Philipp May: Endspurt im Weihnachtsgeschäft. Darauf hoffen die deutschen Einzelhändler. Wenn das Wetter mitspielt, wäre das optimal. Dann könnte es in den Geschäften noch einmal richtig brummen, sagte der Präsident des Einzelhandelverbandes (HDE), Josef Sanktjohanser. Und wenn nicht, dann könnten noch mehr Menschen bequem von zuhause aus bestellen, anstatt sich noch einmal in den Weihnachtstrubel zu stürzen. Pro Jahr werden mittlerweile 3,2 Milliarden Pakete quer durch Deutschland transportiert. Der Transporter, der in zweiter Reihe parkt, gehört ja mittlerweile fast überall zum Stadtbild dazu. Experten schätzen, dass rund ein Drittel aller Geschäfte des Einzelhandels durch Amazon und Co. von der Schließung bedroht sind.
Alexander Graf ist Autor des Fachbuches "E-Commerce" und berät mit seiner Firma Spryker Unternehmen bei der Digitalisierung. Schönen guten Morgen!
Alexander Graf: Guten Morgen, Herr May.
May: Herr Graf, haben Sie schon alle Weihnachtsgeschenke gekauft?
Graf: Ja, das habe ich.
May: Und alle online?
Graf: Nicht alle online. Meine Frau und ich, wir schenken uns nichts, und für die Kinder ist es teilweise online, teilweise gesammelte spannende Geschenke über das Jahr und auch teilweise stationär.
May: Das heißt, selbst wenn Sie noch nicht alles online kaufen, der stationäre Einzelhandel, der hat eine Überlebenschance?
Graf: Das kommt darauf an, welchen Teil vom stationären Einzelhandel man nimmt und betrachtet. In meinem Fall hätte er keine Chance, wenn es um geplante Einkäufe eingeht. Er müsste immer dort sein, wo ich auch bin, und ich kaufe nicht in der Innenstadt ein. Wenn, dann ist es tatsächlich mal am Flughafen oder mal auf dem Weihnachtsmarkt, immer dort, wo es eventgetrieben ist, wo ich beruflich sein muss oder auch privat sein möchte. Und das ist in der Regel nicht die Einkaufsstraße in der Innenstadt.
Keine Zukunft für große Kaufhäuser?
May: Das heißt, Läden wie zum Beispiel Kaufhof, die wird es in zehn Jahren nicht mehr geben?
Graf: Ich glaube, das Geschäftsmodell Handel, so wie es Kaufhof betreibt und auch wie es ein Karstadt betreibt und auch viele andere Händler, die werden es extrem schwer haben, weil die Handelsmarge, die man offline braucht, um zu überleben, sehr, sehr hoch ist im Vergleich zu der Marge, die man als Online-Geschäftsmodell braucht, insbesondere die Marktplätze brauchen, und das wird diesem Geschäftsmodell sehr, sehr schwerfallen. Ich kann mir persönlich nur sehr schwer vorstellen, dass wir in Zukunft noch große Kaufhäuser sehen werden.
"Wo Leute wirklich gerne hinfahren"
May: Wer wird dann letztendlich überleben? Die Weihnachtsmärkte, habe ich rausgehört. Aber wer noch?
Graf: Wenn wir uns stationäre Konzepte angucken, dann sind es immer dann Konzepte, in denen sehr viel Engagement passiert, wo Leute auch wirklich gerne hinfahren. Das sieht man ja auf sehr, sehr vollen Weihnachtsmärkten. Das sieht man auf jedem Event-Bauernhof. Überall dort, wo es was Spannendes für die Kinder gibt, wo die Familie hinfahren kann, da fahren die Leute auch gerne hin und treffen sich gerne mit anderen Leuten. Wenn man das verknüpfen kann mit dem Verkauf oder mit dem Angebot an Ware, ich glaube, das wird es auf jeden Fall geben. Das wird es auch für bestimmte Produktkategorien eine lange Zeit noch geben wie im Bereich Lebensmittel. Zumindest sehen wir das in Deutschland sehr, sehr stark so. In anderen Bereichen ist es schon sehr, sehr stark online abgewandert. Das ist das Thema Konsumelektronik, Smartphone-Zubehör, teilweise auch Fashion. Das wird auch schon sehr, sehr stark online gehandelt, und da wird es dann sehr, sehr schwer.
