Marietta Schwarz: Hate Speech, Wahlkampf mit Hilfe von Algorithmen und die Verbreitung von Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Lügen in den sozialen Medien - die jüngsten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen geben Grund zur Sorge - auch was den Einfluss des Internets betrifft. Ganz aktuell: die CIA-Berichte, nach denen russische Hacker Hillary Clinton im Wahlkampf geschadet haben sollen. Das Netz scheint denjenigen politischen Kräften Vorschub zu leisten, die demokratische Grundwerte in Frage stellen. Dirk Baecker ist Soziologe und Kulturtheoretiker mit Professur in Witten/Herdecke und einigen bekannt als Autor des Buches "Die nächste Gesellschaft". Und er hat stets die Stimme gegen die Internet-Skeptiker erhoben, die die Mechanismen des Mediums in Frage stellen. Guten Tag, Herr Baecker!
Dirk Baecker: Hallo, Frau Schwarz!
Schwarz: Wie blicken Sie denn auf dieses politisch sehr aufragende Jahr zurück aus Perspektive des Kulturtheoretikers? Sind Sie immer noch gelassen?
Internet als Verlängerung von Stammtisch-Gerede
Baecker: Nein, ich bin natürlich überhaupt nicht gelassen. Und ich glaube auch nicht, dass ich die Stimme gegen die Skeptiker erheben würde. Im Gegenteil, ich bin selbst ein Skeptiker, aber ich bin kein Pessimist. Das heißt, ich versuche das Netz unter den Bedingungen verschiedener neuer Strömungen, unter anderem all das, was man unter postfaktischen News, Aufregungen verbuchen kann, zu beobachten. Aber auch zu schauen, welche Gegenbewegungen es dazu gibt.
Und was ich vielleicht am wichtigsten finde, bei all dem, was im Moment an Aufregung generiert wird, ist, dass doch auch viele Leute sagen: Wir schalten uns wieder aus, wir gehen in eine andere, in eine Offline-Welt, wir versuchen uns von den Aufregungen abzuschotten, wir versuchen eine Basis für unsere Informationen zu finden, die eine andere ist - Tageszeitungen, Rundfunk, Fernsehen -, so dass man eine neue Balance zu finden versucht. Und das halte ich für eine relativ gesunde Gegenbewegung.
Schwarz: Aber wir können uns natürlich nicht vollständig abschalten. Das Internet ist ja gegenwärtiger denn je. Wir tragen es permanent mit uns herum und sind in Verbindung mit der weiten Welt.
Baecker: Ich glaube, was wir lernen müssen, ist, zwischen Online- und Offline-Aktivitäten, zwischen Online- und Offline-Informationen zu unterscheiden. Und einen Soziologen überrascht es nicht, wenn dieser Lernprozess durchaus mal fünf oder zehn Jahre dauern wird. Die zum Teil festzustellende Hysterisierung oder auch zum Teil die enormen Aufschaukelungseffekte, die man in den Online-Medien hat, die sind uns bisher nicht vertraut, obwohl uns die Tonfälle, die dort vorherrschen - die Hass-Tonfälle, die Verurteilungen von Politikern, von Stammtischgesprächen - ja durchaus vertraut sind. Man kann ja sagen, dass das, was im Internet gegenwärtig passiert, so eine Art Verlängerung und Veröffentlichung von Stammtisch-Gerede ist. Wir haben mit Stammtischen gelernt uns abzufinden, indem wir sagen: Na ja, in Kneipen und unterstützt durch Alkohol ist all das durchaus möglich. Wir werden es auch lernen, mit den äußerst unerfreulichen Kommentaren in der Blog-Welt fertigzuwerden.
Überschätzung der Individualität
Schwarz: Das Postfaktische ist das eine - die Vereinfachung. Dann gab es in der vergangenen Woche noch eine andere Geschichte, die die Netzgemeinde sehr bewegt hat, nämlich die des Computerwissenschaftlers, der ein System entwickelt haben soll, mit dem man sehr genaue Persönlichkeitsprofile anhand unserer Facebook-Likes erstellen kann, und der sich dann plötzlich verantwortlich fühlte für den Ausgang des US-Wahlkampfs. Sehen Sie das auch, dass Algorithmen uns manipulieren?
