"Nur mein engstes, engstes Umfeld wusste das bei mir. Ich habe ja auch Fußball gespielt und war wirklich mit vielen Leuten unterwegs. Die wussten das auch nicht. Der Trainer halt. Auch heute wissen das viele nicht von mir. Die das mitkriegen, die wundern sich: Das kann doch gar nicht sein."
Es ist aber so. Der schmale Mann Mitte Zwanzig, dessen Name hier nichts zur Sache tut, hat in der Schule nicht Lesen und Schreiben gelernt. Ein Grund: Gravierende seelische Probleme im Jugendalter führten zu einer mehrjährigen Unterbrechung des Schulunterrichts und zur Unterbringung in einer betreuten Wohngruppe. Neben dem jungen Mann sitzt eine Frau, die vom Alter her seine Mutter sein könnte. Auch der Name der 54 Jahre alten Frau, die gemeinsam mit dem ehemaligen Jugendfußballer einmal wöchentlich einen Alphabetisierungskurs in Darmstadt besucht, bleibt auf Wunsch ungenannt.
Stigma Sonderschule
Auch bei ihr liegen die Ursachen für die Probleme mit Lesen und Schreiben in der frühen Jugend. Es begann mit der Sonderschule, in die sie abgeschoben wurde, erzählt die temperamentvolle Frau:
"Wenn heute jemand in der Hauptschule das hat, kriegt man Betreuung in Deutsch und Mathe. So. Das war nicht. Das war nicht. `Du bist dumm´. Ich war schon immer wissbegierig. Ich habe immer hinterfragt: Wieso, weshalb, warum. Keine Chance! Ich habe keine Lehre gemacht. Mit Sonderschulabschluss haste einen Stempel. Ich bin immer `Hilfi´."
Die Leseanforderungen steigen
"Hilfi" heißt Hilfsarbeiter. Doch auch Arbeiterinnen und Arbeiten ohne Berufsabschluss brauchen auch bei eher körperlichen Arbeiten etwa in Entsorgungsbetrieben oder in der Logistik zunehmend Kompetenz im Umgang mit Schriftlichkeit. Der Grund: Immer mehr mobile Computer – Tablets und Smartphones – ziehen etwa rund um Müllwagen, in Lagerhallen oder auch auf Baustellen in den Arbeitsalltag ein. Deswegen führt das Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft seit einigen Jahren verstärkt Alphabetisierungskurse durch.
Die Ursachen für "funktionalen Analphabetismus" seien individuell sehr unterschiedlich, so Rolf Klatta, Regionalleiter der Bildungseinrichtung der hessischen Unternehmerverbände in Darmstadt. Doch er stellt auch fest…
"…dass wir aber auch Gruppen vorfinden in bestimmten Betrieben, in Dienstleistungsbetrieben, Entsorgungsbetrieben, bei denen sich das Problem häuft und wo jetzt eigentlich so ein Nachdenken kommt, dass die Person, das liegt zum Teil an der Technikentwicklung oder daran, dass die mehr mit Qualitätssystemen arbeiten müssen, dass die jetzt Lesen und Schreiben auch können müssen. Und zwar richtig. Sie müssen es einsetzen. So sind jetzt auch in der letzten Zeit immer mehr Betriebe selbst auf uns zu gekommen."
Alphabetisierungskurse schaffen neues Selbstvertrauen
Gudrun Freund und Eugen Breining arbeiten als Pädagogen im sogenannten "Grundbildungszentrum" der Hessischen Wirtschaft in Darmstadt mit kleinen Gruppen funktionaler Analphabeten, zu denen auch die beiden zählen, die wir schon vorgestellt haben. Die Erwachsenenbildner betonen, dass es ihnen nicht nur ums "Fit-Machen" für den Beruf und den späten Erfolg in der Arbeitswelt geht. Sondern auch darum, dass jemand durch den Kurs eine Fahrplan oder eine Einkaufsrechnung lesen lernt.
Breining: "Ich glaube, die Suche nach dem einen bestimmten Erfolgsmodell ist eine Frage. Die andere Frage ist, dass uns alltäglich in der Arbeit die vielen kleinen, aber so enorm wichtigen Erfolgsmodelle begegnen. Dieses Zutrauen, selbst in seiner eigenen Haltung etwas zu verändern. Das sind die – glaube ich auch – wichtigen Punkte, die man beschreiben kann, die man auch wahrnehmen kann. Dass Leute selbstständiger werden, Zutrauen zu ihrem eigenen Tun finden. Auch wenn das nur in ganz, ganz kleinen Schritten geht. Sie merken selbst, wie sie dann auch gegenüber anderen anders wirken."
Freund: "Oder sich wieder trauen, den Briefkasten wieder aufzumachen. Das habe ich auch schon gehört, dass jemand in eine Vermeidungshaltung gekommen ist und gesagt hat: Ich habe Angst, wenn ich den Briefträger sehe und ich mache tagelang meinen Briefkasten nicht auf. Und dann hat sie wirklich gesagt, ich habe den Briefkasten aufgemacht und kam mit der Post, Das war eine große Überwindung."
Zu wenig passende Lehrangebote
Die 54 Jahre alte Frau, die seit vier Jahren einmal wöchentlich in den Darmstädter Alphabetisierungskurs kommt, hat ebenfalls ihre Angst vor Briefen überwunden - speziell vor Behördenschreiben:
"In meinem Leben habe ich viel Selbstsicherheit bekommen durch den Lehrgang. Ich habe mittlerweile Textverständnis. Kann auch die bürokratischen Briefe besser lesen. Rechnen geht so, schreiben ist ein großer Schritt nach vorne gekommen."
Allerdings: Bisher gibt es in Deutschland nur für 10 Prozent aller sekundären Analphabeten ein passendes Angebot. Der ehemalige Jugendfußballer ist extra aus dem ländlichen Schwalm-Eder-Kreis bei Kassel nach Darmstadt gezogen, weil es hier bessere Lernmöglichkeiten gibt:
"Bin extra hier her gekommen. Ich wusste, ich habe hier bessere Chancen als bei uns. Man muss es halt früh angehen. Das merke ich selber. Es wird immer schwieriger."