May: Der kleine Tante Emma Spielzeugladen mit einem bestimmten Sortiment, der wird es auch schwer haben?
Graf: Der kleine Tante Emma Spielzeugladen, der wurde in den letzten zwei, drei Jahrzehnten ja schon stark bedroht von den großen Spielzeugketten.
May: Die gehen jetzt auch schon Pleite?
Graf: Das stimmt. So hat ja Thalia auch den kleinen unabhängigen Buchladen oder Hugendubel oder andere stationäre Franchise-Konzepte haben ja diese kleinen selbständigen Läden schon verdrängt, vor dem Internet. Und dass es überhaupt noch den selbständigen Spielzeugladen gibt, das ist wahrscheinlich dem Einfallsreichtum des entsprechenden Händlers zu verdanken, dass er sich auch im Zeitalter von MyToys, Toys"R"Us und Co. überhaupt noch halten konnte. Kann schon sein, dass es die Leute noch gibt, aber ob die auch mit Handelsumsatz Geld verdienen in Zukunft, das ist weiterhin fraglich.
Händler könnten in Zukunft mit Events Geld verdienen
May: Womit verdienen die dann ihr Geld? – Mit Event, Vorlesungen und so was.
Graf: Grundsätzlich können das Events sein. Das kann was Banales sein wie die Übernachtung von Kindern im Spielzeugladen bis hin zum Trampolino-Betrieb, Event-Flächen, die dann an den Spielzeugladen angeschlossen sind, und dann nimmt man vielleicht noch mal das Spielzeug für Zuhause am besten mit. Das kann auch Service sein. Das kann auch Training sein: Wie baut man sich einen Drachen, wie baut man sich vielleicht ein Klettergerüst. Das können verschiedenste Sachen sein. Aber mit dem Kauf und Weiterverkauf von Lego und Playmobil, ich glaube, damit allein wird es schwer.
"Einkaufsstraßen haben heute schon ein massives Problem"
May: Wird es dann noch die klassische Einkaufsstraße geben? Oder anders gefragt: Veröden unsere Innenstädte?
Graf: Die Innenstädte, wenn wir uns mal relativ austauschbare Innenstädte anschauen und Einkaufsstraßen anschauen, haben ja heute schon ein massives Problem. Richtig attraktiv ist das eigentlich so ja schon nicht. Was man noch nicht sagen ist: Was passiert, wenn die Handelsflächen dort massiv zurückgehen? Man kann sich jetzt kleinere Städte anschauen und da gibt es ja eine ganze Menge. Da muss man mal 50 Kilometer weiter wegfahren von einer Großstadt. In diesen kleineren Städten – ich wohne in Norddeutschland in Kiel. Wenn ich da jetzt nach Rendsburg fahre oder nach Neumünster, dann sieht man schon eine massive Flächenbereinigung. Alle kleinen Nebenstraßen, alles, was früher mal Geschäftslagen waren, das ist mittlerweile Wohnlage, teilweise auch Büroflächen, Atelier-Fläche, teilweise auch Cafés, wenn es irgendwie spannend gelegen ist, an einem See oder an einem Marktplatz. Das ist auch etwas, was größeren Städten momentan blüht. Das wird auch überall bestätigt. Auch so eine Stadt wie Hamburg oder München oder Berlin: Wenn man da nicht in einer Top A-Lage ist, dann fehlt einfach der Traffic von den Fußgängern, der Traffic von den einkaufswilligen Menschen, und dann wird es ganz, ganz, ganz, ganz schwer zu überleben. Deswegen würde ich erst mal sagen, gibt es eine Art Flächenbereinigung in den Nebenlagen und in den kleineren Städten. Da sehen wir aber auch schon in den Hauptlagen in den ehemaligen Einkaufsstraßen eine ganz, ganz starke Bereinigung. Wird es deswegen keine Ware mehr in der Innenstadt geben? – Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich werden wir schon noch Ware in der Innenstadt sehen, aber die wird dann nicht mehr refinanziert durch das Handelskonzept.
