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Differenziertes Porträt der Hamas

Seit den Wahlen im vergangenen Jahr ist die islamistische Hamas stärkste politische Kraft in den Palästinensergebieten. Seitdem hat sich die ohnehin verzweifelte Situation der Palästinenser vor allem im Gaza-Streifen weiter verschlechtert. Wohin steuert die Hamas? Der Autor Joseph Croitoru versucht diese Frage zu beantworten.

Von Brigitte Baetz | 11.06.2007
    " Die Hamas hat all die Zeit verstanden, Schwächen der Fatah öffentlich aufzuzeigen. Die Menschen bekamen immer mehr den Eindruck, dass die Hamas sozusagen weniger korrupt sei. Dazu kam natürlich das soziale Netz, das die Hamas jahrzehntelang aufgebaut hat, mit Hilfe von Spendengeldern, mit Hilfe einiger arabischer Staaten. Dieses soziale Sicherheitsnetz hat der Bevölkerung das Gefühl gegeben, dass jemand sich um sie kümmert, während manche Fatah-Funktionäre damit beschäftigt waren, ihre Taschen voll mit Geld zu stopfen."

    Joseph Croitoru wurde in Israel geboren und lebt heute als Journalist in der Nähe von Freiburg. Bekannt geworden ist er 2003 durch eine viel gelobte Studie über die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats. Sein Buch über die Hamas ist die erste wirklich gründliche und differenzierte Auseinandersetzung mit dieser religiös-politischen Bewegung. Anders als die Historikerin Helga Baumgarten, die die Hamas eher als soziale Organisation sieht, glaubt Croitoru nicht, dass diese Bewegung von ihren radikalen Grundsätzen Abschied nehmen wird - mag sie politisch noch so flexibel wirken.

    " Die Hamas denkt in anderen Zeiträumen, so wie die Muslimbrüder in den anderen arabischen Ländern auch. Für die Hamas ist jetzt nicht entscheidend, was in ein oder zwei Jahren passiert, sondern es geht ihr um eine langfristige Veränderung der Gesellschaft, eine Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft. Man muss einfach begreifen, dass hier religiöse Begriffe verwendet werden, und die ganze Denkweise ist ja religiös und zum Teil auch eschatologisch orientiert. Die Hamas ist bestrebt, irgendwann das Gebiet des historischen Palästina zurückzuerobern, und sie sieht es ja auch als Teil der Verbreitung des Islam insgesamt."

    Ausführlich und anschaulich beschreibt Joseph Croitoru in seinem Buch die Wurzeln der Hamas, die in Ägypten zu finden sind, in der 1928 gegründeten Muslim-Bruderschaft des Lehrers Hassan Al-Banna aus Mahmudiya.

    Al-Bannas Vater, von Beruf Uhrmacher, genoss aufgrund seiner umfassenden Kenntnis der religiösen Schriften, die er nicht zuletzt seinen weitverzweigten Kontakten zu ägyptischen und anderen arabischen islamischen Gelehrten verdankte, im Ort hohes Ansehen und betätigte sich nebenbei auch als Moscheeprediger. Er sorgte dafür, dass sein Sohn schon früh Anschluss an einen jener lokalen islamischen Vereine bekam, die damals in Ägyptens Städten wie Pilze aus dem Boden schossen. Diese Organisationen entstanden als Reaktion auf die rasche Modernisierung des Landes, die die französische und später britische Besatzung Ägyptens mit sich gebracht hatte.

