vorgenommen."
So entstand das Typoskript, das der Erstausgabe des Romans zugrunde liegt – freilich nach entscheidenden Änderungen des Lektors Paul Wiegler.
"Der Text ist ja nicht nur für das Aufbau-Buch entstanden, sondern gleichzeitig für einen Vorabdruck in der 'Berliner Neuen Illustrierten'. Dafür hatte es bereits Gutachten gegeben, die sehr kritisch mit dem Text umgingen. Was dann an Eingriffen während des Lektoratsprozesses geschehen ist, scheint diesen Kritiken Rechnung zu tragen. Nun muss man wissen, bevor man Zensur! schreit, dass man Fallada das angekündigt hat. Man hat von diesen Kritiken berichtet und gesagt, da müsse sicher das eine oder andere bearbeitet werden, was sachlich nicht ganz stimmig war, aber auch was tendenziös nicht passte."
Zum Beispiel Falladas differenzierte Figuren. Bei ihm gibt es nicht nur tumbe, brutale Nazis hier und arme Opfer oder schiere Gutmenschen da, im Gegenteil. Auch die unpolitischen Quangels arrangieren sich zunächst mit Hitler, Hauptsache, man kommt durch. Doch dann fällt ihr Sohn an der Front - und sie beginnen ihren kleinen, aber gefährlichen Widerstand. Otto Quangel überlegt:
"Am Galgen hängen ist auch nicht schlimmer, als von einer Granate zerrissen zu werden oder am Bauchschuss krepieren! Das alles ist nicht wichtig. Was allein wichtig ist, das ist: Ich muss rauskriegen, was das mit dem Hitler ist. Erst schien doch alles gut zu sein, und nun plötzlich ist alles schlimm. Plötzlich sehe ich nur Unterdrückung und Hass und Zwang und Leid, so viel Leid. Wenn nur ein einziger Mensch ungerecht leidet, und ich kann es ändern, und ich tue es nicht, bloß weil ich feige bin und meine Ruhe zu sehr liebe, dann ..."
Und ausgerechnet der Gestapo-treue Kommissar, der sie verfolgt, ändert später seine Einstellung und nimmt sich das Leben. Doch derlei Brüche und Zwischentöne störten die Redakteure und Lektoren wohl. Sie wollten den Text als politisches Lehrstück zur "Volksbildung", mit klarem Gut oder Böse – und die Kommunisten, die darin vorkamen, mussten natürlich Lichtgestalten sein ...
"Er schuf keine Stereotypen, das war nichts für ihn. Das hängt wahrscheinlich auch mit seiner inneren Arbeitsweise zusammen, dass er immer an der Wirklichkeit entlang schrieb. Die meisten Figuren in seinen Büchern, das hat die Forschung inzwischen festgestellt, haben irgendein Vorbild, und sei es auch noch so entfernt. Dieses Vorbild hat er gedanklich so ausgefeilt, dass es einen lebendigen Menschen ergab. Wenn man da die Charaktere verschärfte und Eigenschaftswörter strich, es eben "deutlicher" machte, wie es ja das Bestreben der Kommunisten immer war, die "Frontstellung" klar zu schaffen – dann ist das geschehen, aber ..."
Heute wissen wir, dass Fallada Korrekturfahnen mit den Änderungen des Lektors erhielt – er hätte also protestieren können. Nur war er durch seine Krankheit so schwach, dass es nicht mehr dazu kam. Kurz darauf starb er, noch vor Erscheinen des Buchs.
"All das spielte sich in sehr kurzer Zeit ab, deswegen gab es im Verlag auch kein Gedächtnis, kein Bewusstsein dafür, dass an dem Text etwas verändert wurde. Erst als wir uns durch das aktuelle Interesse im Ausland noch einmal sehr intensiv mit dem Text beschäftigt haben, hat sich herausgestellt: Es ist fast ein ganzes Kapitel entfallen und es ist durch den Text hindurch in klarer Richtung eingegriffen worden."
Dadurch ist aber kein neues, "anderes" Buch entstanden. Darum wäre es auch falsch, die rekonstruierte Urfassung eine "Sensation" zu nennen, was im Literaturbetrieb ja gern und schnell geschieht ... Im Ganzen dürften kaum mehr als 20 Seiten verändert worden sein. Dennoch wirkt der Text nun härter, in manchen Details regelrecht drastisch, auch widersprüchlich – und ist so der Lebenswirklichkeit um 1940 näher als die alte Ausgabe.
Am Ende wird Otto Quangel hingerichtet, seine Frau stirbt im Gefängnis bei einem Bombenangriff. War ihr Handeln vergeblich? Nur dann, wenn man auf das offenkundige Ergebnis schaut: Hitler blieb an der Macht. Fallada aber zeigt sie trotz dieses Scheiterns auch als Sieger: Weil sie nach eigener, freier Entscheidung ihrem Gewissen folgen und die Konsequenzen klaglos tragen. Darum endet das Buch auch mit einem, bei aller Vorsicht, positiven Ausblick.
"Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von neuem über Schmach und Tränen, über Elend und Tod triumphierenden Leben."
Das letzte Kapitel gehört einer der vielen Nebenfiguren des Romans. Der 16-jährige Kuno hat seine schwierige Kindheit und den Krieg überstanden. Gebeutelt ist er allemal, und doch: Er beginnt nun, auf dem Land bei Adoptiveltern, ein neues Leben.
"Kuno sieht auf die Felder rechts und links, prüfend, fachmännisch beurteilt er den Saatenstand. Er hat viel gelernt hier auf dem Lande, und er hat – gottlob! – fast ebenso viel vergessen. Der Hinterhof, nein, an den denkt er fast nie mehr, und auch nicht mehr an einen dreizehnjährigen Kuno-Dieter, der eine Art Räuber war, nein, das alles gibt es nicht mehr. Aber auch die Träume von der Motorenschlosserei sind aufgeschoben, vorläufig genügt es dem Jungen, den Trecker im Dorf bei der Pflügerei trotz seiner Jugend führen zu dürfen. Ja, sie sind schön vorangekommen, der Vater, die Mutter und er. Sie sind nicht mehr von den Verwandten abhängig, sie haben im vorigen Jahr Land bekommen, sie sind selbstständige Leute mit dem Pferd Toni, einer Kuh, einem Schwein, zwei Hammeln und sieben Hühnern. Das Leben macht ihm Spaß, er wird den Hof schon in die Höhe bringen, das tut er!"
Bleibt die Frage nach dem späten Erfolg des Buchs. Ganz lassen sich Bestseller nie erklären, sonst wären sie von Verlagen planbar. Doch so viel ist sicher: Vor der deutsch-deutschen Wende, zumal zur Hochzeit des "Kalten Kriegs", waren Gut und Böse klar verteilt. Die Deutschen vor 1945 waren, wenn sie nicht gerade zur "Weißen Rose" oder zum Stauffenberg-Kreis gehörten, Nazis oder Mitläufer. Jede andere Einschätzung galt als politisch unkorrekt; dass es auch einen Widerstand im Kleinen gab, oft auch von "kleinen" Leuten, wurde nicht gesehen oder wollte nicht gesehen werden. Seit der Wende wird offener diskutiert. Sogenannte "innere Emigranten" gelten nicht mehr von vornherein als feig und auch das Schicksal der Vertriebenen wird neu reflektiert. Da kommen die Neuausgaben von Falladas Roman mit ihren Zwischentönen und gebrochenen Charakteren genau recht. Der Erfolg im Ausland, gerade auch in Israel zeigt, dass die Zeit endlich reif ist für differenzierte Darstellungen, jenseits der Klischees.