"Ein Großteil des Marktwachstums liegt bei Amazon"
May: Und am Ende kaufen alle alles nur noch über Amazon?
Graf: Momentan ist Amazon zumindest derjenige Anbieter, der den meisten Umsatz abgreift. Im E-Commerce rechnet man momentan damit, dass Amazon von jedem Euro Mehrumsatz, der in Deutschland getätigt wird im Online-Handel, einen Betrag von 50 bis 70 Cent mitnehmen wird. Das komplette Marktwachstum oder ein Großteil des Marktwachstums liegt momentan bei Amazon. Das ist auch in anderen Ländern teilweise so. Teilweise liegt aber auch das Umsatzwachstum aufgrund der schlechten statistischen Erhebungen schon im Ausland. Sehr, sehr viele von uns kaufen schon auf Plattformen wie tmall.com ein oder jd.com ein oder angehörigen Plattformen der Alibaba- und Tencent-Töchter. Das fließt in die Erhebungen gar nicht mehr mit ein. Das sieht man in der Schweiz sehr, sehr stark. Da kann man das über den Import besser messen. Ob das dann alles am Ende des Tages Amazon ist, das vermag noch keiner so richtig zu sagen. Aber einen Großteil der normalen Güter, die ich für meinen täglichen Bedarf so brauche, den werden wir schon über Online-Anbieter bestellen oder über Portale, die online sehr dominant sind. Ob das Amazon sein muss am Ende des Tages, das ist noch nicht raus.
May: Herr Graf, Sie haben es schon angesprochen oder gezeigt, wohin die Reise geht. Es ist ja auch praktisch mit dem Bestellen. Man lässt sich zum Beispiel Klamotten in mehreren Größen ins Haus zum Anprobieren liefern und das, was nicht passt oder was nicht gefällt, das wird dann meistens von einem osteuropäischen Paketfahrer, der 16 Stunden täglich zum halben Mindestlohn arbeitet, kostenlos wieder mitgenommen. Das ist aus Kundensicht natürlich unschlagbar. Aber ist es auch redlich?
"Ökologisch ist das momentan ein bisschen ein Streitfall"
Graf: Das kommt darauf an, wen man da fragt. Fragen Sie den osteuropäischen Paketfahrer, dann freut der sich wahrscheinlich generell, überhaupt diese Arbeit zu haben. Fragen Sie denjenigen, der möglicherweise noch aus dem Beamtentarif kommt bei DHL, dann ist der wahrscheinlich nicht so richtig erfreut über dieses ganze Thema. Ich glaube, das darf man nicht ganz so schwarz-weiß sehen. A haben wir für relativ viele Sortimente gar nicht diese hohen Retourenquoten, über die gerne auch in den Tageszeitungen spekuliert wird. Das ist ja im Bereich Fashion oft der Fall. Im Bereich Elektronik, Möbel, Zubehör haben wir das ja gar nicht so.
May: Aber dass der Anteil von Paketen, die hin und hergefahren werden, rapide wächst, das ist ja Fakt.