    In der Muslimbruderschaft mischte sich islamisch-religiöses Sendungsbewusstsein mit arabisch-nationalistischem Gedankengut. Nach dem Aufstand der Palästinenser gegen Briten und Zionisten in den 30er Jahren dehnten die Muslimbrüder ihre Aktivitäten auf diese Region aus und bauten einen militärischen Zweig auf. In dieser Zeit fand auch der Begriff des Dschihad Eingang in ihre Ideologie. Es galt, Palästina zu verteidigen, als einen integralen Bestandteil der Umma, also der Gemeinschaft aller Muslime:

    Für die Muslimbrüder war der Heilige Krieg in Palästina nicht nur eine religiöse Verpflichtung, sondern auch ein unausweichliches, in den Schriften bereits vorausgesagtes Ereignis, das eine neue Ära der islamischen Geschichte einleiten sollte. In der Überzeugung, Gott auf ihrer Seite zu haben, beriefen sie sich auf eine Aussage des Propheten Muhammad, die im Hadith, den überlieferten Aussprüchen und Taten des Religionsstifters, dokumentiert ist: 'Eine Gruppe meiner 'umma' wird übrig bleiben, um das zu bewahren, was recht ist und um ihren Feind zu besiegen. (...) Da fragten die Leute: Und wo sind diese Menschen, oh Gesandter Gottes? Er antwortete: In Jerusalem und seiner Umgebung'.

    Diese religiös motivierte Grundhaltung ist, so Joseph Croitoru, das wesentliche Merkmal der Hamas, die aus der palästinensischen Muslimbruderschaft hervorging. Ihr Name ist ein Akronym und bedeutet "Islamische Widerstandsbewegung". Lange Zeit wurde sie von Israel sogar toleriert - als willkommene Konkurrenz zur säkularen Fatah.

    " Die Hamas entstand 1987 mit dem Ausbruch der palästinensischen Intifada. Es sind im Grunde Menschen aus der bürgerlichen Unterschicht, die darauf bedacht sind, zwar den Islam wieder in der Gesellschaft hoffähig zu machen und die Gesellschaft zu islamisieren, gleichzeitig aber streben sie eine Modernisierung der Gesellschaft an, und es ist deshalb kein Zufall, dass diese Leute vor allem aus dem technischen Bereich kommen, also, das heißt: moderner Fortschrittsglaube und islamische Gesinnung werden miteinander verbunden."

    Die Charta der Hamas ist, schreibt Croitoru, in Konkurrenz zur Charta der PLO entstanden, die die Anerkennung Israels in Betracht zog. Dem stellten die Islamisten ihren Kurs der Ablehnung des jüdischen Staates ohne Wenn und Aber entgegen - arabischer Boden dürfe niemals Ungläubigen überlassen werden. Ausführlich beschreibt der Autor das politische Personal der Hamas, ihren politischen Pragmatismus, wenn es darum geht, konkrete Ziele zu erreichen, und ihr Engagement im sozialen Bereich. Doch all das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, meint Croitoru, dass die Hamas nicht bereit ist, ihre radikal ablehnende Haltung gegenüber Israel aufzugeben. Er begründet das mit dem Wahlkampf der Hamas und ihrer radikalen Rhetorik, wie sie unter anderem in der Zeitschrift ihrer Aktivisten "Minbar al-Islah" nachzulesen ist. Croitorus Argumentation ist allerdings nicht völlig überzeugend, denn zur Mobilisierung ihrer Anhänger gebrauchen alle Parteien dieser Welt eine zugespitzte Sprache. Croitoru blendet zudem aus, dass sich eine Religion, die sich auf verschiedenen Ebenen der Moderne öffnet, sich auch politisch weiterentwickeln kann. Deshalb müssen Croitorus Warnungen aber nicht falsch sein. Sie schmälern auch nicht seine Verdienste als Autor dieses empfehlenswerten Buches, das jeder, der sich mit dem Nahen Osten auseinandersetzen will, lesen sollte. Was die Hamas für die weitere Entwicklung dieser instabilen Region bedeutet, ist kaum vorherzusagen. Croitoru jedenfalls setzt auf einen vorsichtigen Wandel durch Dialog - aus Pragmatismus.

    Joseph Croitoru: Hamas. Der islamische Kampf um Palästina
    C.H. Beck. München 2007
    254 Seiten. 19,90 Euro.