Im Januar 2014 veröffentlichte der Google-Mutterkonzern Alphabet in seinem Blog erstmals Details seines Forschungsprojektes zur Entwicklung smarter Kontaktlinsen für Diabetiker:
"Sie wissen wahrscheinlich, dass Diabetes ein großes und wachsendes Problem ist, von dem jeder 19. Mensch auf dem Planeten betroffen ist. Aber sie kennen vielleicht nicht den täglichen Kampf, den viele Diabetiker führen, um ihren Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Überhöhte Zuckerwerte können eine Reihe gefährlicher Folgen haben, einige kurzfristig und andere längerfristig, einschließlich Schäden an Augen, Nieren und Herz."
Weitere Beiträge unserer Reihe "Tolle Idee – was wurde daraus?"
In Alphabets Forschungsabteilung Google X sollte deshalb eine tolle Idee Wirklichkeit werden: Zuckerkranke sollten mithilfe einer speziellen Kontaktlinse kontinuierlich ihren Blutzuckerspiegel überwachen können – ohne sich dafür in den Finger pieksen zu müssen.
Zucker in der Tränenflüssigkeit
Weiter heißt es im Blog: "Bei Google X haben wir uns gefragt, ob miniaturisierte Elektronik – also winzige Chips und Sensoren, die dünner als ein menschliches Haar sind – ein Weg sein könnte, den Glukosegehalt der Tränenflüssigkeit präzise zu messen."
Die Idee ist einfach: In einer weichen Kontaktlinse eingebettet ist ein Glukosesensor samt Elektronik und Antenne. Ruben Rosencrantz, Forschungsbereichsleiter vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP in Potsdam, der an dem Projekt nicht beteiligt war, erklärt das Messprinzip, bei dem ein Enzym in der Tränenflüssigkeit eine Schlüsselrolle spielt.
"Also man hat ein Enzym, was die Glukose, also den Traubenzucker, den Zucker umsetzt, und dabei wird quasi eine Art Strom freigesetzt. Und dieser Strom wird amperometrisch, also die Stromstärke wird dann gemessen und da wird eine Korrelation zu dem Zuckergehalt festgestellt."
Eine weiche Kontaktlinse mit integriertem Sensor und Sender
Die Daten werden über die Antenne per Funk an ein Gerät weitergeleitet und das Ergebnis – der aus dem Glukosespiegel im Auge errechnete Blutzuckerwert – angezeigt. Diabetiker müssten sich also nicht mehr täglich die Fingerkuppen blutig stechen. Ein weiterer Vorteil der smarten Kontaktlinse: Weil der Blutzuckerspiegel regelmäßig gemessen wird, warnt das System schnell vor einem zu niedrigen oder zu hohen Wert, was Spätfolgen einer Diabetes-Erkrankung abmildern könnte. Ruben Rosencrantz ist von der Idee angetan.
"Also, ich persönlich als Diabetiker finde es super. Gerade für Diabetiker ist eine kontinuierliche Blutzuckerkontrolle oder in dem Fall, wäre es jetzt nicht Blutzucker, sondern Tränenflüssigkeits-Zucker, der natürlich dann umgerechnet werden würde, ist es sehr gut."
2014 startete Google X eine Partnerschaft mit dem Unternehmen Alcon, einer Sparte des Schweizer Pharmakonzerns Novartis, das die Kontaktlinsen in Serie herstellen wollte. Mehrere Prototypen wurden entwickelt. 2015 wurde Verily, die medizinische Abteilung von Google X, in ein eigenes Unternehmen ausgegliedert. Im Rahmen der Kooperation wurden Methoden entwickelt, um drahtlose Elektronik und miniaturisierte Sensoren in eine Kontaktlinse zu integrieren. Tausende von Linsen in verschiedenen Formen wurden hergestellt, klinische Studien durchgeführt und hunderttausende Datenpunkte aus Messungen direkt am Auge gesammelt.
Probleme in der Umrechnung
Doch die smarte Linse kam nie auf den Markt. 2018, vier Jahre nach dem offiziellen Start, wurde das Projekt auf Eis gelegt. Zur Begründung schrieb der Technische Leiter Brian Otis damals auf dem Unternehmensblog von Verily: "Unsere klinische Arbeit an der Glukose-Sensorlinse hat gezeigt, dass unsere Messungen der Korrelation zwischen Tränenglukose- und Blutzuckerkonzentration nicht konsistent genug waren, um die Anforderungen an ein Medizinprodukt zu erfüllen. […] Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir gemeinsam mit Alcon beschlossen haben, die Arbeit an Glukose-Sensorlinsen zurückzustellen."
Die individuell ganz unterschiedliche Zusammensetzung der Tränenflüssigkeit habe es erschwert, die geringen Glukosekonzentrationen mit verlässlicher Präzision zu bestimmen, hieß es weiter. Zudem sei es im Auge schwierig, die nötigen stabilen Bedingungen für eine zuverlässige Messung zu schaffen.
Weitere Details waren leider nicht zu erfahren. Mehrere Interviewanfragen des Deutschlandfunks an Verily blieben unbeantwortet.
Messergebnis muss absolut sicher sein
Ruben Rosencrantz hat das Projekt von Beginn an verfolgt und war überrascht von dem abrupten Ende: "Was ich auch aus Publikationen und Studien entnommen habe, ist ein Problem, dass es nicht hundertprozentig gesichert ist, dass oder wie schnell der Zuckergehalt in der Tränenflüssigkeit mit dem Blutzucker korreliert. Und bei solchen Messungen muss man natürlich absolut sicher sein, dass, wenn ich eine Erhöhung des Pegels in der Tränenflüssigkeit messe, dass das auch wirklich auf das System Körper, ja auf den Blutzucker, zurückzuführen ist."
Der Fraunhofer-Wissenschaftler hatte selbst vor einigen Jahren ein ähnliches Konzept wie Verily verfolgt. "Wir hatten fast mehr oder weniger zeitgleich ein Projekt, wo es tatsächlich darum ging, den Zuckergehalt in Tränenflüssigkeit mit Hilfe einer Kontaktlinse zu messen. Allerdings nicht so, nennen wir es mal, komplex, wie es Google gemacht hat, sondern quasi einfach nur ein An-Aus-Signal, sprich überzuckert: ja oder nein?
Das war ein sehr kurzes Projekt, es lief nur ein Jahr, war so eine Art Proof-of-Concept-Projekt, was wir hatten. Wir hatten erste schöne Ergebnisse in der Laborumgebung. Aber der Schritt zur Kontaktlinse dann ist da noch nicht gelungen. Also vielleicht wird das dann ein neues Projekt in den nächsten Jahren." Ob smarte Kontaktlinsen mit eingebautem Zuckersensor Diabetikern also jemals helfen werden, ihren Zuckerspiegel zu kontrollieren, ist derzeit völlig ungewiss.