Baecker: Ich sehe das ganz genau so. Und es ist tatsächlich ja auch verblüffend, mit wie wenigen sogenannten Traits, also persönlichen Eigenschaften, wir durchschaubar werden. Als Soziologe muss man wieder sagen: Also so verblüffend ist es wiederum auch nicht. Wir haben in der modernen Gesellschaft, das heißt, in den letzten 200 bis 300 Jahren haben wir gelernt, unsere Individualität zu überschätzen. Wenn wir uns anschauen, wie wir uns kleiden, wenn wir uns anschauen, welche Meinungen wir haben, wenn wir uns anschauen, wie wir uns benehmen, dann haben wir untereinander doch wesentlich mehr Ähnlichkeiten, sogar Gleichheiten, als wir das glauben. Die Computer legen das schlicht und ergreifend offen. Die Algorithmen, die Protokolle, die auf unser Verhalten schauen, sagen uns: Was du glaubst, individuell zu tun, tun Tausende und Zehntausende andere auch. Diese Art des gleichsam Berechenbar-Werdens. Und man schätzt in der Computerwissenschaft, dass wir zu circa 40 Prozent unseres Verhaltens tatsächlich berechenbar sind - bleiben 60 Prozent Freiheit, wenn man so möchte...
Schwarz: Das ist immer noch viel, meinen Sie?
"Ich glaube nicht, dass wir so einfach zu manipulieren sind"
Baecker: ...immer noch viel, ja! Diese Art von Berechenbarkeit ist die eine Seite. Und dieser Artikel, den Sie gerade zitieren aus dem Schweizer Magazin macht das ja auch sehr deutlich. Die andere Frage ist: Wie kommt man denn auf die Idee, dass diese Berechenbarkeit uns auch manipulierbar macht? Die eigentliche These, die der Artikel vorträgt, aber die er nicht belegt, ist, dass aufgrund der Vorhersehbarkeit dann auch mit gezielten Informationen, vor allem gezielten Fehl-Informationen, das Verhalten in neue Bahnen gelenkt werden kann. Und da bin ich sehr, sehr skeptisch. Ich glaube nicht, dass wir so einfach zu manipulieren sind. Ich glaube, dass wir sicherlich vielen Dingen aufsitzen, die wir gerne glauben wollen. Aber wir sind auch als Menschen grundsätzlich misstrauisch. Und wenn wir merken, wir werden an der Nase herumgeführt, dann haben wir auch unsere eigenen Fähigkeiten, uns wieder auszuschalten und sozusagen auf Ignoranz zu schalten und zu sagen: Ich lasse mich nicht so einfach manipulieren.
Schwarz: Das finde ich jetzt sehr optimistisch. Herr Baecker, Ihr Lehrer, Niklas Luhmann, der sprach ja schon davon, dass die Autorität der Quelle im Computerzeitalter entbehrlich wird, auch die Autorität der Experten. Brauchen wir denn heute nicht mehr denn je Experten und sichere Quellennachweise?
Fasziniert von den tiefen Welten des Internets
Baecker: Ja, das brauchen wir alles. Aber wir brauchen es alles im Kontext von Dynamiken, die nicht unbedingt etwas mit Quellen, sondern mit Interesse, mit Retweets - also der Aufnahme von Informationen und der Weitergabe von Informationen - zu tun haben. Mein Lehrer Niklas Luhmann hat auch sehr schön gesagt: Was uns im Moment am meisten interessieren sollte, ist die Faszination des Bildschirms, des Displays als solchem. Denn, wie er meinte, das hat ja eigentlich nur einen einzigen Vergleich, wenn man sich frühere Zeiten anschaut: Als wir noch religiös gestimmt waren - und wir sind ja wieder mehr religiös als je zuvor - da hatten wir auch so den Eindruck, eine Oberflächenwelt zu haben - den Priester, der uns die Sakramente spendet, die Kirche - die dahinter noch auf eine verborgene, eine tiefe, eine göttliche Welt verweist.