Graf: Das stimmt! Fairerweise muss man sagen, dass es ja relativ effizient ist, wenn das Auto mit vielen Paketen in eine Richtung fährt, dass es dann auch voll mit anderen Paketen in die andere Richtung fährt. Das verursacht ja keine zusätzlichen Fahrten. Ob das jetzt umweltschädlich ist, ob das jetzt ökonomisch und ökologisch korrekt ist, da sind relativ viele Variablen, die man betrachten muss. Ökologisch ist das momentan ein bisschen ein Streitfall, weil es wahrscheinlich effizienter ist, wenn ein Kunde nicht in zehn verschiedene Läden selber fährt, sondern ein Lieferdienst zehn verschiedene Kunden aus einem Laden heraus anfährt oder aus einem Lager heraus anfährt. Aber diese Diskussion ist extrem schwer in Schwarz-Weiß zu unterscheiden. Dass es momentan Gewinner und Verlierer gibt in diesem ganzen Spiel und in dieser ganzen Handelserosion, das ist, glaube ich, klar. Man kann es schon sehen auch an den Einkommenssituationen der Logistikfahrer. Man sieht es aber auch daran, dass sehr, sehr viele onlineorientierte Unternehmen, die große Lagerkapazitäten betreiben und auch ausbauen und weiterbauen müssen, dass die momentan gar nicht so einfach wachsen können, weil die in den Standorten, wo sie ihre Läger haben und Logistikkapazitäten aufbauen wollen, gar keine Leute mehr finden.
"Noch ein Zehntel der Mitarbeiter"
May: Wundert einen ja nicht, wenn man sich teilweise Berichte anhört. Das sind ja Leute, die den Krempel dann im Lager zusammensuchen. Die müssen teilweise 20 Kilometer pro Tag zurücklegen, sind auch deutlich schlechter bezahlt als zum Beispiel eine Bedienung bei Kaufhof und so weiter. Sind Amazon und Co. nicht auch deswegen unschlagbar, weil sie dank Digitalisierung die Menschen einfach effektiver ausbeuten können?
Graf: Ich bin mir nicht sicher, ob man das auf das Thema Ausbeutung zurückführen kann. Was man schon sieht ist, dass Online-Unternehmen, wenn sie denn entsprechend gemanagt und skaliert werden, mit deutlich weniger Mitarbeitern auskommen, um den gleichen Umsatz zu erwirtschaften. Wir reden hier von dem Faktor 10 bis 20. Man braucht, um eine Million Umsatz zu erreichen, dann vielleicht noch ein Zehntel der Mitarbeiter. Dass das teilweise prekäre Jobs sind, das steht, glaube ich, außerhalb der Diskussion.
"Amazon und Co. mit der bestehenden Gesetzeslage zu regulieren, wird sehr schwer"
May: Muss man dem nicht irgendwie Einhalt gebieten, auch politisch?
Graf: Das ist die Frage, die die Politik ein bisschen beantworten muss. Ich glaube, wenn man sich die Diskussion online anschaut, wenn man sich die Diskussion auch in den Medien anschaut, dann gibt es dort zwei sehr, sehr stark polarisierende Lager. Ein Lager sagt, das ist der Fortschritt; das andere Lager sagt, da gibt es zu viele Leute, die am Ende des Tages draufzahlen müssen. Ich glaube, wo man auf jeden Fall politisch regeln muss ist, wenn es Unfairness gibt und einzelne Akteure sich dort nicht mehr wehren können. Das fängt bei den Arbeitern an, das können aber auch einzelne Handelsformate sein, die am Ende des Tages unter die Räder geraten. Da muss dann die Politik eingreifen. Aber ich glaube, die tut sich da momentan extrem schwer, weil alles, was diese neuen Konzepte machen, ja sehr stark auf Endkunden ausgerichtet ist. Unsere Gesetze und unsere Gesetzgebung ist am Ende des Tages dafür gemacht, dass der Endkunde immer besser dastehen kann als vorher. Es wird extrem schwer, Unternehmen zu bestrafen, wenn sie am Ende des Tages einen besseren Job für den Endkunden abliefern.
May: Das heißt, Amazon und Co. haben zu viel Macht?
Graf: Das würde ich so nicht sagen. Aber Amazon und Co. mit der bestehenden Gesetzeslage zu regulieren, wird sehr, sehr schwer.
May: … sagt Alexander Graf, Buchautor, Experte für Internethandel, neudeutsch E-Commerce, der mit seiner Firma Spryker Unternehmen bei der Digitalisierung hilft. Herr Graf, vielen Dank für das Gespräch.
Graf: Vielen Dank.
May: Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.