"These systems have been designed with intricacy, so companies can keep our attention indefinitely. I don’t want to keep crushing these freakin’ candies, I don’t want…"
Ein Aufklärungsvideo, mehr als eine Million Mal bei Facebook geklickt. Der US-Amerikaner Max Stossel läuft durch eine Großstadt, um ihn herum schauen alle auf ihr Handy. Stossel kritisiert die großen Tech-Firmen, weil sie Menschen dazu verleiten, immer mehr ihrer Zeit auf sozialen Netzwerken zu verbringen.
"So viele Stunden am Tag wie möglich"
"Besonders Social-Media-Unternehmen sind vor allem ihren Aktionären verpflichtet. Letztlich meinen sie es gut, aber die Realität ist, dass die Maximierung der Zeit auf der Plattform an oberster Stelle steht. Also können diese Firmen Menschen gar nicht als Wesen mit Hoffnungen und realen zwischenmenschlichen Beziehungen betrachten. Das System versucht, so viele Stunden am Tag wie möglich von dir zu bekommen. Als Folge leben wir in einer Welt, in der ständig um unsere Aufmerksamkeit gebuhlt wird und Nachrichten auf die Spitze getrieben werden. Darunter leidet auch unsere geistige Verfassung."
Dass die Kritik von jemandem wie Max Stossel kommt, ist ungewöhnlich – oder folgerichtig: Denn Stossel hat die Algorithmen und Apps, die er jetzt brandmarkt, einst selbst genutzt und mitentwickelt.
Als der heute 29-jährige US-Amerikaner noch Marken wie Budweiser beriet, merkte er, dass zwei Dinge bei Konsumenten besonders gut ankommen: extreme Aussagen und das Wiederholen von Ansichten, an die sie bereits glaubten. Das klappt auch in sozialen Netzwerken besonders gut, weil die Algorithmen solche Inhalte priorisieren, um Nutzer auf den Plattformen zu halten.
Heute engagiert sich Stossel für das 2013 im Silicon Valley gegründete "Zentrum für humane Technologie". Die Initiative hat die sogenannte "Time Well Spent"-Bewegung mit angeschoben - also eine Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass Menschen ihre Zeit sinnvoll verbringen. Sie fordert von den Tech-Giganten, verantwortungsvoller mit unserer Aufmerksamkeit umzugehen.
Süchtig nach Überraschungen
Doch wieso fällt es uns eigentlich so schwer, Benachrichtigungen auf unserem Smartphone zu ignorieren? Weil das Gehirn eine Sache besonders gern mag: Überraschungen. Je öfter wir dem Drang nach Schlagzeilen nachgeben, desto schneller erfährt das menschliche Gehirn eine Art Dopamin-Kick.
Ist das Gehirn erst einmal süchtig nach dem Glücksgefühl des Überraschungsmomentes, muss die Pointe immer schneller kommen. Ergo verlieren wir die Fähigkeit zu reflektierten Überlegungen und Unterhaltungen, zumindest ein Stück weit.
Komplexe Literatur hilft
Die gute Nachricht ist, dass man sich den Drang nach der unverzüglichen Befriedigung auch wieder abtrainieren kann, sagt Kognitionsforscherin Elisabeth Wehling. Zum Beispiel indem man wieder mehr komplexe Literatur und andere längere Formate liest.
Auch der sogenannte entschleunigte Journalismus möchte die Bedürfnisse der Leser zurück ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Bei der dänischen digitalen Zeitung "Zetland" heißt das: "Wir setzen auf Wissen, nicht auf Geschwindigkeit."
"Einen Newsfeed kann man niemals abschließen. Aber bei Zetland geht das, und das fühlt sich gut an, weil man denkt: ‘OK, das wars für heute, jetzt gehe ich an die Sonne und treffe mich mit Freunden'", sagt Lea Korsgaard, Chefredakteurin von "Zetland". Das "Finishable Feature", also die realistische Möglichkeit alle Inhalte an einem Tag zu bewältigen, ist ein Markenzeichen des 2016 gegründeten dänischen Mediums.
Für umgerechnet etwa 17 Euro im Monat bekommen Abonnenten deshalb jeden Werktag nur durchschnittlich zwei Artikel plus einen Newsletter und einen Podcast über die wichtigste Meldung des Tages. Um Ablenkung zu minimieren, verzichtet "Zetland" außerdem auf Hyperlinks und Werbung. Das Medienstartup ist zwar noch nicht profitabel, hat laut Korsgaard aber schon mehr als 10.000 Abonnenten.
Sich dem permanenten Sog entziehen
Auch wenn sich immer mehr Medien dem nutzerzentrierten Trend anschließen: Ohne ein Umdenken von Facebook, Google und Co wird es kaum möglich sein, sich der Preisgabe von persönlichen Daten sowie Angriffen auf die Aufmerksamkeit zu entziehen. Schließlich sind Medien nach wie vor darauf angewiesen, dass die Plattformen Nutzer zu ihren digitalen Angeboten lenken.
Außerdem müssten Nachrichtenkonsumenten dafür ihre Social Media-Nutzung stark herunterfahren und sich auf ausgewählte Publikationen beschränken. Genau das empfiehlt aber Aktivist Max Stossel, um sich dem permanenten Sog des Digitalen zu entziehen:
"Ich kann jedem nur empfehlen, sich hin und wieder eine Auszeit von sämtlichen Nachrichten für einen Zeitraum von einer Woche bis zu einem Monat zu nehmen. Danach sollte man überlegen, wie viele Nachrichten man überhaupt braucht, um sich hinreichend informiert zu fühlen. Schließlich ist vieles von dem, was uns als 'Nachrichten' verkauft wird, in einer Woche oder einem Monat bereits völlig irrelevant. Eine Pause ist eine Gelegenheit, sich selbst und sein Informationsbedürfnis besser kennenzulernen."