Und Luhmann meinte: Na ja, ist der Bildschirm, der die Oberfläche präsentiert und der unsichtbare Computer, die unsichtbaren Netzwerke der Computer, die unsichtbaren Algorithmen dahinter, nicht von einer ähnlichen Oberflächen-Tiefenstruktur? Und müssen wir uns deswegen nicht anschauen, ob vieles von dem, was wir tun - vernünftig und unvernünftig, fehlinformiert und richtig informiert - einfach etwas damit zu tun hat, dass wir fasziniert sind von diesen tiefen Welten, diesen tiefen unsichtbaren Welten des Internets und von daher auf dem Bildschirm herumwischen und scrollen und kleine Eingaben geben und wieder schauen, was daraus entstanden ist. Einfach um zu verstehen: Womit haben wir es zu tun? Was macht diese Welt aus uns? Und was können wir eventuell in dieser Welt noch anrichten?
Die vier Medienkatastrophen
Schwarz: Die Erfindung des Internets wird ja auch von Ihnen immer wieder verglichen mit der Einführung des Buchdrucks, Schrift, Sprache, später dann Telefon, Radio, also elektronischen Medien. Das haben wir ja alle ganz gut weggesteckt. Aber fordert uns diese Digitalisierung am Ende vielleicht doch ein bisschen mehr heraus, als frühere technische Revolutionen?
Baecker: Das kommt ein bisschen darauf an, wie man schaut. Also der Blick des Soziologen ist insofern interessant, als er schon bei der Sprache und dann erst recht bei der Schrift und beim Buchdruck nicht unbedingt davon gesprochen hat, dass jetzt alles einfacher wird. So nach dem Motto: Bisher habe ich die Hände und die Füße verwenden müssen, um dir etwas klar zu machen, jetzt kann ich ein Wort aussprechen. Wie einfach ist das denn? Oder: Bisher musste ich hinlaufen zu dir, um dir etwas zu sagen, jetzt kann ich dir einen Brief schreiben und so weiter und so fort. Ökonomen würden ja sagen: Die Transaktionskosten der Kommunikation sinken mit jedem neuen Medium. Es wird immer günstiger, immer schneller, immer leichter. Soziologen sagen das Gegenteil, sie sagen nämlich: Naja, mich mit dir mit Händen und Füßen zu verständigen, ist ja relativ evident. Ich weiß, was du von mir willst, ich kann dir zeigen, was ich von dir will.
Wenn ich jetzt plötzlich anfange zu reden und auch du anfängst zu reden, dann haben wir es mit einem ganz neuen, einem dramatischen Problem zu tun, nämlich immer herauszufinden: Was meinst du mit den Worten, die du gerade aussprichst? Was soll das heißen, Liebe? Was soll das heißen, Gott? Was soll das heißen, Macht? Es ist ja nicht so, als ob wir jeweils wüssten, was dahinter steckt. Von daher reden wir von vier Medienkatastrophen: dem Einbruch der Sprache, dem Einbruch der Schrift, dem Einbruch des Buchdrucks und jetzt dem Einbruch der digitalen Medien und sagen: Letztlich haben wir es jeweils mit dramatischen Überforderungen der alten, der bewährten Strukturen von Gesellschaft zu tun. Und jeweils haben wir es mit Jahrzehnten, zuweilen auch mit Jahrhunderten der Eingewöhnung auf die neuen Strukturen mit einer neuen Kultur der Gesellschaft zu tun.
Schwarz: Der Kulturtheoretiker Dirk Baecker über Internet, Skeptizismus auch im Jahre 2016. Herr Baecker, vielen Dank für dieses Gespräch.
Baecker: Ich danke Ihnen, Frau Schwarz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.